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Titel: Erziehung zum Klassenhass? Waldorfschüler verspotten ihre Chorweiler Nachbarn
Datum: 27. Dezember 2012 um 14:01 Uhr
Rubrik: Ungleichheit, Armut, Reichtum, Wertedebatte
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
„Waldorfschüler verspotten ihre Chorweiler Nachbarn“ – so lautete eine Schlagzeile des „Kölner Stadtanzeigers“ vom 20. Dezember 2012. In dem Artikel wird berichtet, wie Kölner Waldorfschüler den Stadtteil Chorweiler sehen, in dem sich ihre Schule befindet. „Das Viertel färbt ab“ – so lautete das Thema eines Mottotages der Abiturienten der Waldorfschule. Teilergebnisse davon sind in der Abi-Zeitung der Schüler veröffentlicht worden, darauf abgebildet: eine junge Schwangere mit Zigarette, Großfamilien mit „10 Kusäängs und 19 Kusinään“, gewaltbereite Jugendliche, posende Mädchen in Jogginghosen. Die Abi-Zeitung hat im Stadtteil Chorweiler für viel Aufregung gesorgt, da sie auf einem Adventsbasar verkauft wurde. Für die Bezirksbürgermeisterin ist unverständlich, „dass die beteiligten Lehrer augenscheinlich nicht im Vorfeld der Mottotage über die diskriminierenden Aspekte und das mögliche Konfliktpotenzial des Mottotags gesprochen haben.“ Ein ganzes Stadtviertel und seine Bewohner seien abgewertet, Hohn und Spott über Gleichaltrige ausgeschüttet worden. Die Abiturienten hätten ein „Unreifezeugnis“ verdient. Von Joke und Petra Frerichs
Chorweiler zählt zu den sozialen Brennpunkten der Stadt: mit einem Migrantenanteil von über 40 % und hoher Jugend-Arbeitslosigkeit. Jugendliche, die aus Chorweiler kommen, sind bei der Suche nach Ausbildungsplätzen stark benachteiligt, berichtet die Bezirksbürgermeisterin.
Die Reaktionen in der Öffentlichkeit haben die Schulleitung zu einer Stellungnahme veranlasst. Die Schüler hätten sich zwischenzeitlich entschuldigt; auch habe an der Schule eine Debatte darüber begonnen, „wie man neue Verbindungen in den Stadtteil schaffen kann. Wir sind stärker gefordert, als wir das vermutet hatten. Wir sind vor 15 Jahren mit der Schule nach Chorweiler gegangen mit der festen Absicht, uns dem Viertel gegenüber zu öffnen und mit ihm zusammenzuleben.“ Auch nach 15 Jahren kämen zwar Schüler aus der ganzen Region in die Waldorfschule nach Chorweiler – „nur aus Chorweiler selbst ist nach Angaben der Schule so gut wie nie jemand dabei.“ Immerhin wird die Privatschule zu rund 90 Prozent mit jährlich 2,6 Millionen Euro aus Steuermitteln finanziert; wohingegen – gar nicht weit entfernt – der Jugendclub „Escher Straße“, der viel für die Integration junger Leute geleistet hat, geschlossen wird.
Wir wissen nicht, welche Intentionen die Lehrer der privaten Waldorfschule mit ihrer Aufgabenstellung verfolgt haben. Man könnte achselzuckend zur Tagesordnung übergehen, wenn es sich lediglich um ein singuläres Ereignis handeln würde. Aber der „Fall Chorweiler“ ist nur ein Beispiel für die sich verstärkende gesellschaftliche Tendenz, sozial Benachteiligte zu diskriminieren. Man denke nur an die Kampagnen der Bildzeitung (Stichwort: „Karibik-Klaus“ oder „Florida-Rolf“ ) und einiger Privatsender, die regelrechte Hetzjagden auf sozial Benachteiligte wie Sozialhilfe- oder Hartz IV-Bezieher veranstalteten. Publizistisch begleitet wurden derartige Kampagnen z.B. durch Thesen Götz Alys, der 2004 auf dem Höhepunkt der Anti-Hartz IV-Proteste davon sprach, es sei die historische Aufgabe der Politik, den langen Abschied von der „Volksgemeinschaft“ zu vollziehen. Mit „Volksgemeinschaft“ meinte er die sozialen Sicherungssysteme als angebliches Erbe des NS-Staates. Oder denken wir an neo-konservative „Vordenker“ wie Paul Nolte oder Heinz Bude, die die Errungenschaften des Sozialstaats dafür verantwortlich machten, dass Arbeitslose sich in der sozialen Hängematte ausruhten und ihnen daher die Motivation fehlte, sich um Arbeit zu bemühen. Zu nennen sind auch die „Propagandisten der sozialen Ungleichheit“ (A. v. Lucke) wie Thilo Sarrazin und Peter Sloterdijk, die den Sinn von Transferleistungen für die Unterschicht insgesamt infrage stellen; hierin einer Meinung mit Gunnar Heinsohn, der u.a. eine Reduzierung der „Unterschichtengeburten“ forderte und kritisierte, dass Arbeitslose Elterngeld erhalten. Derartigen Thesen wurde höchste öffentliche Aufmerksamkeit geschenkt; sie wurden gewissermaßen zur Legitimationsfassade der Agenda-Politik. Erinnert sei in diesem Zusammenhang ebenfalls an den medial-inszenierten Aufruhr, als der damalige SPD-Vorsitzende Beck eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, in der vom „abgehängten Prekariat“ die Rede war, mit der Formulierung kommentierte: „Manche nennen es ein Unterschichten-Problem.“ Der damalige SPD-Generalsekretärs Hubertus Heil bemühte sich klarzustellen, dass seine Partei sich einen solchen Begriff nicht zu eigen mache. Franz Müntefering ließ verlauten, es gäbe keine Schichten in Deutschland (Glück auf!, möchte man ausrufen). Wer die Gesellschaft in Kategorien und Schichten aufzuteilen versuche, stigmatisiere die Menschen. Die das tun, seien weltfremde Soziologen. Wohl gemerkt: Nicht die Tatsache, dass die Pole der Gesellschaft immer weiter auseinanderdriften, wurde von ihm skandalisiert, sondern der Begriff Unterschicht. Frei nach dem Motto: schaffen wir die Begriffe ab, dann beseitigen sich die Probleme ganz von selbst. Während Magret Thatcher seinerzeit behauptete, es gäbe keine Gesellschaft, sondern nur Individuen, gibt es für Franz Müntefering nur Gesellschaft, aber keine Schichten. Beiden sei ins Stammbuch geschrieben, was Marx schon vor 150 Jahren kritisierte:
„Die Bevölkerung ist eine Abstraktion, wenn ich z.B. die Klassen, aus denen sie besteht, weglasse. Diese Klassen sind wieder ein leeres Wort, wenn ich die Elemente nicht kenne, auf denen sie beruhn. Z.B. Lohnarbeit, Kapital etc.“
Auch der jetzige Kanzlerkandidat der SPD, Peer Steinbrück, meldete sich in der Debatte zu Wort. In einem Interview mit der ZEIT vom 13.11.2003 definierte er, was er unter einer sozial gerechten Politik versteht. Das sei eine Politik für jene, „die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um sie – und nur um sie, muss sich Politik kümmern.“
Da fragt sich nur, was eigentlich mit dem Rest der Gesellschaft geschehen soll, wenn sich die Politik für sie nicht mehr zuständig fühlt. Derartige Formulierungen verraten eine sozialdarwinistische Denkweise, die einer „Biologisierung des Sozialen“ (Christoph Butterwegge) Vorschub leisten. In diesem Zusammenhang weist der Bielefelder Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer mit Bezug auf eigene Untersuchungen zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit auf den Umstand hin, dass Menschen zunehmend nach ihrer wirtschaftlichen Nützlichkeit bewertet würden. Dies führe insbesondere zu einer Abwertung von Arbeitslosen. In einem Interview mit dem SPIEGEL v. 3.4.2010 führt er aus:
„Wir können belegen, dass die Mittelschicht seit Einführung von Hartz IV massive Angst hat. Das führt dazu, dass Mitmenschen vor allem nach ihrer Nützlichkeit bewertet und damit auch abgewertet werden. Der autoritäre Kapitalismus hat es geschafft, seine Verwertungskriterien ohne Widerstand der ganzen Gesellschaft überzustülpen.“
Michael Hartmann resümiert seine Forschungsergebnisse zu den Einstellungen von Angehörigen der Elite dahingehend, dass eine in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie dagewesene Radikalisierung der Eliten stattgefunden habe und diese den Kontakt mit anderen Lebenswirklichkeiten weitgehend verloren hätten.
Zu ähnlichen Ergebnissen für die englische Gesellschaft kommt der Sozialhistoriker Owen Jones. In seinem Buch: Prolls. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse diagnostiziert er einen um sich greifenden Klassenhass in der britischen Gesellschaft – nur sind es nicht die Linken und die Gewerkschaften, die den Klassenkampf predigen, sondern Konservative, distinguierte Herren in Maßanzügen, wie Jones erklärt. Sie sind es, die den Prolls die Fresse polieren möchten und ihre sozialrassistischen Thesen ungeniert in aller Öffentlichkeit verbreiten. Jones weist nach, dass auf die einst so stolze Arbeiterklasse nur noch mit Verachtung herabgeschaut wird. Das sei das Ergebnis einer gigantischen Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums und einer gezielten De-Industrialisierungspolitik Thatchers, in deren Folge nicht nur viele Traditionsbetriebe und Institutionen, sondern auch Werte der Arbeiterklasse wie Zusammenhalt und Solidarität zerschlagen wurden.
Albrecht Müller und Wolfgang Lieb haben in den „Hinweisen des Tages“ der NachDenkSeiten vom 18.9. und 20.9. 2012, auf ausführliche Rezensionen des Buches von Owen Jones hingewiesen. Man sollte sich überhaupt ihre Empfehlung zu eigen machen, öfter einmal auf ältere Beiträge der NachDenkSeiten zurückzugreifen. Neben den hier genannten Texten wären (nur beispielhaft) zu nennen:
Liest man die genannten Beiträge nach, wundert man sich gar nicht mehr so sehr, dass Waldorfschüler ihre Altersgenossen in Chorweiler verhöhnen und verspotten. Sie liegen ganz im gesellschaftlichen Trend; einem Trend, dem energisch entgegenzutreten ist: im eigenen Alltag und wo immer sich Tendenzen zur Diskriminierung anderer zeigen. So darf man gespannt sein, welche Schritte die Schulleitung in Chorweiler unternimmt, um einen Beitrag zum besseren Zusammenleben im Viertel zu leisten.
Gerade hinsichtlich der sozialen Integration haben Schulen und Lehrkräfte einen immens wichtigen pädagogisch-sozialen und schulpolitischen Auftrag zu erfüllen und jeder Form von Sozialrassismus mit geeigneten und möglichst phantasievollen pädagogischen Konzepten entgegenzuwirken. Wenn Schüler der Waldorfschule mit Verachtung auf ihre Altersgenossen herabblicken, ist zu fragen, woraus derartige Ressentiments resultieren. Sind es lediglich Vorurteile oder beruhen sie auf Alltagserfahrungen? Beides müsste zum Unterrichtsgegenstand erhoben werden, zumal sich die Freie Waldorfschule in einem sozial unterprivilegierten Stadtteil befindet, in dem soziale Spannungen unvermeidlich sind. Im Rahmen von Unterrichts-Projekten wären die Ursachen sozialer Ungleichheit aufzuarbeiten, und zwar so konkret wie möglich; vielleicht anhand von Fallbeispielen benachteiligter Jugendlicher. Auf diese Weise könnten vergleichsweise privilegierte Waldorfschüler erfahren, was es heißt, wenig oder keine sozialen Chancen zu haben. Eine ähnliche Intention verfolgt der Film „Leben in Chorweiler. Eine Untergrundreportage“, der am Beispiel eines jungen Mannes die prekäre Lage in der Unterschicht konkret aufzeigt. Der Film könnte – wenn es denn erwünscht wäre – zur sozialen Sensibilisierung der Waldorfschüler beitragen und möglicherweise einen Bewusstseins- und Gesinnungswandel unter ihnen einleiten. Statt „Ein Viertel färbt ab“ sollte es dann heißen: „Du bist Chorweiler“!
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