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Titel: Ursachen für den Ansehensverlust der Gewerkschaften

Datum: 14. November 2004 um 16:56 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Gewerkschaften
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Wie der Ansehensverlust, das Misstrauen, die Gleichgültigkeit zu erklären sind, die heute den Gewerkschaften von großen Teilen der Gesellschaft entgegen gebracht werden, dazu hat uns unser Leser der NachDenkSeiten, der Ökonom Professor Dr. Siegfried Katterle einen Leserbrief geschrieben, den wir Ihnen nicht vorenthalten möchten.

Siegfried Katterle, emeritierter Professor an der Universität Bielefeld, sieht eine der entscheidenden Ursachen für den Ansehensverlust der Gewerkschaften in einem „verbreiteten Mentalitätswandel zum Individualismus der Selbstbezogenheit unter dem Einfluss der marktradikalen neoliberalen Ideologie, die dem Markt(modell) komplementäre eigennützig-rationale, bindungslos-nutzenmaximierende Akteure fordert und hervorbringt. Viele Wirtschaftsprüfer, Wirtschaftsprofessoren, Wirtschaftspublizisten sehen eine „soziale“ Marktwirtschaft, also eine komplexe Institution aus unterschiedlichen Marktformen und vielgestaltigen Regulierungen, als fortschrittshemmend und obsolet an und fordern die „freie“ Marktwirtschaft.

Gewerkschaften passen nicht in den Shareholder-Value-Kapitalismus, in dem sich der Glaube an die Selbstheilungskraft des Marktes und – damit zusammenhängend – die Forderung des schlanken Staates und der Beseitigung aller intermediären Institutionen zur Vereinbarung und kooperativen Umsetzung von Regulierungen zum weltanschaulichen Bekenntnis verfestigt haben. Deshalb wollen auch die in einem „Berliner Netzwerk“ zusammen arbeitenden Professoren meiner Disziplin die Arbeitnehmerbänke in den Aufsichtsräten (tatsächlich kein Marktelement!) beseitigt wissen. Deshalb kann der in Deutschland durch eine hoch entwickelte Verhandlungskultur regulierte Arbeitsmarkt nur als marktwidriges „Tarifkartell“ wahrgenommen werden. Deshalb kann ein „Bündnis für Arbeit“ nicht gelingen, das ja nur ein Hemmschuh bei der Deregulierung des Arbeitsmarktes wäre. Unter dem Einfluss des shareholger-value huldigen Manager, deren Saläre von der Entwicklung des Aktienkurses abhängen, heute in beängstigendem Maße der kurzen Frist. Anstelle der Pflege der „public“-relations und einer guten, kommunikativen Unternehmenskultur, die Vorstände sich früher angelegen sein ließen, wir die Pflege der „investor“-relations zur ersten Pflicht. Die Innovationsträgheit bei Opel unter dem Einfluss der Konzernmutter GM, die weder von deutscher Mitbestimmung noch von europäischen Märkten etwas versteht, ist ein eklatantes Beispiel für Phantasielosigkeit und Beharrungsvermögen des Managements, die schon im hitzigen Streit um das seit Jahren absehbare Dosenpfand groteske Blüten getrieben haben.

Wenn Unternehmensentscheidungen nur auf Kostensenkung fixiert sind, wird die unternehmerische Pflege des Humankapitals vernachlässigt. Gewerkschaften, die sich auf betrieblicher und tarifvertraglicher Ebene für die langfristigen Arbeitsplatzinteressen (nicht nur!) ihrer Mitglieder – d.h. auch und besonders für die Qualifizierung der Beschäftigten und für arbeitsorganisatorische Maßnahmen, die Entfaltung der Qualifikation ermöglichen und fördern – engagieren, werden dann als Blockierer erlebt.

Die Geldpolitik hat im neoliberalen Markmodell nur die Aufgabe, Preisniveaustabilität zu sichern, nicht aber auch zur Stabilisierung von gesamtwirtschaftlicher Nachfrage und Beschäftigung beizutragen. Wirtschafts- und Finanzpolitik haben nur die Aufgabe, die Angebotsseite zu fördern (von der Senkung der Steuern für Unternehmen und „Leistungsträger“ bis hin zum Abbau der Zumutbarkeitskriterien für Arbeitslose), nicht aber durch eine stetige und nachhaltige Infrastrukturpolitik Produktion und Beschäftigung zu fördern und Wachstums- und Wohlstandschancen zu erschließen. Das Versagen der makroökonomischen Politik wir dann auf Lohnstarrheiten des Tarifkartells zurückgeführt. Reale Abwertungen durch Lohnkostensenkungen können aber nur zu internationalen Kostensenkungswettläufen führen, an deren Ende alle sich schlechter stellen.“…

„Eine Gesellschaft mit großer, ja wachsender Ungleichheit erscheint vielen nicht nur als wünschenswert sondern als unumgänglich notwendig für den gesellschaftlichen Fortschritt durch Entfesselung der Markkräfte und wird vom Vorsitzenden des Sachverständigenrates, meinem Fachkollegen Wiegard, und der Mehrheit seiner Ratskollegen ausdrücklich empfohlen. Alle gesellschaftlichen Gruppen, die ´das kluge, nicht-egoistische, tatkräftige Eintreten für die Lebenschancen der Schwächeren und Schwachen,…für wirkliche soziale Gerechtigkeit und Umverteilung der Chancen` betreiben und einfordern, erscheinen demgegenüber als ökonomisch unaufgeklärt und politische rückständig.“


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