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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Offener Brief an das DIW
Datum: 30. März 2005 um 16:45 Uhr
Rubrik: Aufbau Gegenöffentlichkeit, Gewerkschaften, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Albrecht Müller
DGB, Dieter Scholz, Bezirksvorsitzender Bezirk Berlin-Brandenburg
Wachstumsschwäche kein Kosten- sondern ein Nachfrageproblem
Sehr geehrter Herr Professor Dr. Zimmermann,
in der vergangenen Woche hat das DIW gemeinsam mit dem IW und dem HWWA ein Drei-Punkte-Programm vorgestellt, das die Wachstumsbedingungen der deutschen Volkswirtschaft verbessern soll. Die Vorschläge der Institute sind, mit Verlaub, ein Griff in die angebotspolitische Mottenkiste. Die Ursachen von Wachstumsschwäche und Arbeitslosigkeit werden weiterhin in einer angeblich zu hohen Regulierungsdichte von Arbeits- und Produktmärkten sowie zu hohen Arbeitskosten gesehen. Das nun auch das DIW in den Kanon einer radikalisierten Angebotspolitik einstimmt, bringt eine bedauernswerte Entwicklung zum Ausdruck: Die wirtschaftswissenschaftliche Institutslandschaft in Deutschland droht zu einer wirtschaftsliberalen Monokultur zu werden. Ihre Rezepte werden den Krankheitszustand des Patienten noch weiter verschlechtern.
Die Analyse der Institute weist meiner Ansicht nach grundlegende Schwächen auf.
Die Kosten stellen für große Teile der deutschen Wirtschaft kein Problem dar. Die angebotsseitigen Investitionsbedingungen sind gegenwärtig als optimal zu bezeichnen. Die unternehmerische Gewinn- und Finanzierungssituation sowie die preisliche Wettbewerbsfähigkeit sind herausragend. Die Gewinne der Dax-30-Unternehmen stiegen im vergangenen Jahr um mehr als 60 %. Die Bundesrepublik eilt von einem Rekordhandelsüberschuss zum anderen. Nur in Japan sind die Löhne in den letzten zehn Jahren noch geringer gestiegen als in Deutschland. Die Unternehmen investieren nicht aufgrund zu hoher Kosten oder zu umfangreicher Regulierung, sondern wegen der schlechten Absatzaussichten. Seit vier Jahren stagniert nun schon der private Verbrauch, weil die Kaufkraft der Arbeitnehmer zu gering ist.
Die jüngsten Arbeitsmarktreformen werden weder das Wirtschaftswachstum noch die Beschäftigung ankurbeln. Auch die geforderte Reform der Unternehmenssteuer wird die Investitionstätigkeit nicht ankurbeln. In diesem Zusammenhang ist es wichtig herauszustellen, dass es keinen systematischen Zusammenhang zwischen Steuerund Abgabensystemen und der Wachstums- und Beschäftigungsentwicklung einer Volkswirtschaft gibt. Der Zusammenhang „niedrigere Steuern gleich mehr Investitionen“ lässt sich insbesondere für Deutschland widerlegen. Im Zeitraum von 1990 bis 2003 sank die Steuerbelastung der Unternehmen und Vermögensbesitzer um 6 Prozentpunkte auf aktuell 16 %. Mehr Investitionen wurden dadurch nicht in Gang gesetzt. Die Bruttoanlageinvestitionen stagnierten.
Die entscheidenden Stellschrauben für Wachstum und Beschäftigung befinden sich vielmehr im Bereich der Geld-, Finanz- und Lohnpolitik. Ohne eine Renaissance makroökonomischer Politik werden wir weiterhin auf der Stelle treten.
Die Wachstumsschwäche ist wirtschaftspolitisch mit verursacht. Im Euroraum tritt die Europäische Zentralbank und in Deutschland die nationale Finanzpolitik auf die Wachstumsbremse. Das Argument, dass Letzterer aufgrund von Schuldenturm, Zinslast und Stabilitätspakt die Hände gebunden sind, ist nicht zugkräftig. Der Pakt wird gerade reformiert und die nationale Sparpolitik hat die Staatsverschuldung erst erhöht. Der historische Rückgang der öffentlichen Investitionen auf 1,4 % des Bruttoinlandproduktes dokumentiert die Dramatik der Situation. Von der Finanzpolitik gehen keine Wachstumsimpulse mehr aus. Eine deutliche Aufstockung der öffentlichen Investitionen in Bildung, F&E und ökologische Modernisierung ist dringend geboten.
Die Europäische Zentralbank hat im Abschwung 2000/2001 zu zögerlich die Zinsen gesenkt und damit die Länge der Wirtschaftskrise mit verantwortet. Da hilft es dann auch nicht mehr, wenn heute darauf verwiesen wird, dass die Zinsen doch niedrig sind. Aktuell nimmt die EZB die Euroaufwertung passiv hin ohne zinspolitisch oder auf den Devisenmärkten zu intervenieren. Da es im Euroraum aktuell keine Inflationsgefahr gibt – in Deutschland drohen eher deflationäre Gefahren – spricht eigentlich nichts gegen eine weitere Leitzinssenkung.
Die deutsche Lohnentwicklung ist eine weitere wesentliche Ursache für die schwache Binnennachfrage. Der verteilungsneutrale Spielraum (Produktivitätsanstieg plus Inflation) konnte in den letzten zehn Jahren nur noch zweimal (1995 und 1999) ausgeschöpft werden. Die Gewerkschaften haben vor dem Hintergrund der Zunahme geringfügiger Beschäftigung, rückläufiger Tarifbindung, der verstärkten Inanspruchnahme tariflicher Öffnungsklauseln, dem Abbau übertariflicher Leistungen immer geringeren Einfluss auf die Lohnentwicklung. Tariflohn- und Effektivlohnentwicklung driften zunehmend auseinander. Die realen Nettolöhne und –gehälter sind im Durchschnitt der letzten 10 Jahre rückläufig.
Obwohl sich die wirtschaftswissenschaftliche Zunft über die schwache Binnennachfrage offenkundig bewusst zu sein scheint, bleiben die politischen Empfehlungen erstaunlich erkenntnisresistent einseitig auf die Stärkung der Angebotsbedingungen ausgerichtet.
Das DIW war hier in der Vergangenheit oftmals eine schon im Sinne der demokratisch notwendigen Meinungsvielfalt wohltuende Ausnahme. Um so bedauerlicher wäre es nach meiner Ansicht, wenn dieser Kurs der Eigenständigkeit nun sukzessive zugunsten einer Anpassung an den ökonomischen Mainstream aufgegeben würde.
Im Sinne eines konstruktiven Dialoges würde ich mich über eine Antwort freuen.
Mit freundlichen Grüßen
Dieter Scholz
Vorsitzender des DGB, Bezirk Berlin-Brandenburg
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