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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Hinweise des Tages
Datum: 23. Oktober 2006 um 13:05 Uhr
Rubrik: Hinweise des Tages
Verantwortlich: Albrecht Müller
(AM/WL)
Anmerkung: Dazu passt eine so schöne Aussage von Hannah Arendt über die Deutschen – schon aus dem Jahre 1950 : “Die Deutschen gingen mit Fakten um , als ob es sich um bloße Meinungen handelte, und glaubten dieser nihilistische Relativismus sei das Wesen der Demokratie” Mit dieser Flucht aus der Wirklichkeit gelänge ihnen zugleich die Flucht aus der Verantwortung. – Hannah Arendt wurde gerade wegen ihres 100. überall gefeiert in den Zeitungen – nur hat leider niemand sich daran gemacht zu überprüfen, inwieweit diese Prophetie aus dem Jahre 1950 noch heute ein Kernübel der Deutschen ist: Meinungsstark – aber faktenarm.
Kommentar: Übliche Linie der taz gegen die Gewerkschaften auf der Linie neoliberaler Glaubenssätze wie der von vielen Untersuchungen widerlegten Behauptung, der Kündigungsschutz versperre den Arbeitslosen den Zugang. So lautet dann das Credo des Kommentators: „Wer soziale Mobilität fördern und Chancengleichheit erreichen will, muss Barrieren zwischen den Schichten der Gesellschaft abbauen und nicht betonieren.“ Kündigungsschutz als „Barriere“ gegen Chancengleichheit.
Kommentar: Das würde dem Vortragsreisenden der Finanzdienstleisters MLP so gefallen. Man proklamiert die Privatvorsorge als Akt der Eigenverantwortung und zwingt dann die Betroffenen gegen diese Privatvorsorge. Das erspart den privaten Versicherungskonzernen Vertriebskosten. Und schon macht sich das Engagement des Herrn Prof. Sinn für Vortragsreisen tausendfach bezahlt.
In einer Berliner Großfamilie leben fast alle von Hartz IV. Es ist wie ein Schicksal.
Dazu merkt einer unserer Leser an: Ich möchte sie auf ein Interview mit dem Soziologen Heinz Bude auf SpON aufmerksam machen. Offenbar arbeitet der Mainstream, unterstützt durch die entsprechenden journalistischen Multiplikatoren, nach der ersten Verblüffung über die Unterschichten-Debatte, inzwischen fleißig an der richtigen Deutung und der Absolution der politisch Verantwortlichen.
Dazu Herr Bude:
… Nehmen wir die “ausbildungsmüden Jugendlichen”: Mit denen kann man machen, was man will, die sehen einfach keine Perspektive. Da ist eben nicht Lehrstellenmangel das Problem, sondern das Fehlen jeder Vorstellung, eine mehrjährige Ausbildung könne zum beruflichen und wirtschaftlichen Erfolg führen. Der innere Zusammenhang von Anstrengung und Belohnung, Leistung und Erfolg wird überhaupt nicht gesehen. …
Die Erfahrung der Menschen geht allerdings gerade in die Richtung, dass auch entsprechende berufliche Leistungen keinerlei Erfolge nach sich ziehen. Allianz, Deutsche Bank und die BenQ-Pleite sind berede Beispiele dafür. Obwohl die Menschen bei Deutscher Bank oder Allianz mit ihrer Arbeitsleitung zu den außerordentlichen Gewinnen dieser Firmen das Wesentliche beigetragen haben werden sie entlassen. Im Fall BenQ lag es nicht am mangelnden Engagement der Mitarbeiter sonder an einem unfähigen Management, dass sich für seine armseligen Leistungen auch noch fürstlich belohnen lässt.
Das übliche Sozialstaat-Bashing darf natürlich auch nicht fehlen:
…. An diesem Punkt können die üblichen Transferleistungen plus ein bisschen Schwarzarbeit und Ähnliches dazu führen, dass ein vergleichsweise bequemes Durchwuseln als die bessere Variante erscheint. …
So liegt die Problematik also nicht in ökonomischen, politischen oder materiellen Ursachen begründet, sondern an der falschen Einstellung der Betroffenen. Die Lösung, die Herr Bude dafür bereithält gemahnt allerdings an Vorstellungen aus dem 19. Jahrhundert. Die Menschen sollten sich eben damit abfinden, dass es eine natürliche gesellschaftliche Ordnung von oben und unten gibt: „Das Wichtigste wäre die Entwicklung einer konkreten Vorstellung vom “einfachen Arbeiten” und “einfachen Leben”. Und zwar in Würde und Selbstbewusstsein. Ein realistisches Bild der Möglichkeiten. … Natürlich müssen wir damit unseren beschönigenden postmateriellen Egalitarismus à la “neue Mitte” aufgeben.“ Meint Herr Bude das wirklich ernst? Wollen wir uns in der gesellschaftlichen Diskussion hinter die Statuten der Französischen Revolution und der Aufklärung zurück bewegen? Die Marschrichtung ist klar, die Menschen haben sich im entfesseltem Kapitalismus mit einer wachsenden sozialen Polarisierung als quasi natürliche Entwicklung abzufinden. Sehr originell ist Herr Bude dabei nicht, fast denselben Denkansatz findet man bereits bei Paul Nolte, dem Lieblinshistoriker des Maistreams, der die soziale Polarisierung nicht materiell begründet sieht sondern in einem Mangel an Kultur.
Wie es wirklich um die gesellschaftliche Entwicklung bestellt ist verdeutlicht ein sehr guter Beitrag von Wilhelm Heitmeyer und Sandra Hüpping (Auf dem Weg in eine inhumane Gesellschaft) in der SZ von diesem Wochenende (leider nur im Abonnement zugänglich)
Quelle: Süddeutsche
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Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=1808