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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Mezzogiorno als die zwangsläufige „Perspektive Ost“?
Datum: 10. Januar 2005 um 11:54 Uhr
Rubrik: Ökonomie, Wichtige Wirtschaftsdaten, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Karl Mai – Zu Konsequenzen aus der wissenschaftlichen Politikberatung
1. Zur Problemstellung für Ostdeutschland
1.1. Das gesamtdeutsche Zeitempfinden
Die drohende Gefahr eines weiteren ökonomisch-sozialen Zurückbleibens der ostdeutschen Region im Vergleich zu Westdeutschland wurde im Laufe des Jahres 2004 weitaus stärker öffentlich thematisiert als noch vor wenigen Jahren, letztlich teilweise noch zugespitzt, um entweder das leidige Thema zu „beerdigen“ oder eine neue Mobilisierung der „nationalen Verantwortung“ für die Zukunft der Ostdeutschen zu erreichen.
Man kann schon jetzt absehen: der emotionale wie auch der logisch-wissenschaftlich begründete „Sturm“ in der Öffentlichkeit ist im Kreuzfeuer von erneuten fiskalischen Haushaltsdefiziten auf allen Ebenen und dem föderalen Interessengegensatz West-Ost rasch abgeschwächt. Kritiker der Transfers verlauten: Ostdeutschland soll und darf den Westen nicht etwa mehr, allenfalls weniger als bisher kosten. Außerdem wäre – nach der regierungsoffizieller Auffassung – noch ein „sehr langer Weg“ in den fünf Ost-Bundesländern zurückzulegen, bevor am Ende das Zielniveau West annähernd erreichbar ist, weil auch die westdeutschen Länder weiter vorankommen.
Während manche Stimmen in den Talkshows in verhaltenem Optimismus auf das Anspringen der Konjunktur in Deutschland warten, damit auch der Wachstumsprozess Ost wieder zunehmend in Fahrt kommen kann, haben andere Stimmen längst resigniert und sich darauf berufen, dass ja „alle großen Länder“ ihre jeweiligen Mezzogiorno-Regionen besitzen und folglich die Menschen der ostdeutschen Unterentwicklungsregion sich damit abfinden müssen, wenn sie weiter zurückbleiben sollten. Nichts scheint auch leichter, als sich hinter den Globalisierungseffekten zu verstecken, welche diese Region „niederhalten“. Was ist so schlimm daran, dass wir in Deutschland gemeinsam dieses drohende „Mezzogiorno“ nicht abwenden können? – wird unterschwellig gefragt.
Wie immer in solchen kontroversen Debatten, ist ein Blick auf Fakten und Daten recht nützlich, weil er die Bewertungen zu korrigieren vermag. Wie sieht es eigentlich vergleichsweise aus, dieses süditalienische Mezzogiorno in seiner relativen Unterentwicklung gegenüber den Landesteilen Nord und Mitte des italienschen Wirtschaftsraumes?
1.2. Zum Typ „Mezzogiorno“ Italiens
Süditalien war nach der italienschen Einheitsbildung (1861) ökonomisch-sozial weiter zurückgeblieben und fristete lange ein Schicksal als Agrarregion mit geringem Industriebesatz. Wie aus der nachstehenden Statistik-Tabelle mittels Umrechnung hervorgeht, erreicht Süditalien inzwischen erst knapp 58 % des BIP je Kopf im speziellen Vergleich zum entwickelten „Norden und der Mitte des Landes“ (=100). Diese Relation liegt leicht unter der gegenwärtigen Leistung in Ostdeutschland. Produktivität und Beschäftigungsrate in Süditalien sind dagegen im nationalen Vergleich relativ sogar günstiger als in Ostdeutschland. „Der ostdeutsche Anteilswert an der Industriebeschäftigung von nur 15 % ist übrigens noch kleiner als der entsprechende Wert des italienischen Mezzogiorno, der immerhin 19 % beträgt.“ Diese Angaben haben einen stagnierenden regionalen Hintergrund in Süditalien – eine drohende zukünftige Entwicklung auch für Ostdeutschland?
(Hier ist in folgender Tabelle zu beachten, dass die Angaben für den Süden in Relation zum ganzen Landesdurchschnitt gebildet sind.)
Tabelle 1
Italien | Norden und Mitte | Süden | |
---|---|---|---|
Bruttoinlandsprodukt BIP) pro Kopf | 100,0 | 118,0 | 67,8 |
Produktivität (BIP pro Arbeiter) | 100,0 | 104,9 | 87,2 |
Beschäftigungsrate (Prozentanteil der Erwerbsbevölkerung an der Gesamtbevölkerung; Zahlen vom Januar 2003) | 61,0 | 65,3 | 90,9 |
Export (Anteile in Prozent 2001) | 100,0 | 89,1 | 10,9 |
Arbeitslosenquote | 9,1 | 4,9 | 32,3 |
Quelle: “Aus Politik und Zeitgeschichte”, B 35-36/2004, S. 23
Der Rückstand des Südens in Italien wurde bereits 1998 auf zwanzig Jahre geschätzt und dürfte sich inzwischen vergrößert haben, weil die meisten Sonderentwicklungsprogramme ausgelaufen sind, die zuvor ca. 50 % des verfügbaren Einkommens im Süden garantierten.
Nun verlagert sich der Schwerpunkt wieder auf die im Süden vorhandenen endogenen schwachen Entwicklungspotentiale, die auf einem 98 %-igen Kleinbetriebsanteil mit unter 100 Mitarbeitern basieren. Dort sind ca. 45 % aller Beschäftigten konzentriert. Auf Sizilien und Sardinien z. B. haben 35 % aller Unternehmen nur bis zu 5 Beschäftigte, die Zahl der Ein-Personen-Unternehmen überwiegt. Daher sind in Süditalien die Voraussetzungen für eine Verstärkung des Exportsanteils nicht vorhanden, von größeren innovativen Potenzialen ganz zu schweigen. Mit einem extrem schwachen Exportpotential bleibt die Unterentwicklung des Südens von Italien nicht mehr ausgleichbar.
Die Zentralregierung Italiens hat dieses enttäuschende Ergebnis langjähriger Transfers und Lohnzuschüsse an den Süden offenbar resignierend akzeptiert. Einige Beobachter gelangten zu der desillusionierten Resignation, wonach „Transfers die Struktur der Wirtschaft weg von einem marktorientierten Entwicklungspfad geführt haben.“ Ob diese letztere Begründung hinreichend ist, kann allerdings hier nicht verifiziert werden.
Im historischen Ergebnis besteht in Italien das klassische Mezzogiorno weiter. „Große Armut, Analphabetentum, immer noch stark verwurzelte kriminelle Organisationen, Schattenwirtschaft und Hilflosigkeit prägen weithin das wirtschaftliche und soziale Leben des Mezzogiorno.“ Die Verquickung mit der Maffia ist dort eine Besonderheit, die für einige Regionen Italiens typisch ist.
1.3. Rückblick Ost: Ein wesentlicher historischer Unterschied
Im Unterschied zum italienischen Original des Mezzogiorno hat die jetzige große ostdeutsche Unterentwicklungsregion eine völlig andere Vergangenheit hinsichtlich bereits einmal früher erreichten Industrialisierungsgrades und vorhanden gewesener Produktionspotenziale. Das industrielle Potenzial in diesem mittleren Teil der früheren Deutschen Reiches prägte sich außerordentlich stark in der Zeit der faschistischen Kriegswirtschaft (1936 bis 1944) aus, in der das jetzige Ostdeutschland ein leistungsstarkes Kerngebiet der reichsdeutschen Rüstungsproduktion war. Der Produktionsindex übertraf hier Mitte 1944 ganz bedeutend die regionale Leistungsfähigkeit von 1936, die Brutto-Industrieproduktion wuchs zwischen 1936 und 1944 um 54 %, die Produktivität lag um 27 % über dem Niveau Westdeutschlands.
Nach Kriegsende 1945 erfuhr jedoch die ostdeutsche Region ihre erste zerstörende Deindustrialisierung vieler Branchen durch das sowjetische Demontage- und Reparationsregime. Die bis Mitte 1948 andauernde rigorose Nachkriegs-Demontage der verarbeitenden Kernindustrie (insgesamt mehr als 1370 Betriebe, nach anderen Angaben 2000 bis 2400 Betriebsteile), wichtiger Energieerzeugungskapazitäten und von ca. 13.000 km Gleisen auf dem Streckennetz der Eisenbahn führten zu einem Verlust von etwa ein Drittel der industriellen Kapazitäten von 1944. Mit insgesamt ca. 13 Milliarden Dollar Reparationsleistungen (auf damaliger Preisbasis) „lag die Pro-Kopf-Belastung mit Reparationen für die SBZ/DDR-Einwohner fast viermal so hoch wie die der Einwohner der späteren Bundesrepublik. Das bestimmte selbstverständlich die ökonomischen Startbedingungen der beiden deutschen Staaten maßgeblich mit.“ Und: „Tatsächlich haben die Wiedergutmachungsleistungen an die Sowjetunion, die die SBZ stellvertretend für ganz Deutschland erbrachte, eine herausragende Bedeutung für den Start und die Entwicklung der ostdeutschen Volkswirtschaft gehabt“, resümiert der Historiker Dietrich Staritz.
Dies bedingte in der sowjetischen Besatzungszone ab 1945 eine dramatische, tiefgehende und nachwirkende Verwerfung in der Wirtschaftsstruktur. Sie ließ einerseits nur ältere Anlagen oder Reste der vorherigen modernen und kriegswichtigen Industriebranchen zurück, entzog andrerseits in den Jahren 1946 bis 1953 von 48,8 % auf 12,9 % abfallend, aber jahresdurchschnittlich etwa 22 % des Bruttosozialprodukts dem wirtschaftlichen Kreislauf der SBZ/DDR – ein enormer Aderlass, der dem fortgesetzten Wegfall einer jährlich „normalen“ Brutto-Investitionsrate gleichkommt. Hinzu trat der weitere Verlust an materiellen Ressourcen und Menschen in der Zeit der „offenen Westgrenze“ bis August 1961, die auch nach westlichen Schätzungen ganz erheblich waren. Dies behinderte faktisch den Wiederaufbau zum einstigen Leistungsstand um mindestens fünfzehn Jahre, ganz zu schweigen von den äußerst negativen Auswirkungen auf den ostdeutschen Lebensstandard.
Bekanntlich gelang der früheren DDR erst nach 1961 „hinter der dem eisernen Vorhang“ langsam die Erhöhung eigener wirtschaftlicher Akkumulationskraft und eine schrittweise Restrukturierung der angestrebten erneuerten Industriebasis. Diese einsetzende industrielle Potenzialzunahme erfolgte aus inneren Quellen der stark von chronischen Werkstoff- und Versorgungsmängeln belasteten DDR-Wirtschaft, die nun zunehmend in die Integration des RGW (COMECON) eingebunden und einer Zwangspezialisierung unterworfen wurde.
Zu Ende der DDR-Zeit waren die jährlichen Raten der Brutto- und auch der Netto-Investitionen in der Wirtschaft vergleichsweise sogar höher als die zeitgleichen westdeutschen Raten – ein weitgehend ungewürdigter bzw. ideologisch missachteter Fakt der DDR-Geschichte. Diese Sachlage zeugt kaum von einem maroden Niedergang der DDR-Wirtschaft insgesamt, trotz jener o. a. schwerwiegenden Rückschläge und Verzögerung in der anfänglichen Nachkriegsentwicklung, der weiteren Verluste während der „offenen Grenze“ bis 1961 sowie auch infolge der späteren einseitigen Belastungen innerhalb des RGW (COMECON).
Allerdings musste die technologische Erneuerung der DDR-Produktionskapazitäten lange einseitig zugunsten der Energie- und Braunkohlenerzeugung sowie der Metallurgie und Schwerindustrie verlaufen und litt im „Kalten Krieg“ zusätzlich unter den langjährigen Importbeschränkungen aus den NATO-Staaten („Embargo-Liste“). Der Anteil der Ausrüstungen mit einer Nutzungszeit bis unter 20 Jahren betrug in der DDR-Schlussphase 79 %. Die Ausrüstungen der DDR-Wirtschaft waren bis zuletzt um ca. 10 Prozentpunkte noch höher verschlissen als (im Durchschnitt des internationalen Vergleichs) üblich. Das diesbezügliche Defizit in der Erneuerung der DDR-Anlagen betrug 1989 noch ca. 66 Mrd. Mark der DDR, kaum mehr als das typische Jahresergebnis im Investitionsvolumen von 1985.
Dieser zeitliche Rückstand erscheint nach den Folgen von 8 Jahren der ersten Deindustrialisierung (von 1945 bis zum Ende der Reparationsleistungen August 1953) sowie nach den weiteren hohn Verlusten durch die „offene Westgrenze“ nicht als unerklärbar. Jedenfalls waren die inneren Investitionspotentiale der früheren DDR extrem ausgeschöpft, wenngleich deren Effektivität unter den technologischen Beschränkungen des „Kalten Krieges“ und des RGW zurückblieb. Vor 1989 hätte kein westdeutscher Ökonom gewagt, die DDR mit dem italienischen Mezzogiorno ernsthaft zu vergleichen.
1.4. Vereinigungsdesater Ost
Nach der staatlichen Einigung von 1990 vollzog sich dann in schärfstem Tempo die zweite ostdeutsche Deindustrialisierung. Sie erfolgte im Zuge einer weitgehenden Umstrukturierung und „Auflösung“ der ostdeutschen Industrieproduktion im Zuge der Treuhandverwaltung, bei Verlust großer Anteile ihrer bisherigen äußeren und inneren Absatzmärkte. Die industrielle Produktion sank rapide auf einen Stand von 34,6 % im Jahre 1992 (im Vergleich zu 1989) und hatte im Jahre 1997 erst wieder 45,6 % des vorherigen Standes erreicht. (Das ostdeutsche BIP zu DM-Preisen sank von 1991 gegenüber 1989 auf nur 54,6 % ab.)
Das vorherige industrielle Leistungsvolumen und der Industrieanteil der Wertschöpfung von 1989 wurden in den zurückliegenden fünfzehn Jahren seit dem Ende der DDR noch nicht wieder in der ostdeutschen Region eingestellt, geschweige denn übertroffen. Im Jahr 2003 wurde der Anteil des Verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung mit 16,1 % nur mit 5,9 %-Punkten über dem niedrigen Stand von 1991 ausgewiesen (ohne Berlin, Preisbasis 1995). Dazu der bissige Kommentar von Prof. Sinn: „Es wäre gut, wenn Ostdeutschland seinen Rückstand bei der Industrieproduktion wenigstens auf das Niveau des italienischen Mezzogiorno verringern könnte. Dann wäre Deutschland schon ein gutes Stück weiter.“ Tatsächlich liegt die Industriebeschäftigung in Ostdeutschland noch um 4 %-Punkte unter der von Süditalien.
Derartige Angaben haben manche Kritiker der Vereinigungsökonomie dazu bewogen, deren Scheitern öffentlich zu bezeugen, wobei einerseits von den enttäuschten Erwartungen von 1990 her gesehen geurteilt und andrerseits auch die Periode der stagnierenden Angleichung nach 1997 gleichermaßen gewertet wird. Bereits 2002 hatte Ulrich Busch in einem grundsätzlichen Beitrag u. a. die Vorgeschichte der Mezzogiorno-Debatte in Deutschland rekapituliert und kritisch bemerkt: „Ostdeutschland stabilisiert sich zunehmend als eine unterentwickelte Region im Zentrum Europas, als deutscher Mezzogiorno, eine Situation, die unter den Bedingungen der EU-Osterweiterung in den nächsten Jahren keineswegs entschärft werden wird, sondern eher noch an Brisanz gewinnt.“
Zu Anfang 2003 wurde ein noch immer verbreitetes offizielles Tabu auch durch Prof. Sinn (ifo-München) gebrochen, als er feststellte, „dass man die wirtschaftliche Vereinigung der beiden deutschen Landesteile als gescheitert ansehen kann.“ Dies leitete einen neuen Schub von journalistischen Veröffentlichungen ein, die in Buch- und Artikelform eiligst begründeten, wie belastend die permanenten West-Ost-Transfers für die wirtschaftliche Entwicklung in Westdeutschland und also auch in ganz Deutschland seien. (Eine ausführliche Erörterung des Problems der Transfers West-Ost ist in der Verlautbarung „Intervention“ aus der Memorandum-Gruppe nachzulesen, die im November 2004 veröffentlicht wurde. )
1.5. Ostdeutschland „abgekippt“ und im Dilemma
Die Stagnation der ostdeutschen Region im „Angleichungsprozess“ Ost an West liegt in der BIP-Leistung je Kopf seit sieben Jahren erkennbar vor. Dazu besteht keine strittige öffentliche Debatte, so dass hierfür keine weiteren Daten erbracht werden sollen. Damit konzentriert sich die Kontroverse auf die zukünftige Entwicklung – also auf Sicherheiten oder Chancen, den Angleichungsprozess neu zu beleben und das Ziel der Überwindung des noch zu starken regionalen Rückstandes zu Westdeutschland historisch zu erreichen.
Hier setzte in jüngster Zeit eine erhebliche öffentliche Spaltung der Interessen ein, die sich an der Höhe der Transferleistungen West-Ost kontrovers entzündete und im Streit um die Reform des Föderalsystems zuspitzte, dabei auch in heftigen ostdeutschen Forderungen gipfelte, den Solidarpakt II mit seinem geplanten Transfervolumen West-Ost in den Verfassungsrang zu erheben. Die verständliche Verunsicherung der Ostdeutschen über die politische Labilität der künftigen Förderpolitik rechtfertigt es aus deren Sicht, die grundlegende Zielrichtung der Wirtschaftspolitik für die ostdeutsche Region präzisierend etwa wie folgt (als Vorschlag) neu im Grundgesetz zu verankern:
„Die auf die Angleichung regional stark unterschiedlicher Lebensverhältnisse gerichtete staatliche Finanzausgleichspolitik (Bund und Länder) hat wegen der innerhalb Deutschlands fortbestehenden extremen Unterentwicklungsregion Ostdeutschland nationale Priorität und ist daher bis zum Erreichen zumindest vergleichbarer westdeutscher Länderniveaus zielgerichtet fortzuführen. Dementsprechend sind der vertikale und horizontale Finanzausgleich sowie die gebotenen Sonderzuweisungen des Bundes zu gewährleisten.“ Oder steht (weithin unbeachtet) eine ausreichende Forderung gar bereits im Grundgesetz?
Eine solche politische Forderung ist schon grundsätzlich deswegen sinnvoll, weil der Ost-West-Angleichungsprozess aus historischer Sicht nicht preisgegeben werden könnte, ohne die ostdeutsche Region in einer indifferenten „globalisierten Sichtweise“ als permanente Unterentwicklungszone „abzuschreiben“ und damit aufzugeben. Dies bildete nicht nur eine Verurteilung zur „Armutszone Deutschlands“ für die rasch schrumpfende ostdeutsche Wohnbevölkerung. Damit würde auch die echte frühere DDR-Eigenleistung im industriellen Neuaufbau ihrer letzten 30 Existenzjahre historisch getilgt und der endgültigen Vergessenheit zugewiesen.
Im Gegensatz zu vorstehender Position hat in seinem letzten Jahresgutachten 2004/2005 der Sachverständigenrat (SVR) der Bundesregierung einen gänzlich anderen Maßstab für die zukünftige Entwicklung vorgegeben:
„Die wirtschaftspolitische Aufgabe besteht demnach (weiterhin) darin, die ökonomischen Nachteile der neuen Bundesländer durch die unterschiedliche Entwicklung der beiden Gebietsstände in der Zeit vor der Vereinigung auszugleichen und Bedingungen für eine sich selbst tragende wirtschaftliche Entwicklung zu schaffen. Dagegen sollte die Wirtschaftspolitik nicht danach streben, einheitliche oder auch nur gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland herstellen zu wollen. Dies ist auch kein Verfassungsgebot.“ (Ziff. 614, Hervorhebung von mir – K.M.) Das Grundgesetz fordert zwar ausdrücklich von der föderalen Finanzausgleichspolitik, „dass die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet gewahrt wird“ (GG Artikel 106, Abs. 3, Pkt. 2), aber dies kann der SVR unwidersprochen ignorieren.
Ferner ist schon bemerkenswert, dass es angeblich nur um einen Ausgleich für „die unterschiedliche Entwicklung der beiden Gebietsstände in der Zeit vor der Vereinigung“ geht, was nicht nur einem auffälligen Wechsel des Vergleichsmaßstabes entspricht, weil die tiefe Deindustrialierung durch die Treuhand-Ära ignoriert wird, sondern auch unterschiebt, dass das früher erreichte DDR-Niveau von 1989 immer noch als aktuelle Ursache für den Ost-West-Rückstand zu gelten habe. Eine fatale ahistorische Sichtweise, die eher als ein Lapsus gelten könnte, wenn nicht nachfolgen würde: „Dagegen sollte die Wirtschaftspolitik nicht danach streben, einheitliche oder auch nur gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland herstellen zu wollen. Dies ist auch kein Verfassungsgebot.“(!)
Damit ist eigentlich an wenig auffallender Stelle im aktuellen SVR-Jahresgutachten definitiv der wissenschaftsoffizielle Berater-Abgesang für einen weiteren Ost-West-Angleichungsprozess als Politikempfehlung an die Bundesregierung ausgesprochen. Willkürlich argumentiert der SVR gegen die oben zitierte wörtliche Grundgesetzbestimmung im Artikel 106, Abs. 3, Pkt.2 nach seinem Belieben.
Die DB-Research-Studie vom 10. 11.2004 flankiert diese vorstehende Feststellung mit den Worten: „Das langfristige Wachstumspotenzial der östlichen Bundesländer liegt aufgrund demografischer Faktoren spürbar unter demjenigen der westlichen Bundesländer.“ Dies schließt einen künftig weiteren Angleichungsprozess in der BIP-Leistung je Kopf natürlich aus. Und: „ Der Lebensstandard wird zwar weiterhin zunehmen, aber der Abstand zum Westen dürfte anwachsen.“ (S. 1)
Die drohende Perspektive des weiteren Auseinanderklaffens der Ost-West-Lebensverhältnisse, die vom Papier der Gutachtergruppe um v. Dohnanyi (April 2004) aufgegriffen wurde und zur dramatischen öffentlichen Warnung diente, lässt den SVR offenbar kalt. Unbekümmert zitiert der SVR in seinem letzten Jahresgutachten dann auch den präzisen Entscheid des Bundesverfassungsgerichts vom 24.10.2002, wonach ein Eingreifen der Bundesregierung geboten ist, „wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern der Bundesrepublik in erheblicher, das bundesdeutsche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinander entwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet.“ (S. 637) Voraussagen zu dieser konkreten Aussicht finden sich indessen nicht nur in Form alternativer Verlautbarungen aus der Memorandum-Gruppe, sondern auch in den letzten Experten-Studien aus der „Mainstream“-Wirtschaftsforschung.
2. Weitere Sichtweisen auf die ostdeutschen Perspektiven
Bis zum Jahresende 2004 sind einige wichtige Studien erschienen, die eine sehr skeptische bis negative Voraussage für die Zukunft mit zurückbleibender ostdeutscher Leistungsfähigkeit signalisieren. Bereits Prof. Sinn hatte (2003) zu den ostdeutschen Indikatoren der Angleichung Ost an West erklärt: „Das sind keine Werte, die irgendwelche Hoffnungen auf einen Aufholprozess zulassen.“
Die Öffentlichkeit wurde am Anfang April 2004 durch das dramatisch-kritische Papier der von-Dohnanyi-Gruppe überrascht, das schlagartig die ostdeutsche Misere erhellte und eine Wende in der Politik gegenüber der größten innerdeutschen Unterentwicklungsregion einforderte. Dann folgten mehrere Verlautbarungen bzw. Studien aus Expertenkreisen:
Die unter a) und e) genannten Stellungnahmen aus der alternativen Sichtweise der Memorandum-Gruppe (Bremen) stützen jene Intentionen, die sich mit der Perspektive eines Mezzogiorno aus politischer Sicht nicht abfinden wollen. Die anderen Dokumente/Studien dagegen nehmen sich hierin stark zurück oder akzeptieren das Erlöschen des „Ost-West- Angleichungsprozesses“ und damit letztendlich eine „Mezzogiorno“-Perspektive. Letztere Studien werden daher mit ihren markantesten Aussagen original zitiert, um einen unverfälschten Eindruck beim Leser zu erwecken und einen konzentrierten Überblick zu ermöglichen. (Siehe: 4. Anhang)
Die implizite Preisgabe einer konsequenten Politik zur Wiederbelebung des ostdeutschen effektiven Angleichungsprozesses bei hinreichender Zielstellung seitens des tonangebenden Sachverständigenrats (SVR) im Jahresgutachten 2004/2005 hatte folgende die Konsequenz: die hierfür notwendigen ökonomischen Anstrengungen brauchten vom SVR nicht näher quantifiziert abgeschätzt und im Zeitverlauf projiziert werden. Die betrifft vor allem die Projektion der erforderlichen zusätzlichen Produktionspotentiale und hierfür zusätzlich aufzubietende Investitionsvolumina (aus exogenen und endogenen Quellen) in den Export- und wichtigen Wachstumsbranchen der Industrie sowie die zugehörige induzierte Beschäftigungsentwicklung im Industriebereich.
Das noch bestehendes Defizit zwischen Endverbrauch und Eigenerzeugung in den neuen Bundesländern von ca. 115 Mrd. Euro im Jahr, das gegenwärtig durch Netto-Transfers und private Netto-Kapitalzuflüssen abgedeckt wird, würde nur durch bedeutende zusätzliche und höhere private Kapitalinvestitionen in die ostdeutsche Wertschöpfung behoben werden können. Bei einem Kapitalkoeffizienten von durchschnittlich 3,0 im Produzierenden Gewerbe (ohne Bau) müssten Kapitalinvestitionen von ca. 345 Mrd. Euro zusätzlich zur Schließung dieser innerdeutschen „Produktionslücke“ fließen – auf zehn Jahre verteilt also jährlich ca. 35 Mrd. Euro. Entsprechend einem durchschnittlichen Kapitaleinsatzkoeffizienten je Beschäftigten wäre dann auch ein zugehöriger industrieller Beschäftigungszuwachs gegeben.
Dies abzusichern wäre u. a. schon möglich, wenn bis zu einem Viertel des deutschen jährlichen privaten Netto-Geldvermögenszuwachses und auch ein Anteil der Netto-Kapitalausfuhr ins Ausland alternativ in das Produktionspotential nach Ostdeutschland „umgelenkt“ werden könnte. Die Netto-Geldvermögensbildung der Privaten Haushalte betrug 2003 125,5 Milliarden Euro und die Netto-Kapitalausfuhr ins Ausland betrug 70 Milliarden Euro (nach Angaben der Bundesbank).Die nationalen Potenzen für den Aufholprozess Ost zu West sind keineswegs derzeit erschöpft, wenn man den privaten Finanzierungsquellen neue echte Marktchancen eröffnen könnte. Damit wäre mehr als eine Verdreifachung des gegenwärtigen viel zu geringen gesamten privaten Investitionsvolumens im Produzierenden Gewerbe Ost zu erreichen.
3. Einige Folgerungen für die ostdeutschen Perspektiven
Wir könnten nun die eingangs gestellte thematische Fragestellung vorzugsweise aus der dominierenden Sichtweise der zitierten „Mainstream“-Studien heraus beantworten:
Die Hauptfrage nach der Wiederbelebung eines Aufholprozesses Ost-West ist inzwischen realistischer Weise als erledigt zu betrachten, nachdem auch der SVR in seiner sehr ausführlichen Analyse hierzu keine Aussagen getroffen hat, die – verbindlich oder hinreichend begründet – diese Hoffnung nähren könnten. Die umfangreiche Begutachtung durch die DB Research birgt dieselbe Konsequenz, vor allem gestützt auf den ostdeutschen demografischen Prozess.
Die Studie des FES-Manager-Kreises formuliert zwar die radikale Erhöhung der privaten Direktinvestitionen im ostdeutschen Exportsektor als Voraussetzung für einen weiteren Schub im Aufholprozess – ignoriert aber u. a. den Widerspruch zu den bestehenden fiskalischen Rahmenbedingungen, für den sie keine optimale Auflösung anbietet.
Alle vorgenannten Studien sind sich darin einig, dass die derzeitigen wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen Ost insgesamt keine fortschreitende Ost-West-Angleichung mehr befördern, sondern weiterhin das Gegenteil zulassen: die Abkopplung zumindest großer Teile der ostdeutschen Unterentwicklungsgebiete hin in Richtung Typ „Mezzogiorno.“
Damit wäre aus der aktuellen Berater-Sichtweise die aufgeworfene Fragestellung gemäß der Überschrift dieses Beitrages zu bejahen. Daran ändern auch nichts die fast beschwörenden Vorschläge und Ansätze von anderer, auch kompetenter Seite, diese fatale Entwicklung zu bremsen oder zu vermeiden. Insofern sind viele der konkreten Vorschläge auch in den vorgenannten Studien zu Einzelmaßnahmen zwar nicht wirkungslos, jedoch letztlich qualitativ unzureichend angesichts der schon absehbaren unterschiedlichen Entwicklungsdynamik und -pfade im Verhältnis der zwei ökonomisch und sozial auseinander laufenden deutschen Landesteile innerhalb der EU.
Abschließend und im Gegensatz hierzu die Position aus den o. a. Verlautbarungen aus der „Memorandum-Gruppe“ (Bremen) hinsichtlich der „Perspektiven Ost“:
„Es sind bisher faktisch keine wirtschaftspolitischen Ansätze erkennbar, dass künftig eine Rückkehr zur Beschleunigung der Wachstumsdynamik der ostdeutschen Unterentwicklungsregion im Rahmen der gegenwärtigen neoliberalen Politik erfolgen wird. Insofern ist derzeit für Ostdeutschland eine nur unzureichende Höhe der Wachstumsrate (im Vergleich zu Westdeutschland) künftig vorprogrammiert bzw. wahrscheinlich, die eine zügige Niveauangleichung der BIP-Leistung je Kopf weiterhin behindert. Diese Analyse erschließt die Sicht auf einen notwendigen Strategiewechsel, um den Angleichungsprozess Ost an West, gestützt auf die großen Potentiale in ganz Deutschland, wieder in Gang zu bringen.“
Nach Diskussion der objektiven Entwicklungspfade für Ostdeutschland kommt die letzte Verlautbarung „Intervention“ aus der Memorandum-Gruppe zu dem Ergebnis:
„Die heftige Ost-Debatte des Jahres 2004 hat die wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen des Dilemmas der deutschen Unterentwicklungsregion schlagartig erhellt. Mit “weiter so!” gerät die Politik ins historische Hintertreffen nach der Vereinigung. Der Einstieg in eine neue Strategie zur Wiederbelebung des Aufholprozesses ist zwar politisch wenig wahrscheinlich und unter den gegenwärtigen Zwängen der „Haushaltskonsolidierung“ verstellt, aber als anmahnende alternative Forderung unverzichtbar.“
Ein Wechsel in der gesamtdeutschen Wirtschaftspolitik, der auch die ostdeutschen fiskalischen Vorbedingungen für einen neuen industriellen Wachstumsimpuls öffnet, ist daher dringend geboten. Das Grundanliegen der Beratergruppe um v. Dohnanyi harrt weiter seiner adäquaten Verwirklichung: Forcierung des Angleichungsprozesses Ost-West als nationale Hauptaufgabe nach der Vereinigung – wofür auch wiederholt Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt an alle Deutschen mit großer Eindringlichkeit appellierte. Wird diese historische Aufgabe nicht gesamtdeutsch geschultert, dann gerät in der Tat das ostdeutsche Unterentwicklungsgebiet endgültig zum nationalen „Mezzogiorno“ mit weitreichenden, dramatischen Konsequenzen für die deutsche Volkswirtschaft und für viele Bürger im seit 1990 „vereinigten Vaterland“.
Diejenigen, denen auch die letzten ostdeutschen Erwartungen an die Einheit längst ein Dorn im Auge sind, werden mit Freuden die Parole aufnehmen, die der Journalist und Buchautor Wolfgang Herles wie folgt formuliert hat: „Die ‚Vollendung der Einheit’ ist ein Hirngespinst, noch dazu ein gefährliches.“ Das Nicht-Vollenden der Einheit in absehbarer Frist dagegen muss infolge der weitreichenden und historisch dramatischen Konsequenzen aus nationaler Sichtweise als unverzeihlicher Fehler der deutschen Politik bezeichnet werden.
Nachstehend folgt ein ergänzender Überblick zu den wichtigsten Aussagen der hier angeführten Expertenstudien aus der Wirtschaftsforschung zu wirtschaftspolitischen Strategien und Maßnahmen.
4. Anhang: Textstellen aus den Studien der Wirtschaftsforschung
4.1. Zur Studie des FES-Managerkreises vom Mai 2004
Die vorgelegte FES-Experten-Studie reagierte auf das dramatisch-kritische Papier der Beratergruppe um v. Dohnanyi (vom Anfang April 2004) und bezog u.a. zur erforderlichen Wachstumsstrategie eine klare Position. Hier einige wichtige Kernaussagen:
Leitsatz. „Wenn die westdeutsche Wirtschaft zu schwach wächst, kann Ostdeutschland nicht aufholen und wenn die ostdeutsche Wirtschaft nicht aufholt (und damit die Transferzahlungen verringert werden), kann die westdeutsche Wirtschaft nicht so gut wachsen. Verteilungsdiskussionen bringen keine Lösungen. Es müssen Lösungen für Wachstum in West- und Ostdeutschland gefunden werden, Verteilungskontroversen führen nicht weiter.“ (S. 5)
„Ostdeutschland braucht einen Aufholprozess in irischen Dimensionen, sollen die bestehenden Disparitäten zum Westen überwunden und ein Beitrag zu mehr Wachstum und Beschäftigung geleistet werden.“ (S. 1)
„Der wirtschaftliche Aufholprozess in Ostdeutschland wird von allen Seiten gefordert. Es wird jedoch sehr oft unterschätzt, welche Wachstumsdynamik dafür entfesselt werden muss. Ostdeutschland müsste, um im Jahr 2020 über 90 % der westdeutschen Wirtschaftsleistung pro Kopf zu erreichen, ab dem nächsten Jahr jedes Jahr 2,5 %-Punkte schneller wachsen als Westdeutschland (um ganz aufzuholen sogar über 3 %). Für die nächsten 16 Jahre würde das Wachstumsraten von durchschnittlich 4 % bis 5 % pro Kopf bedeuten. Für einen in diesen Dimensionen möglichen Aufholprozess wäre ein Wirtschaftswunder, wie es Irland in den 80er und 90er Jahren erreicht hat, nötig.“ (S. 5)
„Um im Jahr 2020 etwa 90 % des wahrscheinlichen westdeutschen Niveaus des Jahres 2020 zu erreichen, müssen 300.000 zusätzliche Arbeitsplätze in der Exportbasis entstehen. Nur durch eine drastische Steigerung der Direktinvestitionen kann das gelingen. Das verarbeitende Gewerbe ist für einen Expansionsprozess gut gerüstet. Das niedrige Niveau begrenzt jedoch die quantitativen Wirkungen, so dass der interne Wachstumsprozess mehr als bisher durch erhebliche Direktinvestitionen verstärkt werden muss.“ (S. 1-2)
„Die Wirtschaftsförderung in Ostdeutschland steht unter Zeitdruck. Nach 2010 wird sich diesjährige Zahl der Berufsanfänger in etwa halbieren. Aus der demografischen Entwicklung folgt fast zwingend, dass die Chancen Ostdeutschlands auf größere Neuansiedlungen von Unternehmen oder auch auf größere Expansionsentscheidungen im Zeitablauf zurückgehen werden. Die Anwerbung von Direktinvestitionen muss deshalb absolute Priorität erhalten, da es ein ausreichendes endogenes Potential, um die Arbeitsplatzlücke zu schließen, nicht gibt. Ostdeutschland muss seine Standortbedingungen verbessern und seine bereits vorhandenen Standortvorteile viel härter vermarkten.“ (S. 16)
„Der demografische Wandel mit einer absinkenden Zahl von Erwerbstätigen sorgt für eine deutliches Absinken der Einnahmen (um 20-40 %), während verschiedene Ausgabenblöcke wie z.B. Pflege und Gesundheit strukturell steigen werden (um 20-30 %). Bei rückläufiger Einwohnerzahl drohen auch die Verwaltungsleistungen deutlich teurer zu werden. Die erforderlichen Einsparungen können nicht mehr nach den bisherigen Methoden ereicht werden. Ein grundlegender Umbau und eine durchgehende Vereinfachung der Verwaltung ist notwendig.“ (S. 15)
Nachstehend einige wichtige Vorschläge für Einzelmaßnahmen:
Ausbau der Entwicklungsagentur:
So hat die vergleichbare Organisation von Tschechien 200 Mitarbeiter, während der IIC nur über 31 Mitarbeiter verfügt. Die Bundesregierung sollte die bestehenden Strukturen zusammen mit den ostdeutschen Ländern stärken, um den Standort Ostdeutschland wirkungsvoller vermarkten zu können.
Konzentration der Förderung auf Exportbasis und Wachstumspole:
Für eine Optimierung der künftigen Förderstrukturen,bezogen auf eine langfristige Entwicklungsstrategie, sind detaillierte Wirkungsanalysen erforderlich. Wir erwarten, dass bei der Förderung von Hightechbereichen die immer wieder angemahnte Clusterbildung ein wichtiger Gesichtspunkt sein wird, da nur wenige ostdeutsche Stadtregionen das Potential für den Aufbau von Beschäftigung in diesen Bereichen haben. Diese regionale Ungleichbehandlung erzeugt natürlich Widerstände, da unter dem Schlagwort „Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen“ Ausgleichsmaßnahmen gefordert werden.
Bessere Vermarktung der hohen Arbeitsmotivation der Ostdeutschen:
Die Anwerbung von Direktinvestitionen darf sich daher nicht nur auf den Hochtechnologiebereich beschränken. Ostdeutschland kann auch noch weit stärker Backoffice-Funktionen übernehmen, da nur hier qualifizierte Erwerbsfähige mit relativ geringen Lohnansprüchen und guten Deutschkenntnissen verfügbar sind. Die Lohnkostenvorteile dürfen nicht mehr verschämt versteckt, sondern müssen offensiv vermarktet werden.
Lokale Wettbewerbsvorteile ausbauen:
Standortbedingungen werden langfristig von der lokalen Politik auch über die Qualität von Bildungseinrichtungen und Wohnangeboten mitbestimmt. Vorteile in der wirtschaftlichen Entwicklung, die durch lokale Politik hervorgerufen werden, verstärken sich im Zeitablauf.“ (S. 16-18)
Zu den vorstehenden Einzelmaßnahmen ist überwiegend Konsens zu erwarten.
4.2. Zur Studie von „Deutsche Bank Research“ vom 10.November 2004
Aus dieser umfangreichen und inhaltlich weit gespannten Studie soll nun eine begrenzte Auswahl von Kernsätzen zitiert werden, die sich auf die Wachstumschancen Ost direkt beziehen: Wichtiger Leitsatz der Studie:
Die Orientierung an Westdeutschland wird angesichts der EU-Osterweiterung immer weniger relevant. (S. 1)
Eine Angleichung des Lebensstandards für den Durchschnitt der ostdeutschen Länder ist angesichts der geringen Möglichkeiten der Politik, dem demografischen Trend gegenzusteuern, nicht zu erreichen. (S.4)
Da die Bevölkerung in den ostdeutschen Ländern schneller altern und stärker schrumpfen wird als in Westdeutschland, ist mit Blick auf die davon ausgehenden negativen Effekte auf das Wachstumspotenzial eines klar: Die Angleichung, die bisher nicht erreicht wurde, kann inden kommenden Dekaden schwerlich nachgeholt werden. Im Gegenteil: der Abstandzwischen West und Ost wird sich demografisch bedingt sogar noch vergrößern. (S. 36)
Setzt sich der seit Mitte der 90er Jahre zu beobachtende Rückgang der Investitionen fort und/oder fällt der Beitrag des technischen Fortschritts angesichts alternder Belegschaften geringer als bisher aus, würde die Wirtschaft Ostdeutschland kontinuierlich schrumpfen. (S. 42)
Überdies ist die Produktivität des ostdeutschen Kapitalstocks, die Mitte der 90er Jahre noch um bis zu 20% über der westdeutschen lag, drastisch gesunken und lag 2001 nur noch bei 90% des Westniveaus. Dies bedeutet, dass heute in Ostdeutschland pro eingesetzte Kapitaleinheit gut ein Viertel weniger produziert werden kann als 1995. … Sollte sich die Entwicklung fortsetzen, sinkt das ostdeutsche Wachstumspotenzial auch ohne demografische Belastung. (S. 37)
Die divergierenden Entwicklungen des Wachstumspotenzials führen in unserem Basisszenarium, das konstante Erwerbspersonenquoten für die Bundesländer unterstellt, dazu, dass das BIP pro Kopf in Ostdeutschland bis 2020 von derzeit 64,5% auf 60% des Westniveaus sinkt (unter der Annahme gleicher Wachstumsbeiträge von Kapital und technischem Fortschritt in Ost und West). …“ „ Damit würde Ostdeutschland bis 2050 wieder auf das Niveau von Mitte der 90er Jahre zurückfallen. (S. 44)
Rückläufige Staatsausgaben und größere regionale Unterschiede – auch bei den öffentlichen Finanzen – sind für die Zukunft wahrscheinlich. Die Anpassungserfordernisse werden für die ostdeutschen Bundesländer besonders groß sein. (S. 51)
Dies gelte infolge der erforderlichen Reform des föderalen Finanzausgleichs. Die Studie der DB Research vermittelt insgesamt einen nüchternen pessimistischen Ausblick für die Zukunft der neuen Bundesländer, die sich damit auf dem Niveau eines permanenten Rückstandes („Mezzogiorno-Ost“) bewegt.
Daran können auch die umfangreichen wirtschaftspolitischen Empfehlungen nichts ändern, die der Bundesregierung gegeben wurden. Kritisch sind vor allem folgende Auffassungen zu bewerten bzw. zu diskutieren:
Die massiv betriebene Subventionierung von Investitionen sollte zügig abgebaut werden. Dies sollte schrittweise bis 2010 erledigt sein. Der innerdeutsche Subventionswettlauf ist kontraproduktiv. Gefordert ist u. a. eine Überprüfung und Reform des gesamten Förderinstrumentariums, einschließlich der EU-Regionalhilfen. Die Gemeinschaftsaufgabe „Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ sollte aufgelöst und die Investitionszulage mittelfristig abgeschafft werden.“ (S. 6) „Eine explizite, gar ausschließliche Förderung von so genannten „Clustern“ wäre jedoch nicht zielführend. Dafür fehlen häufig die wirtschaftlichen Voraussetzungen, sieht man insgesamt drei bis vier Branchen in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt ab. (S. 6)
Statt des Wettbewerbs über die Bemessungsgrundlage in der Steuerpolitik und die Ansiedlungssubventionen sollten über die Gewerbesteuer hinaus auch Zu- und Abschläge in der Einkommen- und Körperschaftsteuer ermöglicht werden. Größere Freiheiten im Wirtschafts- und Arbeitsrecht wären ebenfalls notwendig, um stärkere Anreize für die private Investitionstätigkeit setzen zu können. (S. 5)
Angesichts der erheblichen Fortschritte in der Versorgung der östlichen Bundesländer mit öffentlicher wirtschaftsnaher Infrastruktur sind lediglich Investitionen zur Schließung fortbestehender Lücken notwendig. (S. 7)
Mit dieser sehr knappen Wiedergabe der Leitgedanken und Vorschhläge der DB-Research-Studie kommen wir zum nächsten Dokument.
4.3. Zum SVR-Jahresgutachten 2004/2005
Mit außergewöhnlicher Ausführlichkeit hat der SVR die ostdeutsche Lage und die weiteren Perspektiven erörtert, nachdem die vorangegangene öffentliche Debatte zu Ostdeutschland eine Fülle von Aspekten und Tendenzen in emotionaler Weise aufgewühlt hatte. Hier nun weitere Kernsätze aus dem neuen Jahresgutachten:
Ein wirkliches Patentrezept für den Aufbau Ost gibt es nicht. (S. 637) Ein Königsweg für den Aufbau Ost ist nicht in Sicht. (S. 631)
Die Lage auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt ist nach wie vor trist, eine durchgreifende Besserung nicht in Sicht.“ (S. 671) Es „gebietet der internationale Standortwettbewerb – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Beitritts zehn neuer Länder zur Europäischen Union im Mai dieses Jahres – die Lohnstückkostenentwicklung rückläufig zu gestalten, das heißt, der durch den Produktivitätsfortschritt gekennzeichnete Verteilungsspielraum darf nicht ausgeschöpft werden. (S. 674)
Der Aufbau Ost ist nicht gescheitert; gleichwohl sind Kurskorrekturen erforderlich. (S. 632)
Die grundsätzliche Frage, ob eine spezifische Wachstums- und Förderpolitik für Ostdeutschland notwendig ist, wird man angesichts der wirtschaftlichen Besonderheiten der ostdeutschen Regionen prinzipiell bejahen müssen. (Ziffer 43) Die gegenwärtige Förderpolitik weist beträchtliche Mängel auf. (S. 631)
Bis zum Jahr 2030 wird die Bevölkerung in den ostdeutschen Flächenländern um fast 20 vH zurückgehen. Dies hat weit reichende Konsequenzen für die öffentlichen Haushalte, die bei heutigen Ausgaben- und Infrastrukturentscheidungen zu berücksichtigen sind. […] eine verbesserte Einnahmesituation bei den Ländersteuern würde außerdem durch verminderte Ausgleichszahlungen über den horizontalen Länderfinanzausgleich „bestraft“. (S. 654)
Die speziell und ausschließlich für Ostdeutschland gewährten Unterstützungsleistungen, also vor allem die Solidarpakt-Mittel und besondere Programme zur Wirtschaftsförderung in den neuen Bundesländern, belaufen sich auf rund 15 Mrd. Euro jährlich. Das sind etwa 13 vH der jährlichen Bruttotransfers. Sie stellen den Ansatzpunkt für eine Neuausrichtung der Förderpolitik in Ostdeutschland dar. (S. 637/638) Für den Aufbau Ost sind über den Solidarpakt II hinaus keine zusätzlichen Mittel erforderlich; es kommt vielmehr darauf an, die zugesagten Mittel auch vernünftig zu nutzen. (S. 632) Eine Aufschnürung des Solidarpakts II stellt auch keine besonders realistische Politikoption dar. (S. 656) Aus den Fortschrittsberichten für das Jahr 2002 wurde deutlich, dass die ostdeutschen Flächenländer bis auf Sachsen die Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen nur zu geringen Teilen für die vorgesehenen Zwecke und überwiegend zur Deckung laufender Ausgaben eingesetzt haben. Auch die Fortschrittsberichte der neuen Bundesländer für das Jahr 2003 weisen erneut hohe Fehlverwendungsquoten aus. (S. 651)
Zusammenfassend sollte klar sein, dass die ostdeutschen Länder in Zukunft mit erheblich geringeren Einnahmen rechnen müssen Zu befürchten ist, das dies zu Forderungen nach einem Solidarpakt III führen wird. Ein Solidarpakt III sollte unmissverständlich ausgeschlossen werden. Die ostdeutschen Länder müssen ihre Haushalte über die Ausgabenseite konsolidieren. (S. 671)
Nachstehend eine knappe Auswahl von vorgeschlagenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die aus der geführten Diskussion entspringen:
„Sonderwirtschaftszonen in Ostdeutschland stellen einen weiteren Vorschlag für eine Kurskorrektur beim Aufbau Ost dar. Davon ist wenig zu halten. Sonderwirtschaftszonen dürften schon EG-rechtlich nur eingeschränkt zulässig sein. Wer mehr regionale Differenzierung will, sollte auf einen konsequenten Wettbewerbsföderalismus setzen, nicht auf Sonderwirtschaftszonen.“ (S 637)
„Ergänzend findet sich der Vorschlag einer cluster-orientierten Förderpolitik. Die Bundesregierung hat in ihrem aktuellen Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit 2004 eine solche Umorientierung der Förder- und Strukturpolitik angekündigt. Vor überzogenen Erwartungen an eine Clusterförderung muss jedoch gewarnt werden. Sie kann Teil einer Strategie für den Aufbau Ost sein. Sie in den Mittelpunkt einer Neuausrichtung der Förderpolitik stellen zu wollen, deutet aber eher auf eine gewisse Ratlosigkeit als auf ein überzeugendes Gesamtkonzept hin.“ (S. 637)
„Neben dem Ausgleich der unterproportionalen Finanzkraft und dem infrastrukturellen Nachholbedarf sollten die Solidarpakt-II-Mittel auch für gewerbliche Investitionsförderung sowie zur Schuldentilgung eingesetzt werden können.“ (S. 646)
„Investitionshilfen im Rahmen der GA können als sachkapital- oder lohnbezogene Zuschüsse vergeben werden. Förderfähig sind dabei die Lohnkosten für im Zusammenhang mit Erstinvestitionen eingestellte Personen während eines Zeitraums von zwei Jahren. Dabei muss der überwiegende Teil der geförderten Arbeitsplätze eine überdurchschnittliche Qualifikationsanforderung oder eine besonders hohe Wertschöpfung aufweisen oder in einem Bereich mit besonders hohem Innovationspotential anfallen.“ (S. 647)
„Insofern wäre die Folgerung voreilig, die Infrastrukturförderung stark einzuschränken und die Mittel auf die Förderung der gewerblichen Investitionen zu konzentrieren. Es handelt sich vielmehr um komplementäre Förderwege. Die Fördermittel für den Aufbau Ost sollten also sowohl für die Schließung einer verbleibenden Infrastrukturlücke als auch für die gewerbliche Investitionsförderung eingesetzt werden. Welche Investitionen in welchem Umfang gefördert werden, kann am besten vor Ort in den ostdeutschen Kommunen und Ländern entschieden werden.“ (S. 650)
„Der Sachverständigenrat hat sich wiederholt für ein Auslaufen des Investitionszulagengesetzes ausgesprochen (zuletzt JG 2002 Ziffer 388). Problematisch ist insbesondere, dass auf diese Zulage ein Rechtsanspruch besteht und vergleichsweise hohe Mitnahmeeffekte ausgelöst werden. Sinnvoll wäre demgegenüber eine einzelfallbezogene und regionalpolitischen Zielen entsprechende Investitionsförderung.“ (S. 657)
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