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Titel: Doktor-Spiele

Datum: 3. Juni 2013 um 9:41 Uhr
Rubrik: Bundesagentur für Arbeit, Hartz-Gesetze/Bürgergeld, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech
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Die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg (BA) sowie die ihr unterstellten Jobcenter sind offensichtlich dabei, ihr Tätigkeitsfeld zu erweitern: auf das Gesundheitswesen. Schon im April dieses Jahres wurde eine Weisung der BA publik, nach der angebliche „Blaumacher“ unter den AlG2-Empfängern entlarvt werden sollen. Aktuell macht sich nun die Praxis breit, in offiziellen amtlichen Schreiben Krankheitsatteste von Ärzten schon vorbeugend für unzureichend zu erklären. Es scheint, als verfolge man im Umgang mit Sozialleistungsempfängern die „Taktik der kleinen Schritte“, welche mithilfe einer schleichenden Gewöhnung die schrittweise Entmündigung und Entrechtung der Betroffenen ohne größeres Aufsehen und somit ohne Widerstand in der Bevölkerung durchzusetzen sucht.
Von Lutz Hausstein[1]

Die Dienstanweisung der Bundesagentur für Arbeit, vor allem jedoch die darauffolgende Ausschlachtung in den Medien, zur Entlarvung vermeintlicher Blaumacher hat die öffentliche Wahrnehmung von Sozialleistungsempfängern ein weiteres Mal in die Richtung vermeintlich fauler und arbeitsunwilliger Leistungserschleicher gerückt. Am 8. April veröffentlichten verschiedene Medien die Information, wonach die zuständigen Jobcenter verstärkt Krankmeldungen von Sozialleistungsempfängern überprüfen sollen. Als Anhaltspunkte für eine möglicherweise vorgeschobene Erkrankung [PDF – 60.6 KB] werden explizit häufige und häufig kurze Krankmeldungen, häufige Krankmeldungen zu Beginn oder Ende der Woche, Krankschreibungen im Zusammenhang mit Meldeterminen, bei Angeboten oder Abbrüchen diverser Maßnahmen, bei Auseinandersetzungen mit dem persönlichen Ansprechpartner sowie weiteren spezifischen Umständen aufgeführt.

Diesem Verdacht soll anschließend nachgegangen werden, indem der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) eingeschaltet wird, um die jeweilige Erkrankung zu prüfen. Dabei sollen sowohl Beurteilungen des MDK nach reiner Aktenlage wie auch persönliche Inaugenscheinnahme durch die MDK-Gutachter angewandt werden. Schon allein diese Handhabung ist prinzipiell bedenklich. Daran ändert sich auch nichts, wenn man darum weiß, dass diese Vorgehensweise ebenso durch Arbeitgeber gegenüber ihren erkrankten Mitarbeitern mithilfe des MDK angewandt werden kann. Denn es ist reichlich fragwürdig, einer kurzen Begutachtung durch den MDK eine höhere fachliche Korrektheit zuweisen zu wollen als der, durch in der Regel langjährige medizinische Begleitung, fachlichen Einschätzung des jeweiligen Hausarztes. Dieser kennt die Umstände und Besonderheiten seines Patienten meist ausgezeichnet und kann dessen Krankheitsdiagnose auch im komplexen Gesundheitsverlauf über einen längeren Zeitraum individuell einordnen. Somit wirkt die kurze Begutachtung durch die Beauftragten der Krankenkassen auch als eine Entwertung der verantwortungsvollen und auch keineswegs immer einfachen Tätigkeit eines Arztes. Es ist nicht nachvollziehbar, wie eine einmalige Inaugenscheinnahme eines Patienten, erst recht gar eine Beurteilung nach reiner Aktenlage, die langjährige Patientenkenntnis des Mediziners nicht nur ersetzen, sondern mit einer genau gegenteiligen Bewertung unter Umständen gar überstimmen könnte.

Dieses Spannungsverhältnis wird umso denkwürdiger, wenn man berücksichtigt, in wessen Auftrag der MDK fungiert und wo folglich mit hoher Wahrscheinlichkeit eine gewisse Interessenlage zu verorten ist. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung ist eine, in der Regel auf Länderebene, fungierende Arbeitsgemeinschaft, welche für alle Krankenkassen Beratungs- und Begutachtungsleistungen erbringt. Dabei ist der MDK nicht für eine einzelne Krankenkasse tätig, sondern wird mittels eines Umlagesystems von allen, im betreffenden Bundesland aktiven, Krankenkassen finanziert und wird daraufhin gleichfalls von diesen mit Aufträgen betraut. Somit wird ersichtlich, dass der MDK in seinen konkreten Einzelentscheidungen zwar nicht vom Interesse einer ganz bestimmten Krankenkasse gelenkt wird. Dennoch ist zweifelsfrei klar, dass dem Grundinteresse aller Krankenkassen, einer größtmöglichen Kostenreduzierung, durch die Entscheidungen des MDK über Gebühr Rechnung getragen und damit im Gleichklang den Patientenrechten nur unzureichend Beachtung geschenkt werden könnte.

Taucht man nur ein wenig tiefer in diese Materie ein, begegnet man einer Vielzahl von Personen, die immer neue Beispiele für ein zumeist sehr restriktives Vorgehen des MDK vorbringen. Da der MDK für die Krankenkassen ein sehr breites Aufgabenfeld bearbeitet, betreffen die Fälle auch die unterschiedlichsten Lebensbereiche. Dies reicht von kompletten Gesundschreibungen durch den MDK (Erfahrungsbericht einer Burnout-Patientin via Stephanie Dann), auch entgegen dem ärztlichen Attest des behandelnden Hausarztes, welche erst nach Widerspruch durch den Patienten wieder zurückgenommen wurden, über Festlegungen zum Grad der Erwerbsfähigkeit (anhand der maximal zu leistenden Wochenarbeitsstunden, Verbot bestimmter Betätigungen, zu vermeidender Umwelteinflüsse), die in den Gutachten des MDK, im Gegensatz zu vorherigen ärztlichen Gutachten, plötzlich deutlich höher ausfielen, dringend benötigten Behandlungen (BR, Report München, 02.10.2012) und Operationen (WDR, Markt, 18.03.2013), deren Kostenübernahme durch die Krankenkassen der MDK verwarf, bis hin zu pflegenotwendigen Einstufungen. Selbst bei der Unterbringung sterbenskranker Patienten im Hospiz spielt der MDK mit seinen Entscheidungen immer wieder eine äußerst unrühmliche Rolle (ARD, Fakt, 18.07.2011 via YouTube).

Nun sollen also verstärkt auch Sozialleistungsempfänger den Begutachtungen genau dieses MDK unterzogen werden. Krankheitsbild-irrelevante Bauchgefühle von Sachbearbeitern der Jobcenter setzen den Mechanismus des MDK in Gang, dessen Entscheidungen immer wieder zu grundlegenden Diskussionen über dessen Objektivität führen. Und in deren Folge auch kranke Sozialleistungsempfänger als gesund deklariert würden. Woraufhin das betreffende Gutachten des MDK als Beweis einer Leistungserschleichung mittels vorgeschobener Krankheit verwendet würde, die wiederum zur Begründung einer Sanktionierung durch Kürzung des Bedarfsregelsatzes diente. Es bedarf keiner allzu großen Phantasie, um in diesem Konstrukt ein enormes Potential an sehr willkürlichen Aktivitäten zu sehen.

Dass all dies nicht nur theoretisch bedeutsame Bedenken sind, verdeutlicht der folgend dargelegte Fall. Ein 48-jähriger Essener Sozialleistungsempfänger ist zu 100 Prozent schwerbehindert und hatte darüber hinaus in der Vergangenheit schon 2 Herzinfarkte erlitten. Dies hinderte die Arbeitsvermittlerin des für ihn zuständigen Jobcenters jedoch nicht, ihm eine Arbeit „anzubieten“. Selbstverständlich, wie immer in einem solchen Fall, mit dem Hinweis auf Sanktionen im Falle einer Ablehnung seinerseits. Medizinische Rückendeckung erhielt die Sachbearbeiterin durch den medizinischen Dienst des Jobcenters, welcher dem Betroffenen nur wenige Wochen zuvor die Arbeitsfähigkeit für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten bescheinigte. Unter dem Druck der Sanktionsdrohung trat der betroffene Sozialleistungsempfänger, trotz Abraten seines Hausarztes, die „angebotene“ Hausmeistertätigkeit an. Allerdings nur kurz. Denn bald darauf beendete ein dritter Herzinfarkt diese Arbeit. Was dieser zu bedeuten hat, wissen selbst Nichtmediziner. Denn in den allermeisten Fällen verläuft ein dritter Herzinfarkt tödlich. Selbstverständlich ist das nur ein bedauerlicher Einzelfall. Einer unter Tausenden von anderen bedauerlichen Einzelfällen.

Doch auch an anderen Stellen greift das Jobcenter-Personal erheblich in medizinische Belange ein. Dem Autor liegt die Kopie einer Einladung des Leipziger Jobcenters vor, in welcher schon vorbeugend die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung „nicht als wichtiger Grund für Ihr Nichterscheinen“ bezeichnet wird. Stattdessen wird eine Bescheinigung gefordert, welche die Unmöglichkeit der Terminwahrnehmung aus medizinischen Gründen belegt. Etwaige Kosten für diese Bescheinigung würden bis zu 5,36 Euro übernommen werden. Diese Vorgabe ist praktisch eine Entwertung des ärztlichen Attestes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (umgangssprachlich: Krankenschein).

Oberhalb der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung existiert jedoch kein allgemeingültiges vorgefertigtes Dokument, das diesen Tatbestand der Nichtwahrnehmbarkeit eines Termins bestätigen würde. Die gelegentlich in öffentlichen Diskussionen benannte „Bettlägerigkeitsbescheinigung“ ist ein Phantom. Allerdings gibt es die Möglichkeit, beim behandelnden Arzt behelfsweise ein ärztliches Gutachten anzufordern, das zum Zweck des medizinischen Nachweises für die Unmöglichkeit einer Terminwahrnehmung ausgestellt würde. Ein solches Gutachten zählt jedoch nicht zu den Leistungen, welche von den Krankenkassen übernommen werden, da es über das Maß einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Patientenversorgung hinausgeht. Es gilt als sogenannte „Individuelle Gesundheitsleistung“ (IGeL) und muss somit vom Patienten selbst bezahlt werden. Nun wurde zwar in der Einladung des Jobcenters eine Kostenübernahme in Höhe von bis zu 5,36 Euro zugesichert. Es ist jedoch keineswegs zwingend, dass damit die Kosten dieses Behelfskonstrukts „ärztliches Gutachten“ auch wirklich gedeckt sind. Denn die Individuellen Gesundheitsleistungen sind ärztliche Zusatzleistungen, deren Preise jeder Arzt individuell festlegen kann. Theoretisch könnte ein Arzt ein solches Gutachten kostenlos ausstellen, was allerdings höchstwahrscheinlich kaum der Fall sein dürfte. Er könnte ebenso dafür 3, 5 oder auch 10 Euro in Rechnung stellen.

Egal, wie man diesen Fall nun auch dreht und wendet. Es ist mehr als dubios, ein offizielles ärztliches Attest in Form einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu entwerten, indem es für unzureichend erklärt wird. Auch wenn diese Praxis offenbar nicht flächendeckend angewandt wird, so gibt es doch eine Vielzahl zu kritisierender Aspekte an diesem Vorgehen. Sowohl aus Sicht der Betroffenen wie auch seitens der Ärzteschaft. Nicht zuletzt bleibt jedoch vor allem festzuhalten, dass auch dies ein weiterer, wenn auch kleiner, Schritt der zunehmenden Entmündigung und Entrechtung von Sozialleistungsempfängern ist. Denn gerade diese kleinen Schritte sind es, die eine Gewöhnung der Öffentlichkeit, ja sogar der Betroffenen selbst, nach sich ziehen. Und genau hierin liegt der Grund, den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung umso intensiver auf diese Entwicklung zu lenken.


[«1] Lutz Hausstein (44), Wirtschaftswissenschaftler, ist als Arbeits- und Sozialforscher tätig. In seinen 2010 und 2011 erschienenen Untersuchungen „Was der Mensch braucht“ ermittelte er einen alternativen Regelsatzbetrag für die soziale Mindestsicherung. Er ist u.a. Ko-Autor des Buches „Wir sind empört“ der Georg-Elser-Initiative Bremen sowie Verfasser des Buches „Ein Plädoyer für Gerechtigkeit“.


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