Titel: Kretschmann kann oder will die Chancen zum Ausstieg aus Stuttgart 21 nicht nutzen.
Dafür gibt es neue Belege in einem weiteren Briefwechsel zwischen dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten und vier engagierten und zugleich sachverständigen Kritikern des Bahnhofsprojektes. Kretschmann hatte am 14. Januar [PDF – 177 KB] auf den Offenen Brief vom 27. Dezember 2012 von Walter Sittler, MdB Sabine Leidig, Egon Hopfenzitz und Volker Lösch geantwortet. Die vier Gegner des Projektes haben darauf am 29. Januar mit einem Brief [PDF – 110.5 KB] reagiert. Das ist die Fortsetzung eines Disputs, auf den wir am 9. Januar und 4. Januar hingewiesen haben. Wir geben Ihnen die beiden neuen Dokumente zur Kenntnis. Sie sind eine Art Lehrstunde zur Eigendynamik von Großprojekten und zum zu erwartenden Verhalten von grün-roten oder rot-grünen Regierungen. Albrecht Müller.
Der Brief des baden-württembergischen Ministerpräsidenten signalisiert nach meiner Interpretation, dass Kretschmann die gebotenen Möglichkeiten zum Ausstieg aus dem Projekt nicht nutzen kann oder nicht nutzen will. Dass es diese Möglichkeiten gäbe, ist in letzter Zeit auf den NachDenkSeiten und anderswo schon mehrmals beschrieben worden und auch von der genannten Gruppe sachverständig belegt worden. Für den Ausstieg sprechen vor allem die explodierenden Kosten und die sichtbar werdende geringere als bisher behauptete Kapazität des neuen Bahnhofs.
Im Brief von Kretschmann fällt auf:
- Er zieht sich zurück auf das von der Landesregierung verfügte Limit der Beteiligung des Landes an der Finanzierung des neuen Bahnhofes und auf die Volksabstimmung in seiner Interpretation.
- Kretschmann missachtet dabei mögliche und wahrscheinliche Entwicklungen. Erstens kann die Farbe der Landesregierung innerhalb der Bauzeit wechseln und die neue Landesregierung finanziert dann angesichts des massiven Kostenanstiegs und der Blamage des Scheiterns eines auch von ihren Vorgängerinnen betriebenen Projektes trotz Limit mit. Zweitens klammert der heutige Ministerpräsident aus, unter welchen Druck selbst eine von ihm geführte Landesregierung gerät, wenn mitten in der Landeshauptstadt die Gefahr einer nicht mehr finanzierbaren Bauruine entsteht. Das ist dann nämlich eine andere Situation, als z.B. beim Bau des Schnellen Brüters und der Beendigung dieses mit damals 7 Milliarden DMark „in die Wiese gesetzten“ Projektes. Der Schnelle Brüter stand auf der grünen Wiese in Kalkar am Niederrhein. Die Baugrube von Stuttgart 21 läge mitten in einer Großstadt. Vor diesem Risiko und dem daraus erwachsenen Druck die Augen zu verschließen, ist schon beachtlich.
- Der Ministerpräsident lässt sich in seinem Brief vom 14. Januar auf die zweite Ausstiegsmöglichkeit, den Kapazitätsabbau, nicht ein. Die Vierergruppe Sittler, Leidig, Hopfenzitz und Lösch beziehen sich in ihrem Schreiben vom 29. Januar auf ihren Offenen Brief vom 27. Dezember, wo sie „zwei „handfeste und juristisch abgesicherte Möglichkeiten (…) S21 zu stoppen: die Verweise auf den gesprengten Kostendeckel und den Kapazitätsabbau“ genannt hatten. Im neuen Brief an den Ministerpräsidenten stellen sie fest: „In Ihrer Antwort konzentrieren Sie sich auf das erste Thema – und damit zusammenhängend vor allem auf die Volksabstimmung. Sie verweisen dabei am Ende Ihres Briefs darauf, dass sich „zu der (…) aufgeworfenen Kapazitätsfrage (…) das Ministerium für Verkehr und Infrastruktur noch eingehend äußern“.
Mit der Verschiebung der Antwort auf das Ministerium für Verkehr und Infrastruktur verschiebt der Ministerpräsident zugleich eine Möglichkeit, selbst den Stopp des Projektes zu betreiben. Dass er diese Möglichkeit auf einen Minister seines Kabinetts verschiebt und damit nicht ergreift, ist ein beachtlicher Vorgang.
- Im Brief des baden-württembergischen Ministerpräsidenten fällt auf, mit welcher Härte er auf die Führung der Bahn einschlägt. Das ist populär und sicher auch berechtigt; aber aus meiner Sicht ist die harte Kritik an der Bahn auch ein Ablenkungsmanöver davon, dass die anderen Partner, nämlich der Bund, die Landesregierung und die Stadt Stuttgart mit im Boot sitzen und auch Verantwortung tragen. Es sind ja keine Partner eines Projektes, das die Bahn alleine erfunden hat. Deshalb können sie die Ausstiegsentscheidung auch nicht alleine der Bahn überlassen.
Dies sind nur einige der interessanten Punkte in dem neuerlichen Briefwechsel. Wer sich für das Projekt interessiert, sollte beide Dokumente lesen.
Fazit: Warum sich der baden-württembergische Ministerpräsident so verhält und wie seine Argumentation vor allem Möglichkeiten zum Weiterbau sucht, als Möglichkeiten zum Ausstieg zu nutzen, das verstehe ich nicht. Die mildeste Erklärung wäre jene, dass er im Vorfeld des Koalitionsvertrags mit der SPD die Verpflichtung eingegangen ist, die Möglichkeiten zum Ausstieg aus Stuttgart 21 nicht zu nutzen.