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Titel: Freihandelsstudie – Scharlatanerie im pseudowissenschaftlichen Gewand

Datum: 18. Juni 2013 um 13:25 Uhr
Rubrik: Globalisierung, Lobbyorganisationen und interessengebundene Wissenschaft, Manipulation des Monats, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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„Deutschland winken 180.000 neue Jobs“ – so frohlockte am gestrigen Tag eine Überschrift bei SPIEGEL Online, als das reichweitenstärkste deutsche Onlinemedium – wie gewohnt vollkommen unkritisch – Zahlen und Satzfragmente aus einer Studie der Bertelsmann-Stiftung zum geplanten Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU nachplapperte. Schaut man sich besagte „Studie“ jedoch einmal genauer an, weiß man nicht, ob man über dieses merkwürdige Elaborat nun lachen oder weinen soll. Was im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung da von Hans-Werner Sinns ifo-Institut zusammengeschrieben wurde, hat mit der „sehr guten bis exzellenten Leistungen in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung“, die dem ifo-Institut von der Leibniz-Gesellschaft attestiert werden, nichts zu tun. Es handelt sich vielmehr um einen fortgeschrittenen Fall von Scharlatanerie, dessen Aussagekraft gegen Null geht. Von Jens Berger.

Freihandel schafft Wachstum und Wohlstand – so lautet seit Jahrhunderten das Mantra der markliberalen Wirtschaftswissenschaften. Um den Freihandel zu fördern, sollen daher nicht nur die Zollschranken, sondern auch sämtliche so genannte „Handelshemmnisse“ abgebaut werden. In grauen Vorzeiten, als alleine Deutschland noch von 1.800 Zollgrenzen zerteilt wurde und jeder Flecken seine eigenen Maß- und Gewichtseinheiten hatte, hatten diese Forderungen durchaus ihren Sinn. Im 21. Jahrhundert gibt es jedoch vor allem im transatlantischen Handel, um den es hier geht, kaum Handelshemmnisse. Die Zölle betragen im Schnitt weniger als 3% und die meisten Branchen haben auch einheitliche Reglementarien. Ausnahmen bestätigen hier freilich die Regel. Würden beispielsweise die USA demnächst die vergleichsweise laschen EU-Zulassungskriterien für Medikamente adaptieren, wäre dies für die europäische Pharmaindustrie so, als ob Geburtstag und Weihnachten auf einen Tag fallen. Umgekehrt würden die amerikanischen Agrarkonzerne jubeln, wenn die EU ihre Richtlinien für „Genmais“, „Hormonrindfleisch“ und „Chlorhühner“ abschaffen würde. Ein solcher Freihandel würde zweifelsohne einzelnen Konzernen zu noch mehr Wachstum und Wohlstand verhelfen, die Verbraucher dies- und jenseits des Atlantiks würden dies jedoch ein wenig anders sehen. Dabei versteht es sich von selbst, dass ein Freihandel, bei dem die Konzerne sich hüben wie drüben an den jeweils strengeren Richtlinien zu orientieren hätten, noch nicht einmal diskutiert wird. Ein solcher Freihandel würde schließlich Wachstum und Wohlstand vernichten und das wollen wir ja alle nicht. Oder?

Die Zielvorgabe der ifo-Studie war somit klar – gebraucht wird ein Ergebnis, mit dem man ordentlich für ein Freihandelsabkommen trommeln kann. Und das ifo-Institut lieferte dieses Ergebnis. Man entwarf dafür zwei Szenarien: Einmal „Freihandelsabkommen light“, bei dem nur die Zölle wegfallen und einmal „Freihandelsabkommen ultra“, bei dem sämtliche nicht näher genannten politisch abschaffbaren „nicht-tarifären Handelsbarrieren“ wegfallen. Es versteht sich von selbst, dass dabei das „Light-Szenario“ nur leichte Vorteile für alle Beteiligten ergibt, während das „Ultra-Szenario“ dies- und jenseits des Atlantiks ein wahres Wirtschaftswunder auslösen soll. Um dieses „Ultra-Szenario“ soll es hier gehen.

Neben den 180.000 Arbeitsplätzen, die in Deutschland laut ifo entstehen sollen, sollen auch noch der Reallohn (in Deutschland plus 2,19 Prozent) und das Bruttoinlandsprodukt (plus 4,7 Prozent) steigen. Weltweit sollen gar zwei Millionen Arbeitsplätze durch das Freihandelsabkommen geschaffen werden. Hallelujah! Warum dies so sein soll, verraten uns die ifo-Forscher freilich nicht. Stattdessen lassen die Autoren lieber ihre Fußnoten mit Verweis auf ihre früheren Studien nebulöses unken und raunen. Das ist verständlich, denn wenn man sich einmal die „Modellierung“ näher anschaut, mit der diese Ergebnisse „errechnet“ wurden, kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Da die Autoren sich weigern, konkrete „Handelshemmnisse“ im transatlantischen Handel zu benennen, unterstellen sie ganz einfach, dass der Handel zwischen der USA und der EU pauschal um 80% zulegen würde, wenn es denn nur das gewünschte Freihandelsabkommen gäbe. Warum dies so sein soll, erfährt der interessierte Leser nicht. Dafür erfährt er jedoch, warum die ifo-Forscher sich ausgerechnet die Zahl 80 herausgepickt haben. Um diese Prozentzahl soll nämlich angeblich der Handel in „vergleichbaren“ Freihandelszonen zugenommen haben, nachdem man sich zu einer Freihandelszone zusammengeschlossen hat. Auf die spezifischen Handelsstrukturen von EU und NAFTA, die namentlich als Vorbilder genannt werden, gehen die ifo-Forscher dabei freilich ebenso wenig ein, wie auf den zeitlichen Rahmen ihrer „Vergleichswerte“. Warum sollte man auch die gute alte Logik bemühen, wenn es willkürlich eingesetzte Excel-Variablen auch tun?

Während bei der Betrachtung der Handelszunahme zwischen der USA und der EU natürlich – wenig überraschend – eine glatte „plus 80%“ steht, verteilt sich der unterstellte Handelszuwachs innerhalb der EU-Staaten unterschiedlich. Nach dem Willen der Excel-Tabellen des ifo-Instituts profitieren vor allem die EU-Staaten, in denen es momentan die größten „nicht-tarifären“ Handelsbarrieren gibt. Hier staunt der Laie und der Fachmann wundert sich: Sind diese Barrieren innerhalb der EU nicht gleich? Nein! Die Briten profitieren – so will es das ifo – nicht so sehr vom Abkommen wie die Esten, da die Briten – man höre und staune – schon jetzt viel mit den USA handeln und eine gemeinsame Sprache haben. Auch wenn der Handel zwischen Großbritannien und den USA nur vergleichsweise gering steigt, so errechnen die Excel-Tabellen des ifo dennoch, dass ausgerechnet Großbritannien bei der Betrachtung des Wirtschaftswachstums am stärksten von dem Abkommen profitiert – und zwar mit stolzen 9,7%. Ei der Daus! Warum dies so sein soll, erschließt sich in den kryptischen mit Fremdwörtern gespickten Erklärungen des ifo-Instituts freilich nicht.

Aber bleiben wir bei Deutschland. Auch für Deutschland „errechnen“ die ifo-Forscher ja ein ordentliches Wirtschaftswachstum. Und auch hier ist nicht klar, warum es überhaupt zu einem Wachstum kommen soll. Freihandelsfreunde alter Schule verweisen an dieser Stelle stets darauf, dass höhere Handelsvolumina automatisch zu Wirtschaftswachstum führen. Dass dies ein Fehlschluss ist, erkennt man bereits, wenn man sich einmal vor Augen hält, wie sich das Bruttoinlandsprodukt zusammensetzt. Bereits im ersten Semester lernt jeder Ökonomie-Student, dass sich das Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen nach der Formel BIP = C (Konsum) + I (Investitionen) + G (Staatsausgaben) + Ex (Exporte) – Im (Importe) berechnet. Der Freihandel lässt zwar die Summe der Exporte steigen, gleichzeitig steigt jedoch auch die Summe der Importe. Und da die ifo-Forscher bei der Betrachtung des deutsch-amerikanischen Handels zum Ergebnis kommen, dass die Exporte und die Importe im gleichen Maß steigen, bleibt zumindest bei dieser Betrachtung kein Raum fürs Wirtschaftswachstum. Wie die Excel-Artisten des ifo überhaupt auf die BIP-Daten kommen, erschließt sich ohnehin nicht. Offenbar hat man auch hier so lange irgendwelche willkürlich herausgepickten Vergleichsdaten (das ifo nennt so etwas „empirische Strategie“) in eine Excel-Tabelle gepackt, bis das Ergebnis den eigenen Vorstellungen entsprach.

Dabei scheinen die ifo-Forscher sogar zu wissen, dass durch Freihandelsabkommen eigentlich global kein Wachstum geschaffen wird, sondern lediglich Handelsströme umgelenkt werden. Daher hat man ja auch nicht nur das Handelsvolumen mit den USA, sondern auch das Handelsvolumen zwischen sämtlichen anderen Staaten in einem Rechenmodell simuliert. Es versteht sich von selbst, dass man dabei die Realität so gut es geht ignoriert und noch nicht einmal untersucht hat, welche Güter denn hier aus welchem Grund gehandelt werden. Dort wo eine qualitative Analyse nötig wäre, beschränkte man sich auf rein quantitative Rechentricks. Was dabei herauskommt, ist eine sinnlose – und wissenschaftlich wertlose – Excel-Spielerei. So soll beispielswiese Saudi-Arabien zu den großen Verlierern eines transatlantischen Freihandelsabkommens zählen. Warum dies so sein soll, erschließt sich jedoch nicht. Bekanntermaßen exportiert Saudi-Arabien nahezu ausschließlich Öl- und Ölprodukte. Werden diese nun in den USA und in der EU weniger nachgefragt, weil die Esten besser Englisch lernen, die Deutschen die Galone als Maßeinheit einführen und die Amerikaner ihre Medikamente nicht mehr so gründlich testen?

Wenn man sich dabei einmal die wenigen veröffentlichten Zahlen zusammenrechnet, kann man sich vielfach ein Schmunzeln nicht verkneifen. So soll Deutschland ja nach Modellvorgabe seinen US-Handel um 94% steigern. Dafür reduzieren sich jedoch die Handelsströme mit anderen Ländern. Überraschenderweise würde sich der deutsche Außenhandel auf Basis der ifo-Zahlen jedoch in toto nicht erhöhen, sondern sogar verringern – um ganze 84 Mrd. Euro[*]. Damit stellt das ifo sogar die alte Freihandelslogik auf den Kopf – „weniger Handel schafft mehr Arbeitsplätze und mehr Wachstum“. Ob die ifo-Forscher überhaupt ahnen, was ihre Excel-Akrobatik so alles aussagt?

Aufgrund der – sagen wir es einmal vorsichtig – methodischen Schwächen der ifo-Studie lässt sich freilich weder die eine noch die andere Aussage aus dem Rechenwerk herleiten. Um Aussagen über die Auswirkungen eines Freihandelsabkommens zwischen den USA und der EU zu treffen, müsste man zunächst einmal kausal die Faktoren heraussuchen, die ein solches Abkommen verändern würde. Selbstverständlich müsste man dann auch noch sämtliche Wechselwirkungen dieser Faktoren untersuchen. Ein Beispiel dazu: Sollten – aus welchen Gründen auch immer – deutsche Maschinenbauer durch das Freihandelsabkommen mehr Güter in die USA exportieren, würden selbstverständlich in der Summe nicht mehr Maschinen gekauft. Eine andere Volkswirtschaft würde in diesem Szenario weniger Maschinen verkaufen und produzieren. Dies hätte jedoch auch Auswirkungen auf diese Volkswirtschaft. Beispielsweise müssten Werke schließen und Mitarbeiter entlassen werden, was wiederum zu sogenannten „Zweit- und Drittrundeneffekten“ führen würde – die entlassenen Mitarbeiter geben weniger Geld aus, was sowohl Folgen für den Binnenmarkt als auch für den internationalen Handel hat. Es ist sträflich naiv anzunehmen, dass eine derartige Verschiebung des Welthandels keine Zweit- und Drittrundeneffekte hat.

Freilich kann man diese Effekte nur dann im Ansatz berechnen, wenn man die Handelsströme nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ analysiert. Das war den Forschern zu kompliziert, daher unterstellt man lieber, das alle Faktoren, die in den Excel-Tabellen keine Rolle spielen, unverändert bleiben. In der Volkswirtschaftslehre nennt man so etwas eine „Ceteris-Paribus-Analyse“ . Eine derart grobe Vereinfachung des Rechenmodells ist jedoch bei derart vielschichtigen Berechnungen, die unzählige Nebeneffekte auslösen, nicht zulässig – zumindest nicht dann, wenn man ein Ergebnis haben will, aus dem man auch nur halbwegs plausible Schlüsse ziehen kann. All dies ist bei der ifo-Studie jedoch nicht der Fall. Daher sind die Ergebnisse dieser Studie auch das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt sind.

Studie wie diese sind das Ergebnis einer Fehlentwicklung der Wirtschaftswissenschaften. Was dort stellenweise unter dem Label der „Ökonometrie“ verbrochen wird, hat mit Wissenschaft ungefähr so viel zu tun, wie eine Wettervorhersage aus den Innereien eines geschlachteten Chlorhuhns. Die Flucht in immer komplexer werdende mathematische Modelle ersetzt dabei die simple Logik und täuscht wissenschaftliche Erkenntnisse vor, die weder vorhanden noch wissenschaftlich sind. Mit dem „richtigen“ Institut an der Hand kann man sich auf Basis solcher Modelle stets das gewünschte Ergebnis errechnen lassen. Und so lange man sicher ist, dass SPIEGEL Online und Co. jede dieser Scharlatanerien als wissenschaftliche Erkenntnisse unters Volk bringen, hat sich der Einsatz schlussendlich gelohnt.


[«*] Und das nur auf Basis der genannten Daten, die neben den PIIGS- und den BRICS-Staaten noch die USA, Großbritannien, Frankreich, Japan und China umfassen.


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