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Titel: Neoliberaler Dogmatismus und die historische Wahrheit: Herbert Ehrenberg widerlegt den populären Trug, Konjunkturprogramme seien „Strohfeuer“
Datum: 6. Januar 2005 um 11:52 Uhr
Rubrik: Arbeitslosigkeit, Steuern und Abgaben, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Albrecht Müller
In einem wirtschaftshistorischen Abriss unter dem Titel „Anstoß zum Wachstum“ widerlegt Herbert Ehrenberg, Bundesarbeitsminister von 1976 – 1982, in den „Blättern für deutsche und internationale Politik, 1`05“ die ständig wiederholte Mär neoliberaler Dogmatiker und ihrer Lautsprecher in den Wirtschaftsredaktionen, dass Konjunkturprogramme nur rasch abfackelnde „Strohfeuer“ seien und keynesianisches Instrumentarium nichts bewirken könne.
Dass der in Deutschland herrschende ökonomische Dogmatismus, zwar stets vom Wettbewerb redet, aber jeglichen Wettbewerb verhindert, wenn es um sein eigenes Dogma geht, kann man gerade dieser Tage wieder einmal am Streit im Sachverständigenrat zwischen der dort vertretenen Mehrheit der Anhänger einer angebotsorientierten Wirtschaftstheorie und dem stärker auf die Wirkung der Nachfrage achtenden Mitglied Peter Bofinger erkennen. Dass die neoliberale Rechtgläubigkeit ihren Unfehlbarkeitsanspruch gegen dagegen stehende profane Wahrheiten mit Zehen und Klauen verteidigt, kann man daran erkennen, dass sie, um bloß keinen Irrtum eingestehen zu müssen, historische Tatsachen leugnet.
Deshalb ist es ganz interessant, wenn ein Zeitzeuge, wie der frühere Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Herbert Ehrenberg, die Fakten noch einmal auffächert:
Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz vom 8. Juni 1967 sei zwar noch immer in Kraft, seit 1980 sei es aber (mit Ausnahme der Jahre 1990/91) nicht mehr angewandt worden. Das Gesetz schreibe vor, dass Bund und Länder bei ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen „gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichen Gleichgewicht bei stetigem und angemessenen Wachstum beitragen“ sollen.
Die in diesem Gesetz gebotene antizyklische Haushaltspolitik und ein antizyklischer Haushaltsvollzug hätten bei der Überwindung der hausgemachten Krise 1966/67 und zur Beschäftigungsverbesserung nach dem Konjunktureinbruch durch die erste Ölpreiskrise fast lehrbuchmäßig gewirkt.
Ehrenberg erinnert daran, dass nach zwei Konjunktur- und Strukturprogrammen in den Jahren 1967 bis 1970 die Zahl der Beschäftigten von 21,1 auf 22,2 Millionen angestiegen, die Zahl der Arbeitslosen von 459.000 auf 149.000 zurückgegangen und das reale Wachstum des Bruttoinlandprodukts von minus 0,3 auf plus 5,1 im Jahre 1970 angestiegen ist. (Werte von denen man heute nur träumen kann.)
Die Ölpreiskrise von 1973/74 führte 1975 zu einem Wachstums- und Beschäftigungseinbruch. Das BIP ging um 1,4% zurück und die Arbeitslosenzahl stieg auf über eine Million. Ein 16-Milliarden-Zukunftsprogramm und eine Reihe von anderen Maßnahmen im Rahmen einer antizyklischen Haushaltspolitik führten bis 1979 zu einem Anstieg der Beschäftigtenzahl um eine Million auf 23,5 Millionen und zu einem Rückgang der Zahl der Arbeitslosen auf 876.000.
Man könnte Ehrenberg entgegenhalten, dass mit diesen beiden Korrelationen zwischen aktiver Konjunkturpolitik und Wachstum und Beschäftigung noch kein kausaler Beweis für die Richtigkeit einer wirtschaftspolitischen Konzeption erbracht sei. Das keynesianische Instrumentarium kann jedoch zumindest eine deutliche Plausibilität und eine hohe Signifikanz für seine Effektivität beanspruchen. Die seither politisch eingesetzten monetaristischen und angebotsorientierten Konzepte sind jedoch gemessen an ihren Erfolgsversprechen nahezu auf ganzer Linie gescheitert.
Auch das hat Ehrenberg minutiös mit Zahlen rekapituliert: Die Senkung der Körperschaftssteuer von 50 auf 45 und der Spitzensteuersätze für gewerbliche Einkommen von 53 auf 47 Prozent im Jahre 1994, das gleichzeitig in Kraft getretene Sparpaket mit Kürzungen öffentlicher Leistungen in Höhe von 21 Milliarden DM und die Wiederholung dieser angebotsorientierten Maßnahmekombinationen durch das „Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung“ bis zur Streichung der Vermögenssteuer 1997 hätten sich als „Flop“ erwiesen. Von 1993 bis 1997 gab es einen Rückgang der Beschäftigten um 400.000 und einen Anstieg der registrierten Arbeitslosen von 3,4 auf 4,4 Millionen Menschen (also auf etwa heutiges Niveau).
Ehrenberg belegt, dass selbst der zaghafte und kurzfristige Versuch der neuen rot-grünen Regierung, ab 1998 eine aktive Arbeitsmarktpolitik zu betreiben, zu einem Rückgang der Arbeitslosenzahl auf immerhin 3,9 Millionen geführt habe.
Der Schwenk zu einer Spar- und Steuersenkungspolitik habe aber nicht zu den von den neoliberalen Beratern prophezeiten Ergebnissen geführt. Trotz immenser Unternehmenssteuersenkungen seien die Bruttoanlageinvestitionen von 426,4 auf 379,8 Milliarden Euro zurückgegangen, die Arbeitslosigkeit von 4,19 auf 4,38 angestiegen, die Unternehmens- und Vermögenseinkommen hingegen von 410,4 auf 439,9 Milliarden gewachsen.
Die von Ehrenberg reichlich aufgeführten Fakten belegen einen sehr engen Zusammenhang zwischen einer die Nachfrage stimulierenden Wachstumspolitik und dem Wachstum der Beschäftigung, während man auf die Verheißungen der angebotsorientierten Lehre – vor allem durch Verbesserung der Investitionsbedingungen wirtschaftlichen Aufschwung zu induzieren – inzwischen seit den 80er Jahren vergeblich wartet. Auch heute gilt allenfalls das Prinzip Hoffnung und das Schielen auf einen Aufschwung in Amerika.
Die herrschende ökonomische Lehre immunisiert sich aber gegen eine solche Kritik, indem sie die historischen Erfolge einer stärker nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik schmäht und ihr bisheriges totales Scheitern leugnet und als Ausweg aus der selbst verursachten Misere nur eine noch drastischere Anwendung ihrer Konzepte propagiert. Der kollektive Gedächtnisverlust unter den wirtschaftspolitischen Meinungsträgern erlaubt solche Geschichtsklitterungen.
Ein weitere Verbiegung historischer Tatsachen und ein oft gebrauchtes Totschlagargument der herrschenden ökonomischen Orthodoxie rückt Ehrenberg gerade: Nämlich die Behauptung, dass der Vertrag von Maastricht eine maximale Nettokreditaufnahme von „3 Prozent für das Verhältnis zwischen dem geplanten oder tatsächlichen öffentlichen Defizit und dem Bruttoinlandprodukt zu Marktpreisen“ zwingend vorschreibe. Dieser Referenzwert fände sich jedoch nicht etwa im Vertrag, sondern nur in einer Protokollnotiz. Der Artikel 104 des EG-Vertrages spreche sehr interpretationsfähig davon, dass die Mitgliedsstaaten „übermäßige öffentliche Defizite“ vermeiden sollen.
Der Vertrag von Amsterdam vom 2. Oktober 1997 schreibe in Artikel 2 hingegen folgende Aufgaben vor: „Durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und einer Wirtschafts- und Währungsunion (…) in der ganzen Gemeinschaft eine harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens, eine hohes Beschäftigungsniveau und ein hohes Maß an sozialem Schutz, die Gleichstellung von Männern und Frauen, ein beständiges, nichtinflationäres Wachstum, ein hohes Maß an Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz der Wirtschaftsleistungen, ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität, die Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten zu fördern.“
Diese Aufgabenstellung enthalte wirtschafts- und finanzpolitisch die gleichen, ja sogar weitergehende Pflichten für eine aktive Wirtschaftspolitik als das deutsche Stabilitäts- und Wachstumsgesetz aus dem Jahre 1967. Aber dieses nach wie vor gültige Gesetz werde seit über zwanzig Jahre nicht mehr angewandt und mit der irreführenden Behauptung abgetan, es enthalte Rezepte von gestern Dabei wäre die Befolgung des gesetzlichen Gebotes einer aktiven Beschäftigungspolitik aktueller denn je.
Quelle: Herbert Ehrenberg, Anstoß zum Wachstum, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 1/2005, S.18 – 21.
Persönliche Anmerkung: Als jemand der Herbert Ehrenberg noch als aktiven Minister kennen gelernt hat, erstaunt es mich schon, dass er seinen erhellenden Beitrag für die „Blätter“ schreibt und nicht etwa einen Leitartikel im „Vorwärts“ bekommt. Daran mag man erkennen, wie weit das politische Spektrum inzwischen „verrückt“ wurde.
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