Titel: Mittelmaß regiert uns, eine geistig beschränkte Ideologie beherrscht die öffentliche Debatte.
Wir haben einen Finanzminister, der offenbar keine Ahnung von gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen und obendrein Wahrnehmungsstörungen hat. Er könnte nämlich den Deutschen nicht empfehlen zu sparen, noch dazu beim Urlaub, wenn er begriffen hätte, dass das Hauptproblem unserer Volkswirtschaft die schwache Binnenkonjunktur ist.
Wir haben eine Bundesregierung, die den minimalen Aufschwung dieses Jahres mit einer dreiprozentige Mehrwertsteuererhöhung zu erdrosseln droht.
Wir haben eine Führungselite, die Studien braucht, um zu erkennen, dass Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Perspektivlosigkeit seelisch krankmachen. An diesem Beispiel kann man gut erkennen, wie eng der Horizont der herrschenden Ideologie ist.
- Zu Steinbrück, etc.:
Das bisschen Wachstum, dass wir zur Zeit beobachten können, ist nach allgemeiner Einschätzung ganz wesentlich vom Export bestimmt. An Binnennachfrage fehlt es. Effektiv sind weit über 5 Millionen Menschen arbeitslos, die für den Binnenmarkt arbeitende Wirtschaft arbeitet weit unterhalb ihrer Kapazitäten. Am besten kann man das bei den Branchen studieren, denen unser Bundesfinanzminister eine weitere Schrumpfung verordnen will: bei Hotels und Gaststätten, in den Urlaubsregionen. Wenn die Deutschen den Rat des Bundesfinanzministers befolgen würden, dann wären weitere Existenzen gefährdet. Einmal abgesehen davon, dass jene knapp 40%, die sich Urlaub gar nicht leisten können, den Rat nicht befolgen können.
Auch dann, wenn die Urlaubenden auf Ferien im Ausland verzichten würden, würde das allen Notwendigkeiten widersprechen. Unsere Partner in vielen Urlaubsländern, also in Italien, Frankreich, Spanien zum Beispiel, leiden unter der Wettbewerbstärke der deutschen Exportwirtschaft. Deutsche Urlauber in diesen Ländern leisten einen kleinen Ausgleich für die defizitäre Leistungsbilanz dieser Länder. Sie leisten damit auch einen kleinen Beitrag zur Stabilisierung der Eurozone. Der für die Stabilität dieser Währungsunion mitverantwortliche Bundesfinanzminister hält dagegen. Grotesk.
Übrigens gibt es auch einen engen Zusammenhang zwischen guter Konjunktur und Steuereinnahmen: Wenn der Bundesfinanzminister wirklich Schulden abbauen wollte, dann müsste er alles tun, um die Binnenkonjunktur zu beleben, denn nur dann fließen die Steuern. Seine Sprüche bewirken das Gegenteil.
Dies alles begreift unser oberster Finanzminister nicht.
Oder: Seine PR-Berater haben ihm geraten, Bescheidenheit und Einschnitte und Selbstkasteiung zu predigen, weil das populär ist, vor allem wenn es die andern betrifft. Zu predigen, wir lebten über unsere Verhältnisse, das war schon immer eine gängige Münze.
Oder: Es könnte Steinbrück um die Bedienung jener Interessen gehen, derentwegen wir sparen sollen: Privatvorsorge für Krankheit und Alter.
Das ist die alte Frage, angewandt auf Steinbrück: dumm oder korrupt?
Ich neige im konkreten Fall zum Ersteren. Steinbrück hat vermutlich nicht begriffen, dass wir mit der Drosselung der Konjunktur seit Anfang der neunziger Jahre inzwischen jedes Jahr rund 700 Milliarden €, also fast 1/3 unseres Bruttoinlandsproduktes verlieren. Der Verzicht, unter dem vor allem die Arbeitslosen, die auf den Binnenmarkt orientierten Unternehmen und die öffentlichen Haushalte leiden, ist hausgemacht. Der Bundesfinanzminister ist dafür zuständig und verantwortlich.
- Zu den Folgen der hohen Arbeitslosigkeit:
Als um den 12. und 13. August herum Informationen über eine Studie der Universität Leipzig bekannt wurden, wonach Arbeitslosigkeit ein großer Risikofaktor für Leben und Gesundheit sei und sich der Gesundheitszustand mit Verlust des Arbeitsplatzes nach statistischen Erhebungen beträchtlich verschlechtere, nahmen das einige Medien mit Erstaunen auf. (Zu den Meldungen siehe z.B. RP-Online: „Arbeitslose sterben früher“)
Wer auch nur ein bisschen nachdenkt, kann sich die Folgen auch ausdenken. Siehe dazu auch Kapitel IV „Die Totengräber und ihre Leichen“ in „Machtwahn“. Dort habe ich ausführlich beschrieben, welche Folgen hohe Arbeitslosigkeit, die Spaltung unserer Gesellschaft, die Angst, die erzwungene Mobilität und Heimatlosigkeit für die körperliche und seelische Gesundheit der Betroffenen hat und haben wird. Die herrschende wirtschaftspolitische Ideologie bedenkt diese Folgen nicht. Sie denkt engstirnig betriebswirtschaftlich. Engstirnig muss man dies deshalb nennen, weil man, wenn man unbedingt will, die gesundheitlichen Folgen auch in Euro umrechnen kann.
Zur Illustration der Symptome und Folgen füge ich noch zwei Hinweise auf einschlägige Artikel an. So berichtete die Aachener Zeitung unter der Überschrift „Caritas: Lawine der Armut überrollt Aachen“: Kein Job, kein Geld, kein Strom, kein Essen: Immer mehr Aachener leben in größter sozialer Not. Die Mitarbeiter der Caritas opferten sich auf. Doch die Arbeit sei nicht mehr zu bewältigen. Die Berliner Zeitung berichtete am 16.8. unter der Überschrift „Die Vertriebenen“ darüber, dass die ersten Hartz-IV-Empfänger umziehen müssen, weil ihre Wohnungen zu teuer sind:
Die Folgen der damit häufig verbundenen Entwurzelung und der Auflösung bisheriger sozialer Beziehungen werden von den neoliberalen Reformern genauso wenig bedacht wie die langfristige Wirkung von Armut auf die betroffenen Erwachsenen und Kinder.
In einem Interview mit der Manager Magazin (Heft 7/2006) hat der McKinsey-Weltchef Ian Davis den gängigen Spruch abgesondert: „Was gut ist für die Wirtschaft, ist gut für die Gesellschaft“. Solche Sprüche kennzeichnen die Enge des Denkens der herrschenden Führungskräfte. In ihrem betriebswirtschaftlich angelegten Weltbild kommen die Folgen ihrer Art zu wirtschaften und zu reformieren nicht vor.
Die Nationalökonomie war schon einmal viel weiter. In den Überlegungen der so genannten WelfareEconomics, spielten die so genannten externen Effekte des Wirtschaftens eine bedeutsame Rolle. Man war sich einig, dass man solche Effekte internalisieren müsste, wenn man eine aussagekräftige volkswirtschaftliche Rechnung anstellen will. Aber diese Zeit umsichtiger ökonomischer Erwägungen ist lange vorbei. Eng denkende Betriebswirte haben heute das Sagen – bis weit hinein in Politik und Medien. Ich nenne das Regression.