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Titel: Köhler rät zu Keynes und Konjunkturprogrammen

Datum: 3. März 2005 um 15:49 Uhr
Rubrik: Arbeitslosigkeit, Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Rezensionen, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Von Kai van de Loo.

In Zeiten ungebrochen hoher Arbeitslosigkeit erscheint guter ökonomischer Rat teuer. Während Regierung und Opposition vor allem darüber streiten, ob der neue Arbeitslosenrekord nur statistischen Effekten geschuldet ist, ob bei den eingeleiteten „Reformen“ handwerkliche Fehler gemacht wurden oder noch mehr Zeit nötig ist und ob nicht noch konsequentere angebotspolitische Reformmaßnahmen angebracht wären, stellt sich dem kritischen Beobachter und Zeitgenossen mehr denn je die Frage: Braucht die deutsche Politik nicht eine andere, weniger einseitige ökonomische Beratung?

Geeignete Berater gab und gibt es hierzulande. Einer heißt z.B. Köhler, ein Mann von großem ökonomischen Sachverstand, ausgewogener Betrachtungsweise und langjähriger Erfahrung in wirtschaftspolitischen Angelegenheiten. Nein, nicht Horst Köhler ist gemeint, unser vom IWF reimportierter Ex-Staatssekretär und amtierender Bundespräsident, sondern Claus Köhler, emeritierter Volkswirtschaftsprofessor, ehemaliges Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftwirtschaftlichen Entwicklung und des Direktoriums der Deutschen Bundesbank.

Weil ihm die deutsche Wirtschaftspolitik der letzten Jahre wohl ziemlich desorientiert vorkam, hat Prof. Köhler selber „Orientierungshilfen“ für das wirtschafts-, finanz- und geldpolitische Handeln in den modernen Zeiten der Globalisierung formuliert. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit und bisher ohne große Resonanz erschien im letzten Jahr sein neues Buch, das den Titel trägt „Orientierungshilfen für die Wirtschaftspolitik“ (Duncker & Humblot-Verlag, Berlin 2004, 135 S.). Darin gibt er als Ökonom nüchterne Ratschläge, wie die Ziele Wachstum und Beschäftigung, Preisniveau- und Wechselkursstabilität besser erreicht werden können als bisher. Adressat des Buches ist wohl vor allem die politische Klasse. Sie wird mit vielen Zitaten an ihre eigenen Aussagen und Zielsetzungen sowie die maßgeblichen Normen erinnert. Leider ist das Buch nicht immer ganz allgemeinverständlich. Neben reichlich Fachjargon und Zahlen werden wesentliche Zusammenhänge stets mit einem Schuss Mathematik erläutert. Denn auf saubere Analysen und messbare Quantitäten kommt es Prof. Köhler sehr an, nicht auf Sprüche und Behauptungen. Weil ein hoher Beschäftigungsstand bzw. die Verminderung der Arbeitslosigkeit ist für ihn ein wirtschaftspolitisches Ziel nicht nur von großer, sondern gesellschaftlich von „existenzieller Bedeutung“ ist, sollte man Beschäftigungsziele quantifizieren und Erfolge nachweisbar berechnen können.

Angemessenes Wirtschaftswachstum unabdingbar

Arbeitslosigkeit kann aus volkswirtschaftlicher Sicht zwar verschiedene Ursachen haben. Aber die makroökonomische Bedingung, sie zu verringern, ist stets ein angemessenes Wirtschaftswachstum oder umgekehrt: Wachstum ist erst dann „angemessen“, so definiert es Prof. Köhler, wenn es, ohne die Inflation anzuheizen, die Beschäftigungssituation verbessert oder – bei Vollbeschäftigung – stabilisiert. Und Prof. Köhler rechnet vor: Besteht Arbeitslosigkeit, muss für ein angemessenes, also beschäftigungswirksames Wachstum die Zuwachsrate des realen BIP (Bruttoinlandsprodukt), oder anders gesagt: die inflationsbereinigte Gesamtnachfrage nach Gütern und Diensten, größer sein als die Wachstumsrate des Produktionspotenzials, d.h. die maximale gesamtwirtschaftliche Leistung bei gegebener Beschäftigung und Arbeitsproduktivität. Nur dann werden die Kapazitäten so ausgelastet und Erweiterungsinvestitionen vorgenommen, dass auch zusätzliche Arbeitskräfte nachgefragt werden und die Arbeitslosigkeit sinkt. In der Kurzform heißt das nichst anders, als dass die volkswirtschaftliche Nachfrage (wieder) schneller wachsen muss als das volkswirtschaftliche Angebot. Das bedeutet nicht, dass es auf die Angebotsseite und deren internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht ankäme. Doch mehr Beschäftigung setzt zugleich immer eine entsprechend starke Nachfragebelebung voraus.

Alle Diskussionen, ob sich die Wirtschaft noch in einer Rezession oder schon in einem Aufschwung befindet oder dass es , seien „im Hinblick auf das Beschäftigungsproblem irrelevant. Relevant ist allein, ob das Wirtschaftswachstum angemessen ist oder nicht.“ Und „angemessen“ heißt aus heutiger Sicht deutlich höher als heute mit unter 2% oder weniger. Beispielsweise brauchen wir bei einer jahresdurchschnittlichen realen Wachstumsrate des Produktionspozentials von 1,5% (wie in den Jahren 1998-2002) und einer Inflationsrate von z.B. 2% mindestens 3,5% nominales BIP-Wachstum, um die Arbeitslosigkeit zu senken. Mit weniger Wachstum gelangt man nur zu noch mehr Arbeitslosigkeit. Und mehr Arbeit setzt mehr Wachstum und dieses wiederum mehr Nachfrage voraus.

Für Prof. Köhler ist es absolut unverständlich, dass es in Deutschland zwar viel über strukturelle Ursachen der Wachstumsschwäche geredet wird und sog. Strukturreformen in den Vordergrund gestellt werden, es aber überhaupt keine quantitativen Zielvorgaben für das Wachstum gibt und nicht dargestellt wird, welche quantitativen Wirkungen die ergriffenen oder zur Debatte gestellten „Struktur“-Maßnahmen auf die Beschäftigung haben. Da es aber kein angemessenes Wachstumsziel, geschweige denn eine dazu passende Strategie gebe, sei es zu vielen „unsozialen Maßnahmen“ gekommen, deren Härte nutzlos war.

Bis hierhin könnten ihm vermutlich auch manche Konservative noch folgen. In Vielem scheint Prof. Köhler selbst auch eigentlich eher konservativ zu sein, durchaus kein Linker. So ist für ihn als Geldexperten und ehemaligen Bundesbanker neben der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit die Inflationsvermeidung ebenfalls ein zentrales wirtschaftspolitisches Ziel, das niemals aus dem Auge verloren werden darf; seine neuen Kollegen von der Europäischen Zentralbank nimmt er gegen Kritik an ihrer Zinspolitik sogar in Schutz und verteidigt ihre Unabhängigkeit (auch wenn er sich mehr Abstimmung mit der Finanzpolitik wünscht). Er zeigt sich z.B. auch bedingt offen gegenüber einem größeren Maß privater Altersvorsorge und fordert ein hartes Vorgehen gegen den Missbrauch von Sozialleistungen. Überdies plädiert er für die stärkere Förderung und Nutzung von Hochtechnologien, zu denen er auch die Kerntechnik oder die Gentechnik zählt, um bei uns ein Gegengewicht zum weiteren „Offshoring“ von Arbeitsplätzen und Wertschöpfung in Billiglohnländer zu schaffen. Alles heute keine Punkte einer linken und schon gar nicht einer grünen Agenda.Aber in anderen Punkten wirkt er in Deutschland heute fast revolutionär: Er rät zur Rückbesinnung auf die Erkenntnisse der Keynes-Schule und zu Konjunkturprogrammen.

Weniger Klassik und mehr Keynes: Notwendigkeit der aktiven Finanzpolitik

Die (neo-)klassische Theorie werde heute „überbetont“, stellt Prof. Köhler lakonisch fest. Die Wirtschaftspolitik müsse sich des gesamten Wissens über ökonomische Zusammenhänge bedienen, von der Klassik bis zu Keynes. Nicht Ideologie, sondern die jeweilige Situation entscheide, auf welche Theorie das Schwergewicht gelegt werden muss. Je nach Situation können auch staatliche Konjunkturprogramme berechtigt sein. Wer sein Bemühen allein auf eine Theorie stützt, sei schlecht beraten. So dürfe der Arbeitsmarkt nicht allein der Nachfragemacht der Arbeitgeber und schon gar nicht der freien Lohnkurrenz mit Entwicklungs- und Schwellenländern ausgesetzt werden. Mit freier Lohnbildung sei der Trend zu steigender Arbeitslosigkeit heute nicht zu brechen. Wer am Arbeitsmarkt die Beseitigung tariflicher Schutzrechte zugunsten von Marktlösungen fordere, verlange, der Markt solle lösen, was er schon seit Jahrzehnten nicht zu lösen imstande ist. Durch die einseitige Ausrichtung auf die neo-klassischen Rezepte könnten sich die Regierung überdies ihrer beschäftigungspolitischen Verantwortung entziehen. Genau das geschehe de facto gegenwärtig.

Prof. Köhler geht aber noch einen Schritt weiter: Wer wirtschaftspolitische Ziele verfolge, insbesondere die Arbeitslosigkeit bekämpfen und sich nicht mit ihr abfinden wolle, dürfe zielgerichtete öffentliche Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen und dessen Ausgaben- und Einnahmeströme nicht verwerfen. Deshalb ist er als Ökonom dezidiert für Konjunkturprogramme und für eine Haushaltskonsolidierung durch eine „aktive Finanzpolitik“ anstatt durch einen Sparkurs – dass heute das Gegenteil praktiziert und propagiert wird, findet er „unverantwortlich“Zitat (S. 63):

„Es ist schwer verständlich, ja erscheint unverantwortlich, wenn ein Staat angesichts verschlechternder wirtschaftlicher Lage Konjunkturprogramme ablehnt. Ein Haushalt, dessen öffentliche Ausgaben gemessen am nominalen BIP ungefähr 50% und dessen Steuereinnahmen und Abgabeerlöse annähernd 40% betragen, hat immer Möglichkeiten konjunkturglättend einzugreifen … Das Sparkonzept der Bundesregierung führt dagegen zu höherer Arbeitslosigkeit, gedämpfter Einkommensentwicklung und damit zu Steuerausfällen.“

(Ähnlich kritisch äußert er sich zu dem Vorschlag des bayerischen MP Stoiber, die Arbeitszeiten in Deutschland generell zu verlängern: Konjunktur- und beschäftigungsschädlich und im internationalen Standortwettbewerb allenfalls von marginaler Bedeutung.)

Die Auffassung, Konjunkturprogramme und antizyklische Finanzpolitik würden nur ein „Strohfeuer“ entzünden und keine dauerhaften Arbeitsplätze schaffen, ist für Köhler ökonomisch “nicht haltbar“. Dass das deutsche Stabilitäts- und Wachstumsgesetz mit seinem konjunkturpolitischen Instrumentarium heute bewusst nicht mehr angewendet wird, findet Prof. Köhler aus volkswirtschaftlicher Sicht mehr als erstaunlich und sei ursächlich für die Wachstumsschwäche in Deutschland. Die Finanzpolitik habe die Verantwortung und auch die wesentliche Handhabe zur Wachstums- und Beschäftigungsbelebung. Lohn- und Geldpolitik können die Finanzpolitik dabei nur flankieren und haben im Übrigen für Preisniveaustabilität zu sorgen. Statt auf weitere Strukturmaßnahmen am Arbeitsmarkt, die die Konjunktur nur belasten, setzt Prof. Köhler auf Infrastrukturmaßnahmen am Gütermarkt i.w.S. (Bau, Verkehr, Bildung und Forschung etc.); er sieht in Anbetracht der absoluten und relativen Größe der öffentlichen Haushaltsvolumina auch bei manchen Inflexibilitäten praktisch immer ausreichend Möglichkeiten, wirtschaftspolitische Ziele anzusteuern und Beschäftigungsimpulse zu geben. Schon relativ geringfügige Haushaltsvariationen einschl zusätzlicher staatlicher Kreditaufnahme könnten die gesamtwirtschaftliche Entwicklung spürbar beeinflussen, Staatsausgaben seien immer “einflussreich”.

Die Behauptung, es sei heute kein öffentliches Geld mehr verfügbar, um die Arbeitslosigkeit durch wachstumsfördernde Investitionen und Schaffung von Nachfrageimpulse zu bekämpfen, ist demnach substanzlos. Sie ist sogar haushalterisch kontraproduktiv, wie Prof. Köhler darlegt. Denn auch Haushaltskonsolidierung sei realistisch nur durch aktive Finanzpolitik, nicht durch blindes Sparen auch noch in der Rezession zu erreichen. Durch Konjunkturprogramme etwa mittels Vorziehen oder Ausweitung staatlicher Infrastrukturinvestitionen könnten Konjunkturschwankungen eingeebnet, Wachstum stimuliert und Beschäftigung z.T. direkt erhöht werden. Dadurch stabilisiert sich dann mittel- bis längerfristig auch die Haushaltslage wieder:

“Der Ablauf muss sein: Zusätzliche staatliche Ausgaben; sie bedeuten Aufträge, Produktion, Investitionen und Einkommen in der privaten Wirtschaft. Zunehmende Einkommen führen zu zusätzlichen Steuereinnahmen, und zwar, wenn auch zeitverzögert, wegen der Steuerprogression, überproportional im Vergleich zu den öffentlichen Ausgaben … Aktive Finanzpolitik ist damit ein Instrument, öffentliche Haushalte zu konsolidieren.” (S. 51)

Für Prof. Köhler ist diese Wirkungslogik theoretisch seit Keynes ausreichend fundiert und empirisch vielfach belegt. Der Vorwurf des keynesianischen Inflationismus ist für ihn lediglich ein pauschaler Diskriminierungsversuch der klassischen Lehre (dem sog. Neoliberalismus), die selber nichts anbieten könne, den steigenden Trend der Arbeitslosigkeit wirksam zu brechen, weil sie die Nachfrageseite ausblendet.

Staatsverschuldung kann ökonomisch sinnvoll sein

Auch die Verweise auf die „Generationengerechtigkeit“ und die Belastung der nachwachsenden Generationen als Argument gegen die für Konjunkturprogramme u.U. erforderliche zusätzliche Staatsverschuldung lässt er als Ökonom nicht gelten. Ungerecht sei vielmehr die Belastung der aktiven und älteren Generation durch einen Sparkurs, der laufende Steuereinnahmen nur zum Schuldenabbau verwendet und künftige Generationen an der Finanzierung heute getätigter öffentlicher Investitionen, von denen sie auch profitieren werden, nicht beteiligt. Zudem ist Schuldenabbau in rezessiven Phasen illusorisch und gefährdet die für die Rückkehr auf einen Wachstumspfad und für die ökonomische Vorleistung der heutigen gegenüber kommenden Generationen nötigen öffentlichen Investitionen. Da Entschuldung und Zinsersparnisse des Staates außerdem im Kreislaufzusammenhang automatisch höhere Schulden für Unternehmen und geringere Ersparnisse bzw. Zinsverluste der privaten Haushalte bedeuten, werden auch die privaten Investitionen beeinträchtigt und somit Wachstum und Steueraufkommen zusätzlich beeinträchtigt. Im Saldo kann diese Rechnung nicht aufgehen. Die These, die Schulden von heute seien die Steuern von morgen, sei deshalb volkswirtschaftlich ohne wirkliche Aussagekraft.

Selbst unter rein betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten sei eine sofortige vollständige Finanzierung von Investitionen ohne Kreditaufnahme nicht sinnvoll (und in der freien Wirtschaft auch nicht üblich). Kaufmännisch ausgerichtetes Schuldenmanagement wäre es, die Laufzeit der Kredite der Lebensdauer der öffentlichen Investitionen anzupassen. Dann könnte aus Abschreibungen der Investitionen entsprechend ihrer Lebensdauer zinssparend eine Teilrückzahlung der Kredite erfolgen. Verzicht auf neue Schulden als solcher ist dagegen kein ökonomisch sinnvolles Ziel.

Genauso wenig hält Prof. Köhler von einer Finanzpolitik, die ihre Kreditaufnahme nur nach den sog. automatischen Stabilisatoren ausrichtet. Danach dürfen Haushaltsdefizite nur in dem Umfang hingenommen werden, wie im Fall einer Rezession daraus z.B. Mindereinahmen an Steuern und Mehrausgaben für Arbeitslosengeld resultierende. Dadurch wird ein Abschwung zwar nicht noch zusätzlich verschärft, aber auch kein neuer Wachstumsimpuls ausgelöst und der negative Trend nicht umgekehrt. Die Entwicklung der Haushalte in der EU 2001-2003 sei genügender Beleg dafür.

Europäischer Stabilitätspakt dringend reformbedürftig

Schließlich hält Prof. Köhler auch nichts davon, den Europäischen Stabilitätspakt als Begründung gegen staatliche Konjunkturprogramme ins Feld zu führen. Diesen Pakt erachtet er als höchst problematisch und reformbedürftig. Köhler ist zwar nicht generell gegen gewisse Haushaltsregeln innerhalb der Europäischen Währungsunion, weil sie Koordinationsschwierigkeiten und eventuelle Konflikte zwischen den nationalen Finanzpolitiken und der einheitlicher Europäischen Geldpolitik in der Eurozone zumindest eingrenzen können.

Doch die fixen quantitativen Referenzwerte des Stabilitätspaktes – Neuverschuldungsgrenze 3% und Schuldenstandsgrenze 60% des (nominalen) BIP – hätten “keine stichhaltige theoretische Basis”. Sie beschränkten die Finanzpolitik gerade bei Wachstums- und Beschäftigungsdefiziten unangemessen und wirkten im Konjunkturverlauf prozyklisch statt antizyklisch. Außerdem untergraben sie so selbst systematisch die Voraussetzungen, unter denen sie überhaupt nur funktionieren können. Völlig übersehen werde nämlich meist, dass beide Referenzwerte ja stets zusammen gelten sollen. Damit implizieren sie ein bestimmtes (Mindest-)Wirtschaftswachstum, das heute für viele Mitgliedstaaten realitätsfern ist. 3% Haushaltsdefizit ist bei Einhaltung einer Schuldenstandsquote von 60% nur mit einem nominalen BIP-Wachstum von (mindestens) 5% zu gewährleisten. Wächst das BIP weniger, erfordert die Einhaltung der Schuldenstandsgrenze eigentlich ein noch geringeres Haushaltsdefizit als 3%. Umgekehrt könnte die 3%-Defizitregel dann nur unter Inkaufnahme eines höheren Schuldenstandes als 60% gewahrt werden. Der Pakt kann, wie Prof. Köhler mit einfacher Mathematik zeigt, prinzipiell nur funktionieren, wenn die Zuwachsrate des BIP dauerhaft größer oder gleich dem Quotienten von Defizitquote und Schuldenstandquote ist und d.h. beid en vorgegebenen Refrenzwerten größer oder gleich 5%. (Er sagt es zwar selber nicht explizit, doch es wird deutllich: Hier liegt ein Verstoß gegen diverse Gebote des EG-Vertrags vor und es greift der alte Rechtsgrundsatz “ultra posse nemo obligatur” – niemand darf zu etwas verpflichtet werden, was er tatsächlich gar nicht leisten kann.)

Klar macht Prof. Köhler zudem, dass der Stabilitätspakt auch im entgegengesetzten Fall nicht das zu leisten vermag, was er verspricht. Bei überhitztem Wachstum mit inflatorischen Tendenzen können zwar die Haushaltsregeln relativ leicht eingehalten werden, doch er gibt gerade dann, wenn es wirklich erforderlich wäre, keine Anreize durch eine restriktivere Haushaltspolitik den Inflationsgefahren vorzubeugen. Die Schlussfolgerung ist offensichtlich: Der Stabilitätspakt ist ökonomisch schlicht fehlkonstruiert.

Wieviel „Orientierungshilfe“ wird von der deutschen Wirtschaftspolitik noch benötigt?


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