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Titel: Bürokratische Dialoge als Mittel zur Lösung „makroökonomischer Ungleichgewichte“ in der EWU
Datum: 25. April 2013 um 9:12 Uhr
Rubrik: Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Im Zuge verschiedener Lösungsvorschläge für eine Überwindung der makroökonomischen Ungleichgewichte in der EWU, die stets eine Änderung der bisherigen Rahmenbedingungen dieser Marktgemeinschaft voraussetzen, hat jetzt Willi Koll (langjähriger Experte aus dem wirtschaftspolitischen Apparat der EU-Kommission sowie der OECD) für das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) einen umfangreich begründeten Vorschlag unter dem Titel „Neue Wirtschaftsregierung und Tarifautonomie in der Europäischen Union“ [PDF – 762 KB] unterbreitet. Von seiner Zielstellung her ist diese IMK-Studie darauf gerichtet, die fatalen Geburtsschwächen der EWU durch eine Zentralisierung und Koordinierung der Lohnfindung zu „heilen“, indem die Tarifpolitik den neu etablierten 27 MED-Gremien zugeordnet wird und so den nationalen Gewerkschaften entzogen wird. Dieser Vorschlag soll hier in einer Kurzanalyse u. a. in der sich bei diesem Lösungsvorschlag zugrunde liegenden Grundfrage, nämlich der Abstimmung der nationalen Tarifpolitiken untersucht und kommentiert werden. Von Karl Mai.
Koll bringt seine Erfahrungen mit dem bisherigen Instrument des „Makroökonomischen Dialogs“ (kurz: MED) ein. Er unterzieht diese Erfahrungen einer kritisch-selbstkritischen Sichtung und leitet daraus neue, erweiterte Vorstellungen zur künftigen Ausgestaltung ab. Hierbei stößt er an die Grenzen der institutionellen Konsensfähigkeit eines erweiterten „Makroökonomischen europäischen Dialogs“, was zu zeigen sein wird.
Zu den Ursachen der Ungleichgewichte
Der Geburtsfehler der EWU besteht nach Koll – in Übereinstimmung mit vielen bekannten Ökonomen – in der Ignorierung der makroökonomischen Wirkung zunehmend differenzierter Lohnstückkosten bei der Herausbildung von steigenden (positiven oder negativen) Leistungsbilanzdefiziten in den EWU-Staaten, die keinen automatischen Marktausgleich finden können.
Danach bildete die Dynamik der Lohnstückkosten-Differenzen innerhalb der EWU-Staaten einen autonomen Mechanismus der Herausbildung von „makroökonomischen Ungleichgewichten“ in Form der Leistungsbilanzungleichgewichte. Zurückliegende Anstrengungen, in Gestalt eines „makroökonomischen Dialogs“ (MED) auf EWU-Ebene, hiergegen anzusteuern, sind aus mehreren Gründen gescheitert.
So z. B. ursächlich, weil die Tarifautonomie in den einzelnen Ländern sich einer externen Einflussnahme entzog. Außerdem blieben die gegensteuernden Impulse asymmetrisch, weil sie nur an den negativen Leistungsbilanzabweichungen sowie an den Staatsverschuldungshöhen ausgerichtet waren. Gegenüber den Überschussländern in der Leistungsbilanz wurde dagegen bisher kein Handlungsbedarf abgeleitet. So blieben die zurückliegenden Einflussnahmen des zentralen „makroökonomischen Dialogs“ wirkungslos, wobei auch die betroffenen Regierungen mit Leistungsbilanzüberschüssen meist ausweichend bzw. kaum reagierten.
Ein neuer Lösungsvorschlag
Koll schlägt nun vor, den makroökonomischen Dialog bisheriger Art (bei der EU-Kommission) um einen ganzen Komplex weiterer Dialoge zu ergänzen – und zwar einmal auf national-staatlicher (MEDNAT) und zusätzlich auf EWU-Ebene (EUROMED). Hier sollen „Abstimmungen“ zur Tarifpolitik bei Bedarf in Kombination mit flankierenden Maßnahmen in der Finanzpolitik gegen die makroökonomischen Leistungsbilanzunterschiede getroffen werden, die dann – wohl im Konsens – zu verwirklichen wären. Die Widersprüche der bisherigen EWU-Konstruktion sollen also durch diese Vielheit von neuen nationalen Dialoggremien aufgelöst werden bzw. schrittweise gemildert werden, wobei das Ziel in der Minderung und Vermeidung von Leistungsbilanzungleichgewichten besteht.
Im Kern bedeutet dieser Vorschlag von Koll einen Verzicht auf die bisherige autonome Tarifbestimmung in der EWU, die bisher durch alleinige Impulse der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände getragen wird – was immer zu national-spezifischen Differenzen der Lohnstückkosten auf den jeweils nationalen Ebenen innerhalb der EWU geführt hatte. Gleichzeitig wird die Beseitigung der noch bestehenden national-staatlichen Regulierungsbefugnisse durch die nationalen MED-Gremien bei der Lohnpolitik auch in den Staatssektoren der Wirtschaft vollzogen.
Koll fordert daher: „Hierfür bedarf es aber insbesondere einer mehrfachen Verbesserung der Koordination erstens innerhalb und zwischen den Gewerkschaften auf nationaler Ebene, zweitens national übergreifend zwischen den Gewerkschaften der Mitgliedstaaten und drittens zwischen Sozialpartnern, Fiskal- und Geldpolitik im makroökonomischen Policy-Mix auf EU- und EWU-Ebene.“ (S. 64)
Es ist kaum vorstellbar, dass dies ohne bürokratisch-administrativen Druck von oben oder von außen gelingen kann, wobei eine ausgewogene Wirkung kurzfristig fraglich bleibt und laufende „Anpassungen“ vorprogrammiert sein dürften.
Es erscheint ziemlich „blauäugig“ zu glauben, dass die folgende Vision noch realistisch ist:
„Je besser aber die Koordinierung innerhalb der Gewerkschaften gelingt, desto stärker können sie den anderen Mitspielern als makroökonomisch agierender Partner auf gleicher Augenhöhe begegnen. In einem Gleichschritt von Geben und Nehmen aller Akteure können die Sozialpartner ihren Beitrag zu einer besseren Koordination leisten, um die Eurozone aus der derzeitigen Krise herauszuführen und die Voraussetzungen für eine nachhaltige, ausgeglichene stabilitäts-, wachstums- und beschäftigungsorientierte gesamtwirtschaftliche Entwicklung wiederherzustellen. Dieser Beitrag dürfte sich nicht zuletzt in einem Zugewinn an Akzeptanz und Wertschätzung kollektiver und zentraler Lohnfindung im Rahmen der
Tarifautonomie auszahlen.“
(Koll, S. 13)
Eine solche Lohnfindung dürfte wohl kaum die nationalen gewerkschaftlichen Interessenvertretungen der Arbeitnehmer im EWU-Gebiet begeistern, die sich plötzlich überall dem Druck der anderen „Sozialpartner“ mit unterschiedlichen Forderungen ausgeliefert sehen würden.
Kann dieser Vorschlag von Koll funktionieren?
Die Lohnstückkostenentwicklung ist bekanntlich vom nationalen Trend der durchschnittlichen Bruttolohnkosten je Arbeitsstunde und von der durchschnittlichen realen Produktivitätsentwicklung determiniert – ein ziemlich komplexer Koeffizient. Das Ziel, diese in diesem Koeffizienten kombinierten Faktoren einzeln und gezielt zu steuern und mit sehr unterschiedlichen und häufig wechselnde Vorgaben abzugleichen, wäre eine auf allen MED-Ebenen zu betreibende Sisyphus-Aufgabe.
Hier wäre es u.a. wichtig, die immanenten Schwächen der nationalen Statistiksysteme bei der Ermittlung zuverlässiger Daten zum Wirtschaftswachstum zur bereits vollzogenen, aber insbesondere zur zukünftigen Entwicklung in den EWU-Ländern, zu beachten. Besonders schwer lassen sich bekanntlich die zukünftigen realwirtschaftlichen Produktionsergebnisse und Innovationsfaktoren prognostizieren, soweit sie von Zuschüssen (Stützungs- und Fördermaßnahmen) zehren. Beispiele für fast chaotische Reaktionen der unabhängigen Unternehmensführungen infolge von spontanen marktwirtschaftlichen Unsicherheiten gibt es genug, deren Auswirkungen erst im Zeitablauf erkennbar werden.
Auch wollen die meisten industriellen Global-Player keine Rücksichtnahme auf bürokratische externe Festlegungen von MED-Gremien üben, die ihre eigene Geschäftspolitik einschränkend beeinflussen. Sie werden gegen die meisten Vorgaben vermutlich erbittert ankämpfen, falls sie von den Gremien der MED-Träger zu konkreten, vor allem aber einschneidenden Anforderungen veranlasst werden.
Und glaubt jemand ernsthaft, die Vertreter der Überschussländer zu einem konsensmäßigen Verzicht auf ihre Marktpositionen verleiten zu können?
Auf der Seite der Länder mit Leistungsbilanzdefiziten zeigt sich eine Achillesferse des Vorschlags von Koll. Die Vorstellung, über eine Senkung der nationalen Lohnstückkosten gezielt Wettbewerbsvorteile zu erreichen, ist für die Defizitländer schier unmöglich, weil die doppelte Spirale nach unten von gleichzeitig sinkender Kaufkraft und staatlichen „Sparprogrammen“ das nationale Wirtschaftswachstum drosseln muss. Hier muss jedenfalls jede optimistische Prognose reine Spekulation bleiben.
Für die Überschussländer bei den Leistungsbilanzen wiederum gilt, dass eine gezielte Anhebung der Lohnstückkosten auf den Widerstand vor allem jener Wirtschaftskreise stoßen muss, deren Exportstärke darunter leiden würde. Freiwillig dürfte auf diese Marktstärke von den exportorientierten Unternehmen nicht verzichtet werden, wobei natürlich auch das Argument vom „Erhalt der Arbeitsplätze“ der leistungstragenden Überschuss-Wirtschaftszweige eine wichtige politisch-psychologische Rolle spielen dürfte. Wie erfolgreich die Interessen z. B. der Waffen-Exportindustrie verteidigt werden, zeigt die stetige Steigerung der Waffenverkäufe der 3 Hauptländer dieses „Wirtschaftszweiges“ (USA, Deutschland, Russland) und deren starkem Einfluss auf die jeweilige nationale Politik.
Es ist daher sehr unwahrscheinlich, dass innerhalb der EWU durch eine symmetrisch auf die Länder mit positiver und negativer Leistungsbilanz gleichermaßen gerichtete, aber stark differenzierte Maßnahmen beinhaltende Vorgaben, die gewünschten nachhaltigen Wirkungen zum Ausgleich der Leistungsbilanzen erzielt werden können. Eine erfolgreiche formale „Beherrschung“ von insgesamt 27 + 1 Dialog-Gremien durch die aufsichtführende EU-Kommission scheint obendrein ziemlich unrealistisch.
Fazit
Von seiner Zielstellung her ist die IMK-Studie darauf gerichtet, die fatalen Geburtsschwächen der EWU durch eine Zentralisierung und Koordinierung der Lohnfindung zu „heilen“, indem die Tarifpolitik den neu etablierten 27 MED-Gremien zugeordnet wird und so den nationalen Gewerkschaften entzogen wird.
Nachdem die EWU-Finanzmarktkrise Auseinanderdriften der Staaten nach ihren jeweiligen Bilanzüberschüssen und –defiziten verstärkt hat, ist der künftig empfohlene und koordinierte Druck auf die Lohnstückkostenentwicklung eine rabiate „Flucht nach vorn“. Sie führt allerding eher in eine Zukunft weiterer Haushaltsdefizite und Leistungsbilanzdefizite der mehr oder weniger stark zurückgebliebenen EU-Länder und keineswegs in eine harmonische EWU-Wirtschaft mit stabiler und solidarischer Sozialpolitik. Die derzeitige Krisenpolitik in der EWU mit ihren schwerwiegenden Folgen würde unter neuem Vorzeichen einer faktischen übernationalen „Wirtschaftsregierung im Dialog“ (MEDEURO) fortgesetzt.
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