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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Der Irrtum der Euroretter und das Schweigen im Blätterwalde
Datum: 10. Januar 2013 um 10:03 Uhr
Rubrik: Denkfehler Wirtschaftsdebatte, Euro und Eurokrise, Schulden - Sparen
Verantwortlich: Jens Berger
Die vornehmste Aufgabe der Volkswirtschaftslehre ist es, die Politik zu beraten. Auf Basis der Beratung durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) verordnete die Politik halb Europa eine selbstmörderische Kürzungspolitik. Doch das neue Jahr begann mit einem Paukenschlag. Einer der einflussreichsten Volkswirte, Olivier Blanchard, seines Zeichens Chefökonom des IWF, gibt plötzlich zu, dass man sich in der Vergangenheit „verrechnet“ habe und die vom Währungsfonds vorgeschlagene Kürzungspolitik womöglich die aktuelle Krise sogar noch verschärft. Dieses Eingeständnis stellt die bisherige Politik der „Euroretter“ komplett in Frage. Eigentlich sollte man nun erwarten, dass Blanchards Offenbarungseid politisches Tagesgespräch Nummer Eins ist. Doch weit gefehlt. Der erste SPIEGEL des neuen Jahrs machte nicht mit dem Thema „Der Irrtum der Euroretter“ auf, sondern fragte sich, ob das männliche Geschlecht mit der modernen Gesellschaft überfordert sei. Über die neuen Rechenkunststücke des IWF verliert der SPIEGEL kein Wort. Auch der Tagesschau war das eingestandene Versagen des IWF keine Meldung wert. Der Dogmatismus der ökonomischen Debatte hierzulande macht offenbar blind. Von Jens Berger.
Bereits im Oktober letzten Jahres sorgte der IWF für Aufregung, als er in einer Randnotiz [PDF – 10.5 MB] anmerkte, dass er die negativen ökonomischen Auswirkungen von staatlichen Ausgabenkürzungen falsch eingeschätzt haben könnte. Zu Beginn des neuen Jahres legt IWF-Chefökonom Blanchard nach und erklärt in einer Studie [PDF – 1.1 MB], dass der IWF sich tatsächlich verrechnet hat. Man habe bei seinen Prognosen einen zu niedrigen „Fiskalmultiplikator“ angenommen.
Exkurs: Was ist ein Fiskalmultiplikator?
Die Haushaltspolitik des Staates hat, das jedenfalls ist unter Ökonomen unbestritten, Auswirkungen auf die Konjunktur. Wenn ein Staat seine Ausgaben erhöht, indem er beispielsweise Personal einstellt oder Investitionen tätigt, hat dies sowohl direkte, als auch indirekte Auswirkungen auf die Volkswirtschaft. Um dies zu verdeutlichen, muss man sich nur vorstellen, dass z.B. für einen Lehrer eine Stelle neu geschaffen wurde. Dieser Lehrer bezieht sein Gehalt vom Staat und gibt das Geld freilich auch wieder aus, wovon andere wiederum direkt und indirekt profitieren. Umgekehrt verhält es sich mit Ausgabenkürzungen. Wird der Lohn des Lehrers gekürzt, kann er weniger Geld ausgeben und auch hier gibt es direkte und indirekte Nebeneffekte für andere Wirtschaftssubjekte.
Um zumindest grob einschätzen zu können, welchen konjunkturellen Effekte Ausgabenerhöhungen oder –kürzungen haben, hat der britische Ökonom John Maynard Keynes den „Fiskalmultiplikator“ eingeführt. Dieser Multiplikator ist ein Instrument unter vielen, um der Politik eine Hilfestellung bei haushaltspolitischen Entscheidungen zu geben. Grundsätzlich gilt, dass der konjunkturelle Effekt von staatlichen Ausgabenerhöhungen und –kürzungen umso größer ausfällt, je höher der „Fiskalmultiplikator“ ist. Nimmt man beispielsweise einen hohen Fiskalmultiplikator an, kann sich eine Erhöhung der Staatsausgaben möglicherweise von selbst refinanzieren, da die konjunkturellen (Aufschwung-)Effekte, die von diesem Impuls ausgelöst werden, zu höheren Steuereinnahmen führen. Umgekehrt bedeutet ein hoher Fiskalmultiplikator jedoch auch, dass Fiskalkürzungen die Konjunktur derart schwächen, dass auch die Steuereinahmen überproportional wegbrechen. Ein niedriger „Fiskalmultiplikator“ bedeutet umgekehrt, dass eine Erhöhung der Staatssaugaben konjunkturell verpufft und eine Senkung der Staatsausgaben wiederum ohne große konjunkturelle Folgen bleibt.
Es liegt in der Natur der Dinge, dass neoliberale Ökonomen dazu neigen, den Fiskalmultiplikator zu niedrig anzusetzen. Glaubt man an einen niedrigen Fiskalmultiplikator, so heißt das zugleich, dass der Staat sich generell aus dem Wirtschaftsleben zurückziehen und sich auf seine Rolle als „Nachtwächter“ beschränkt sollte – dies ist seit jeher der Traum wirtschaftsliberaler Ideologen. Für sie sind Staatsausgaben prinzipiell schädlich für die Wirkung der Marktkräfte.
Nun gibt es jedoch keinen fixen Fiskalmultiplikator, der für jedes Land zu jeder Zeit korrekt ist. Der Fiskalmultiplikator misst vielmehr im Nachhinein, wie die Konjunktur auf haushaltspolitische Entscheidungen reagiert hat und dies auch noch ohne andere Faktoren mit einzubeziehen. Ein solcher weiterer Faktor ist beispielsweise der Zinssatz. Eine Grundannahme des Fiskalmultiplikators ist nämlich, dass der Zins positiv mit der Finanzpolitik korreliert, der Zins also sinkt, wenn beispielsweise der Staat seine Ausgaben zurückfährt. Bei einer Gemeinschaftswährung wie dem Euro, bei der sich das Zinsniveau nicht an fiskalischen Entscheidungen einzelner Mitgliedsstaaten orientieren kann, ist eine solche Korrelation jedoch kaum möglich und in einer Niedrigzinsphase ohnehin faktisch auszuschließen. Hinzu kommt, dass der Fiskalmultiplikator sich mit der jeweiligen konjunkturellen Lage ändert. In einer Boomphase geht er naturgemäß gegen Null, während er in einer Krise höhere Werte einnimmt. Genau das ist übrigens Grundlage des Keynesianismus, der – vereinfacht ausgedrückt – besagt, dass der Staat in Krisenzeiten seine Ausgaben erhöhen muss, um seine Verschuldung in Boomphasen wieder zurückzufahren. Das ist alles nicht neu, nur wurde es in der neoliberalen Ära vergessen und verdrängt oder durch neue ökonomische Lehren überlagert.
Die Fehler des IWF
Der IWF ging bei seinen bisherigen Schätzungen von einem vergleichsweise sehr niedrigen Fiskalmultiplikator von 0,5 aus. Wer mit einem derartig niedrigen Wert rechnet, kann natürlich rein mathematisch nur zu dem Ergebnis kommen, dass es zum Heraussparen aus der Krise keine Alternative gibt. Wer mit einem solch niedrigen Wert kalkuliert, kommt immer zu dem Ergebnis, dass schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme verpuffen müssen und die einzig denkbare Medizin für Krisenzeiten in einer harten Austeritätspolitik bestehen kann. Nun haben die Ökonomen des IWF ihre eigenen Prognosen noch einmal kritisch nachgerechnet und sind – welch Wunder – auf einen wesentlich höheren Multiplikator gekommen. Neuerdings geht der IWF davon aus, dass in der Eurokrise eher mit einem Wert zwischen 0,9 und 1,7 operiert werden müsse. Und selbst diese Schätzung ist eher defensiv, zahlreiche namhafte Ökonomen sehen den Fiskalmultiplikator in Krisenzeiten eher bei 2,5 oder sogar darüber.
Es ist unbegreiflich, mit welcher Beiläufigkeit diese Zahlen diskutiert werden – gerade so, als handele es sich hierbei um unbedeutende Details aus dem wirtschaftswissenschaftlichen Elfenbeinturm. Die Frage, ob der Fiskalmultiplikator nun bei 0,5 bei 1,5 oder gar bei 2,5 liegt, ist jedoch elementar für eine wirksame Krisenpolitik. Wer von einem zu niedrigen Multiplikator ausgeht, wird (s.o.) die Krankheit immer mit dem Medikament „Kürzungspolitik“ behandeln. Geht man jedoch von einem höheren Multiplikator aus, ist es offensichtlich, dass das Medikament „Kürzungspolitik“ eine Krise nicht kuriert, sondern sogar verstärkt. Wenn man einen Wert von 1,5 oder gar 2,5 annimmt, muss man folgerichtig keine Kürzungen, sondern man muss staatliche Investitionen anordnen. Dies hat übrigens nichts mit Ideologie zu tun, sondern wäre die einzig denkbare Schlussfolgerung aus der Analyse des Fiskalmultiplikators. Ein Arzt greift bei zu hohem und zu niedrigem Blutdruck zu vollkommen unterschiedlichen Medikamenten, von denen das eine eine Medikatur und das andere Gift für die jeweils diagnostizierte Krankheit wäre. Die IWF-Ökonomen erinnern, um im Bild zu bleiben, eher an mittelalterliche Quacksalber, die ihren Patienten stets zum Aderlass bitten, egal welche Krankheit er hat.
Was bedeutet das für die Eurokrise?
Es ist immerhin ein Fortschritt, dass IWF-Chefökonom Blanchard zumindest eingesteht, Fehler gemacht zu haben. Damit ist er seinen deutschen Kollegen schon einmal meilenweit voraus, die nach wie vor den Kopf in den dogmatischen Sand stecken. Ein einfaches mea culpa reicht hier jedoch nicht. Der IWF gehört zur berüchtigten Troika, die ihren Daumen über die Wirtschafts- und Fiskalpolitik der europäischen Krisenstaaten hebt oder senkt und die „Memoranden“ mit diesen Ländern verhandelt, die klare politischen Richtlinien vorgeben. Die katastrophale Arbeitslosigkeit in den Krisenländern ist eine direkte Folge der politischen Vorgaben der Troika. Die Ökonomen des IWF beraten die Politik nicht, sie bestimmen Politik. Und wenn der IWF nun eingesteht, dass er aufgrund von Rechenfehlern nicht nur die falsche, sondern sogar eine kontraproduktive Politik gestaltet hat und damit ganze Volkswirtschaften ins Unglück gestürzt hat, so ist ein simples „sorry“ einfach zu wenig.
Würde der IWF seine Fehler ernst nehmen und daraus die richtigen Schlüsse ziehen, müsste er die Krisenpolitik in der Eurozone vom Kopf auf die Füße stellen. Er müsste der Kürzungspolitik eine abrupte Absage erteilen und auf sofortige Konjunkturprogramme drängen, die einen solchen Namen auch verdient hätten. Der IWF müsste einen Kurswechsel vollziehen, und stattdessen die Politik umsetzen, die beispielsweise von gewerkschaftsnahen Think-Tanks oder von vielen keynesianisch orientierten Ökonomen seit langem gefordert wird. Dies käme einer Revolution bei der Rettungspolitik gleich.
Doch die Ökonomen scheinen sich der Tragweite ihrer Rechenspiele nicht im Geringsten bewusst zu sein. Es kann offenbar nicht sein, was nicht sein darf und wenn die Theorie nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt, muss der Fehler in der Wirklichkeit zu suchen sein. Auch Olivier Blanchard macht da keine Ausnahme. Seine Studie ist alles andere als ein klares Bekenntnis zu einer neuen Politik. Im Gegenteil – wie ein ceterum censeo zieht sich das Glaubensbekenntnis an die grundsätzliche Wunderwirkung der Austeritätspolitik auch durch Blanchards Studie. Theorie und Wirklichkeit …
Er gibt zwar Fehler zu und übernimmt indirekt auch die Verantwortung für seine falschen Prognosen; er vermeidet es dabei jedoch tunlichst, auch für die Folgen seiner falschen Prognosen in Mithaftung genommen zu werden. Kein Wort des Bedauerns über den Irrtum, kein Satz, aus dem sich schließen lässt, dass Blanchard nicht einmal einen indirekten Zusammenhang zwischen seinen früheren Prognosen und der eingeschlagenen Politik erkennt. Der Chefökonom des IWF stiehlt sich vielmehr aus der Verantwortung, indem er die Fehler des IWF lediglich auf die Erstellung von Prognosen bezieht. Was kann denn auch der IWF dafür, dass die Politik diesen Prognosen glaubte und vor allem danach handelte? Dass exakt diese fehlerhaften Prognosen und noch mehr die ihnen zugrunde liegenden grundfalschen Annahmen, die zu solchen (Fehl-)Prognosen führten, direkt verantwortlich für eine Krisenpolitik waren, die dazu führen musste, dass die erwarteten positiven Wirkungen der Prognosen nicht eingetroffen sind, sondern das Gegenteil bewirkt haben, verdrängt der „Chefökonom“ komplett.
Wenn Blanchard sich hier in die Rolle eines unbeteiligten Zahlenakrobaten zurückzieht, der sich nicht für die Folgen seiner Rechenspiele zur Verantwortung ziehen lassen will, so zeugt dies von einem geradezu schändlichen Mangel an Verantwortungsbewusstsein. Es wäre jedoch billig, dies nur dem „Chefökonomen“ in die Schuhe zu schieben. Nicht der Theoretiker, sondern die praktische Politik ist hauptsächlich dafür verantwortlich, dass sie sich selbst jeglichen Entscheidungs- und Handlungsspielraum genommen hat und das Orakel des IWF als Offenbarung der Wahrheit ansieht. Zahlreiche Ökonomen, wie Krugman, Eichengreen oder auch Flassbeck kritisierten die Rechenmodelle des IWF schon seit langem. War es nicht gerade Angela Merkel, die den IWF unbedingt ins Boot holen wollte? Sie wusste sicher warum: der IWF diente ihr als willkommener Kronzeuge zur Durchsetzung ihrer schon vorab geplanten Austeritätspolitik – nach dem deutschen Agenda-Modell.
Politik und Medien auf Tauchstation
Weder die Politik noch die Medien wollen indes die Implikationen begreifen, die sich aus Blanchards Eingeständnis ergeben. Den großen deutschen Zeitungen und Online-Portalen war die ganze Sache noch nicht einmal eine Fußnote wert. Sicher, die Materie ist trocken und komplex. Das gilt jedoch für Hans Werner Sinns geradezu idiotische Interpretation der Target-2-Salden auch, die jedoch ganz im Sinne Sinns von jeder Dorfpostille widergekäut wurde. Anstatt aufzuklären, hegt und pflegt man stattdessen lieber die Dogmen, denen man seit Jahren , ohne auch nur einen Gedanken zu verschwenden, folgt.
Und wenn der Journalismus seine Aufgaben nicht wahrnimmt und darüber keine öffentliche Debatte aufkommen kann, muss die Politik auch niemanden Rechenschaft geben. Stattdessen wird weiter die Mär von der Wunderkraft der Austeritätspolitik verbreitet und halb Europa ins Unglück gestürzt. Wenn es um Wirtschafts- und Finanzpolitik geht, geht es hierzulande schon längst nicht mehr um die Sache. Es geht um die Verteidigung von Dogmen und Rationalität spielt bei dogmatischen Diskussionen bekanntlich keine Rolle.
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