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Titel: Diakonie statt Politik – Die EKD-Denschrift zur Armut passt sich an das vorherrschende ökonomische Dogma an
Datum: 19. Oktober 2006 um 14:12 Uhr
Rubrik: Kirchen/Religionen, Soziale Gerechtigkeit, Ungleichheit, Armut, Reichtum, Veröffentlichungen der Herausgeber, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Von Wolfgang Lieb, Beitrag zur Armutsdebatte in der Zeitschrift „zeitzeichen“, Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft 10/2006.
Diakonie statt Politik
Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland schließt seinen Frieden mit dem wirtschaftspolitischen Kurs der Bundesregierung, kritisiert der Kölner Publizist Wolfgang Lieb. Der langjährige Sprecher der nordrheinwestfälischen Landesregierung unter Johannes Rau und heutige Mitherausgeber der sozialkritischen Netzzeitung www.nachdenkseiten.de vermisst ein politisches Konzept zur Bekämpfung der Ursachen von Armut und Ausgrenzung.
Es ist ein wichtiger Anstoß für den gesellschaftspolitischen Diskurs, dass die Denkschrift des Rates der EKD in Deutschland den Armutsbegriff über die schiere materielle Armut hinaus um den Mangel an „gerechter Teilhabe“, um die „umfassende Beteiligung Aller an Bildung und Ausbildung sowie an den wirtschaftlichen, sozialen und solidarischen Prozessen der Gesellschaft“ ergänzt und erweitert.
Gerade in einer Zeit, in der der Freiheitsbegriff der solidarischen Bürgergesellschaft mittels der Betonung von „Selbstverantwortlichkeit“ in eine eigennützige „Freiheit“ in einer „wertblinden“ Marktgesellschaft umzudeuten versucht wird, ist es auch gut, wenn eine starke gesellschaftliche Kraft wie die Evangelische Kirche die Bedeutung der „Solidarität“ für eine nachhaltige und gerechte wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung betont. Grundsätzlich widerspricht die Denkschrift jenen, die soziale Gerechtigkeit auf eine formale „Chancengerechtigkeit“ abschmelzen wollen, wenn es dort heißt: „Ohne materielle Verteilungsgerechtigkeit läuft Chancengleichheit ins Leere…“
Und: Statt eines bloß formal gerechten Angebots an Chancen im Sinne einer „Befähigungsgerechtigkeit“, nach dem Prinzip „Jedem das Seine“, müssten über die „solidarisch gewährte materielle Unterstützung“ hinaus „von staatlicher Seite aktivierende und unterstützende Hilfen und insbesondere wirksame Bildungsmöglichkeiten bereitgehalten werden.“
Das hört sich gut und schön an, bis dem Leser im weiteren Verlauf der Argumentation allmählich aufstößt, dass er sich vom herrschenden Reformjargon eingefangen sieht. Da entspricht dann „die Idee des Forderns und Förderns… den hier vertretenen Grundsätzen“, es geht um „aktivierende Wege“, um die „Anleitung und Ermutigung zu Eigenverantwortung“. „Fördern und fordern“, „aktivierender“ Sozialstaat“, mehr „Eigenverantwortung“, waren das nicht die Schlüsselbegriffe der Agenda 2010? Es wirkt an vielen Stellen geradezu raffiniert, wie die Autoren versuchen, sich begrifflich an den herrschenden Reformjargon anzuschmiegen, um ihn in eine protestantische Sozialethik einzupassen.
Es ist der ständige Versuch der Versöhnung des Unvereinbaren. Denn die geschmeidigste Umdeutung der Reformersprache kann nicht verschleiern, dass sich die Denkschrift weitgehend an das vorherrschende „verbetriebswirtschaftlichte“ (Prantl) ökonomische Dogma angepasst hat:
„Ohne Gewinne und prosperierende Unternehmen werden keine Arbeitsplätze geschaffen“, übernimmt z.B. die Schrift den Obersatz des angebotstheoretischen Dogmas. Warum aber trotz explodierender Gewinne nicht investiert wird und keine zusätzlichen Arbeitsplätze entstehen, diese Frage wird nicht gestellt. Es fehlt eine kritische Auseinandersetzung mit der herrschenden ökonomischen Lehre. Deren „Lebenslügen“ (Rüttgers) werden unhinterfragt hingenommen. Dazu nur einige Beispiele:
Stichwort Wirtschaftspolitik: Die Denkschrift verlangt eine „enge Verzahnung von Sozial-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik“. Die Wirtschaftspolitik bleibt bei diesem „integrativen Ansatz“ aber außen vor und gilt offenbar als sakrosankt. Wenn überhaupt Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Denkschrift zusammengedacht wird, geht es fast immer um die Senkung der „Abgabenlast auf den Faktor Arbeit“.
Stichwort Lohnnebenkosten: Wird einleitend noch davon gesprochen, dass Arbeit „ ein Teil des von Gott gegebenen Auftrags an den Menschen“ ist, heißt es später im üblichen Jargon, dass „eine weitere Verteuerung des ´Faktors Arbeit´ kontraproduktiv“ wäre. Kein Wort darüber, dass Abgaben Teil des Lohnes sind und dass etwa die zusätzliche private Vorsorge eben nicht mehr paritätisch finanziert wird, sondern eine Umverteilung zugunsten des ´Faktors Kapital´ darstellt. Soll hier der Mythos von den zu hohen Lohnnebenkosten seine theologischen Weihen finden?
Die Doppelnatur des Lohns als Kosten- und als Nachfragefaktor kommt gar nicht erst in den Blick, dafür aber die Bemessung des Lohnes an seiner Grenzproduktivität („marktorientierte Teilhabe am Erwerbsprozess“). Da wird die Tarifpolitik für eine angeblich „überproportionale“ Anhebung der Löhne für einfache Tätigkeiten verantwortlich gemacht, statt ein Auge darauf zu werfen, dass durch mehr Arbeitsplätze für qualifizierte Beschäftigte gerade auch die Verdrängung gering Qualifizierter vom Arbeitsmarkt aufgehalten werden könnte.
Stichwort Altersvorsorge: Es gebe die „Notwendigkeit verstärkter privater Vorsorge“, es wird für eine „stärkere Mischung von Umlage- und Kapitaldeckung“ plädiert. Warum eigentlich? Müssen – egal ob umlagefinanziert oder kapitalgedeckt – nicht schon immer die Jungen für die Alten aufkommen? Wo in aller Welt hat sich „erwiesen“, dass die Kapitaldeckung „offenbar eine stabilere Abgabenentwicklung“ ermöglicht? Wo bleibt ein klares Wort des Rates der EKD gegen die immer wieder gegen die Armen und Bedürftigen geführte „Missbrauchsdebatte“, gegen ihre Verunglimpfung als „Schmarotzer“ und „Parasiten“?
Stichwort Staatsverschuldung: Eine Verringerung wird als „unverzichtbar“ verkündet, weil deren „Ausmaß schon heute die kommenden Generationen in einer unzumutbaren Weise belastet“.
Keine Frage danach, warum die jahrzehntelang praktizierte Sparpolitik zu keinen Sparerfolgen geführt hat, sondern im Gegenteil, mangels aktiver Konjunkturpolitik, die Rate der Nettoneuverschuldung sich ständig erhöht hat.
Es wird kein Zusammenhang zwischen einer steigenden öffentlichen Verschuldung und dem noch rascher steigenden Privatvermögen gesehen. Deshalb wohl auch kein Wort über die Vermögens- oder Erbschaftssteuer.
Kein Gedanke daran, dass den öffentlichen Schulden auf der Habenseite auch immer Gläubiger gegenüber stehen und zwar schon heute und nicht erst bei den „kommenden Generationen“. Stichwort Sozialstaat: Während zu Beginn von der „teilhabefreundlichen ´Erneuerung´ des Sozialstaates“ gesprochen wird, heißt es weiter hinten im marktradikalen Jargon „es braucht einen ´entschiedenen Umbau´“. Stichwort Binnennachfrage: Es brauche „Impulse, um die wirtschaftliche ´Wettbewerbsfähigkeit´ und die Beschäftigungsspielräume zu erweitern.“ Implizit heißt das doch: die „Wettbewerbsfähigkeit“ und nicht etwa die stagnierende Binnennachfrage sei Kern unseres Problems.
Hat nicht gerade diese Art der „Reformpolitik“, an die sich der Protestantismus jetzt anzupassen scheint, zur Zunahme des Armutsrisikos und der Armut geführt? Haben die in der Denkschrift für richtig gehaltenen Hartz-Gesetze nicht für Millionen von Menschen so erhebliche Verschlechterungen gebracht, dass ihnen die materielle Basis für „Teilhabe“ weitgehend entzogen wurde? Hat nicht die weitgehend auf die Entlastung der Kapital- und Vermögenseinkommen ausgerichtete Lohn- und Steuerpolitik zu einem guten Teil dazu beigetragen, dass es zu einer „Spreizung zwischen Armut und Reichtum“ gekommen ist, so dass – wie in der Denkschrift beklagt – die „Gesellschaft nicht mehr als gerecht erlebt wird“?
Welche Erfolge haben denn die bisherigen „strukturellen Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik“ gezeitigt? Wie will man ohne eine aktive Konjunkturpolitik die Anknüpfungspunkte für eine „aktivierende“ Arbeitsmarktpolitik schaffen? Wie soll ein Staat, der die Steuern für die Vermögenden und auf Kapitalerträge sei es gar nicht erst eintreibt oder am laufenden Band senkt die materiellen Voraussetzungen für eine „teilhabegerechte“ und „armutsverringernde“ Bildungsförderung schaffen? Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland bietet mit seiner Denkschrift zur Armut in Deutschland viele gut gemeinte moralische und theologisch begründete Appelle. Die Denkschrift liest sich über weite Passagen, wie eine Kombination aus Armutsbericht und Bildungsenquete. Es wird viel referiert und sorgfältig abgewogen, aber es wird wenig gesagt. Weniger Diplomatie gegenüber der „Obrigkeit“ und dafür mehr Klarheit, Eindeutigkeit und Entschiedenheit in den Aussagen, weniger flammende Worte über den Skandal der Armut aber dafür mehr Eindeutigkeit in der barmherzigen Parteinahme für die Armen oder kurz, mehr Karl Barth und öfters einmal ein protestantisches „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ hätte der Denkschrift gut angestanden.
Kein Wunder, dass sie bisher weder innerhalb der Kirche noch außerhalb Anstoß erregt hat und von den Arbeitgeberverbänden bis zu den Parteien als „ausgewogen“ abgehakt wird.
Die Evangelische Kirche will – richtigerweise – keine Politik „machen“, aber sie will sich in das „politische Geschäft einmischen“ – wie der Ratsvorsitzende Wolfgang Huber betonte. Doch es ist ein Einmischen durch Anpassung an eine Politik, die an den Symptomen der Armut in Deutschland herumdoktert, anstatt ihre Ursachen zu bekämpfen.
Die Denkschrift stellt karitativ-diakonische Wohltätigkeit neben einen vorherrschenden politischen Kurs, der Armut in Kauf nimmt und Ungleichheit schafft. Der Rat der EKD stößt aber keinen politischen Diskurs an, der an den Wurzeln der zunehmenden Verarmung und Spaltung der Gesellschaft ansetzt.
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