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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Nachtrag zu Kurt Becks Treppenwitz
Datum: 4. September 2006 um 12:19 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Hartz-Gesetze/Bürgergeld
Verantwortlich: Albrecht Müller
Die SPD Führung scheint keine Ahnung davon zu haben, was sie mit Hartz IV zusammen mit den Grünen und der Bundesratsmehrheit der Union angerichtet hat. Sie begreift offenbar nicht, dass weite Teile der Arbeitnehmerschaft, auch die so genannten Leistungsträger, mit Hartz IV der Unsicherheit preisgegeben worden sind. Ich komme darauf zurück, weil ich gerade einen Beitrag von Kurt Beck im sozialdemokratischen „Informationsdienst für aktive Mitglieder”, dem so genannten INTERN, gelesen habe.
Unter der Überschrift „Die soziale Leistungsgesellschaft“ steht in INTERN zu lesen:
Drei Hauptgruppen bestimmen unsere Gesellschaft. Erstens die Gesicherten mit stabiler Beschäftigung bis hin zu den Spitzenverdienern. Zweitens die Menschen, die immer wieder nur befristet und schlecht bezahlt Anstellung finden, darunter junge Leute, die sich – vor allem auch in den neuen kreativen Berufen – von einem „ Projekt“ zum nächsten hangeln und die deshalb auch lange zögern, Kinder zu bekommen; Ältere, die nach langjähriger Arbeit für ihren Betrieb plötzlich ihre Stellung verlieren. Drittens die Ausgeschlossenen und Hoffnungslosen, die glauben, dass sie keine Chance mehr bekommen.
Diese Aufteilung entspricht nicht mehr der Realität. Durch Hartz IV in Kombination mit der miserablen Konjunktur- und damit Arbeitsmarktlage ist der Kreis der wirklich Gesicherten in der ersten Gruppe auf ein unerhebliches Minimum geschrumpft. Beck verkennt, dass die Gesicherten mit stabiler Beschäftigung wegen Hartz IV großenteils in die Unsicherheit und damit in die zweite Gruppe entlassen worden sind. Sie unterliegen der Drohung, ein Hartz IV-Opfer zu werden. Ihre Arbeitslosenversicherung ist ihres Versicherungscharakters beraubt. Dies wird von vielen Arbeitgebern ausgenutzt.
Ein Freund der NachDenkSeiten hat uns, angestoßen durch die Lektüre des vorigen Beitrag zum Thema, den folgenden Bericht geschickt:
4.9.2006
Arbeitgeber nutzen die Hartz-IV-Reformen, um die immer latente Angst vor Arbeitslosigkeit sichtbar zu machen.Dazu ein Bekannter: Er wurde vom Arbeitsamt in einen Betrieb geschickt, um dort eine einmonatige, kostenlose Trainingsmaßnahme abzuleisten. Dies, obwohl der Betrieb dafür bekannt war, diese kostenfreie Arbeit lediglich auszunutzen, um nach einen Monat neue Gratis-Arbeitskräfte zu erhalten. Zudem: Arbeitsschutzbestimmungen wurden nicht eingehalten (es gab für das Lackieren keine Atemschutzmasken etc.), nicht einmal eine Uhr in der Werkstatt gab es, so daß regelmäßig in die Pause hineingearbeitet wurde. Dies alles nur nebenbei, doch wirft es ein bezeichnendes Bild auf dies Unternehmen.
Zum Punkt: Am Schwarzen Brett der Firma, im Vorraum zu den Werkshallen, ein Schreiben des Patrons der Firma. Er wird zum 1.1.2005 die Urlaubstage von 30 auf 25 reduzieren, eine 42-Stunden-Woche wird eingeführt (vorher 38), dies natürlich ohne Lohnausgleich. Überhaupt, so ganz zynisch, sollten sich die Angestellten nicht so anstellen, denn er arbeitet schließlich mehr als 14 Stunden am Tag. Die Stundenlöhne, die sowieso gering waren (10-13 Euro/Stunde), wurden somit durch unbezahlte Mehrarbeit noch weiter gesenkt. Um seiner Belegschaft Beine zu machen (sprich: sie trotz der Maßnahmen bei Laune zu halten), wies er auf die neuen Reformen Hartz IV hin. Diese waren damals noch nicht wirksam, aber in aller Munde – Sie erinnern sich bestimmt. Man solle, ganz platt stellte er dies fest, froh sein nicht arbeitslos zu werden, nicht in dieses Hartz IV zu rutschen. Fehlinformationen zudem: Er verkündete am Schwarzen Brett, daß jeder sofort ins ALG-II rutschen würde, wohl um die Drohung zu untermauern. Da klopft sich der Patron auf die Schulter und meint, um die Belegschaft vor diesem Absturz zu bewahren, müsse sie entgegenkommen und die Maßnahmen Ihres Arbeitgebers dulden.
Freilich, ein dumpfes Vorgehen, direkt ersichtlich, aber so wird es wohl in vielen Betrieben vonstatten gehen. Hartz IV ist das Schlagwort, welches Marx als “industrielle Reservearmee” bezeichnet hat. Ein Druckmittel für Arbeitgeber, eine reale Angstvision für Arbeitnehmer. Und wäre man ganz zynisch, so könnte man die Behauptung aufstellen: Dies schmarotzende Hartz-Pack (wie es die Eliten ja sehen) hat auch seine Aufgabe und trägt zur Wertschöpfung unserer Unternehmen bei: Als schwarze Masse im Hintergrund, welche Arbeitnehmer durch ihre Existenz dazu zwingt, alles mit sich machen zu lassen.
R. J. De L.
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