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Titel: Von wegen „US-Amerikanisierung“

Datum: 23. August 2006 um 17:37 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Sozialstaat, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Christoph Butterwegge spricht in seinem Beitrag „Wie viel Armut verträgt eine Gesellschaft“ von einer „US-Amerikanisierung“ der deutschen Gesellschaft. Roger Strassburg einer unserer Leser hält diese Charakterisierung für falsch; er ist Amerikaner und lebt in Deutschland.

Ich stimme der Analyse von Herrn Butterwegge zu. Doch einen Punkt möchte ich kommentieren. Herr Butterwegge spricht beim Abbau des deutschen Sozialstaats von einer “US-Amerikanisierung”.
Freilich gibt es in den USA keine gesetzliche Krankenversicherung oder Pflegeversicherung. Die Sozialhilfe ist etwas mager, und der Kündigungsschutz begrenzt. Doch eine “US-Amerikanisierung” würde auch folgendes bedeuten: keine Steuerbefreiung von Veräußerungsgewinnen nach Ablauf einer “Spekulationsfrist” (obwohl die Steuern danach ermäßigt werden), Besteuerung des weltweiten Einkommens aller Staatsbürger unabhängig von ihrem Wohnsitz (natürlich unter Anrechnung von ausländischen Steuern), Mindestlöhne ($5,15 nach Bundesgesetz, was freilich zu wenig ist, aber der Mindestlohn liegt in vielen Bundesstaaten deutlich höher). Dazu ein Verbot der Diskriminierung wegen Alters, Geschlechts, Religion, ethnischer Zugehörigkeit oder Behinderung. In den USA gibt es auch Vermögenssteuern und eine Erbschaftssteuer, die auf einem deutlich höheren Niveau liegt, als die deutsche. Letzeres will die Bush-Regierung gerne ändern – sollte man dieses Bestreben eine “Germanisierung” der USA nennen?

Es gibt in den USA den in Deutschland so ersehnten Billiglohnsektor (allerdings mit Mindestlohn). Doch anders als in Deutschland, gilt er als Problem, nicht als Ziel der Politik. Es wird auch nicht ständig von irgendwelchen Eliten Verzicht für Arbeitnehmer gepredigt – dort wird die Bedeutung des Privateinkommens für die Konjunktur nicht klein geredet, ignoriert oder gar bestritten, wie in Deutschland.

Anders als das in Deutschland übliche Vorurteil, gibt es in den USA eine umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung für alle, die auf einem mit Deutschland vergleichbaren Niveau liegt. Teilweise sogar höher. Aber das passt nicht in das übliche Bild der Deutschen von den USA.

Als in Deutschland lebender Amerikaner ist das gängige Pauschalurteil über die USA deshalb ärgerlich, weil es sich dabei teilweise um Unwahrheiten handelt.


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