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Titel: Plan zur ESM-Hebelung führt das Bundesverfassungsgericht ad absurdum
Datum: 24. September 2012 um 12:12 Uhr
Rubrik: Bundesverfassungsgericht, Verfassungsgerichtshof, Euro und Eurokrise, Europäische Union, Europäische Verträge
Verantwortlich: Jens Berger
Kaum ist die Tinte unter dem kontrovers diskutierten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum ESM getrocknet, planen die Finanzminister der Eurozone bereits, den ESM durch zusätzliche Finanzinstrumente zu hebeln. Anstatt der vertraglich festgelegten 500 Mrd. Euro soll das Finanzierungsvolumen des ESM künftig offenbar auf bis zu 2.000 Mrd. Euro steigen, ohne dass dabei die maximale Haftungssumme für die einzelnen Länder steigt. Ein Gelingen dieses Plans ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber prinzipiell möglich. Die Hebelung hat jedoch einen ganz entscheidenden Nachteil – sie widerspricht ganz ausdrücklich dem mittlerweile ratifizierten ESM-Vertrag, über den die Karlsruher Richter entschieden haben und erhöht überdies die Haftungswahrscheinlichkeit für den Steuerzahler massiv. Von Jens Berger.
An der Kernbotschaft des Karlsruher Urteils zum ESM ist nicht zu rütteln: Solange der Bundestag nicht anders entscheidet, haftet die Bundesrepublik Deutschland mit maximal 190 Mrd. Euro für Kredite und Garantien, die im Rahmen des ESM gegebenen werden. Laut ESM-Vertrag ist das maximale Darlehensvolumen zudem auf 500 Mrd. Euro begrenzt. Sollte es hart auf hart kommen, reicht diese Summe jedoch noch nicht einmal im Ansatz aus, um die großen Volkswirtschaften Italien und Spanien mit ihrer Staatsverschuldung von rund 2.000 Mrd. Euro bzw. 840 Mrd. Euro abseits der Finanzmärkte zu finanzieren. Neben der zu geringen Finanzkraft hat der ESM jedoch noch eine weitere Eigenschaft, die zwar vordergründig vernünftig klingt, aber in der Praxis zu einem großen Problem führen könnte: Absatz 13 des ESM-Vertrags [PDF – 138 KB] besagt unmissverständlich, dass ESM-Darlehen im Falle eines Zahlungsausfalls vorrangig bedient werden müssen.
[…] Eingedenk dessen haben die Staats- und Regierungschefs festgelegt, dass ESM-Darlehen – vergleichbar denen des IWF – den Status eines bevorrechtigten Gläubigers haben werden, wobei akzeptiert wird, dass der IWF gegenüber dem ESM als Gläubiger vorrangig ist. Dieser Status wird ab dem Tag des Inkrafttretens dieses Vertrags gelten. In dem Fall, dass sich die ESM-Finanzhilfe in Form von ESM-Darlehen an ein Finanzhilfeprogramm anschließt, das im Zeitpunkt der Unterzeichnung dieses Vertrags bereits besteht, wird der ESM den gleichen Rang haben, wie alle anderen Darlehen und Verpflichtungen des die Finanzhilfe empfangenden ESM-Mitglieds, ausgenommen die Darlehen des IWF.
ESM-Vertrag – Absatz 13
Sollte also beispielsweise der Staat Portugal in der Zukunft wie weiland der Staat Griechenland einen Schuldenschnitt vornehmen, bei dem die abzuschreibende Summe kleiner ist als die Summe der ausstehenden Staatsanleihen im Besitz des Privatsektors, sind weder IWF, EFSF noch ESM von diesem Schuldenschnitt betroffen. Diese vertraglich abgesicherte Besserstellung des ESM ist aus Sicht des deutschen Steuerzahlers freilich zu begrüßen, sie führt jedoch ganz direkt auch dazu, dass potentielle private Investoren ihr Risiko – vollkommen zu recht – noch höher bewerten müssen, da sie bei einem potentiellen Schuldenschnitt überproportional zur Kasse gebeten werden. Wenn ein Staat beispielsweise mit 100 Mrd. Euro verschuldet ist, von denen 50 Mrd. Euro von privaten Investoren und 50 Mrd. Euro aus den „Rettungsschirmen“ von IWF, EFSF und ESM stammen, und einen Schuldenschnitt von 25% auf die Gesamtverschuldung vornimmt, müssten IWF, EFSF und ESM gar keine Abschreibungen vornehmen, während der Privatsektor 50% seiner Kredite abschreiben muss. Diese Perspektive mag aus Sicht einer wünschenswerten Beteiligung des Privatsektors zu begrüßen sein, hat jedoch auch die Folge, dass ein Staat mit einem solchen Risikoprofil seine Anleihen, wenn überhaupt, dann nur zu massiv verteuerten Zinsen am Markt platzieren kann. Die vertraglich festgelegte vorrangige Bedienung des ESM führt bei Inanspruchnahme von ESM-Krediten so zwangsläufig nicht zu niedrigeren, sondern zu höheren Zinsen. Ein Staat, der Mittel des ESM in Anspruch nimmt, verschlechtert das Risikoprofil ausstehender und zukünftiger Anleihen und wird dadurch auch mittel- bis langfristig in die Hände des ESM getrieben. Man könnte vortrefflich darüber streiten, ob dies ein „Bug“ oder ein „Feature“ des ESM ist und die neoliberal geprägte Brüsseler Politik nicht vielleicht ein gesteigertes Interesse daran hat, ihren Einfluss auf die „Hilfsempfänger“ möglichst lange aufrecht zu erhalten; worüber man nicht streiten kann, ist die vertraglich festgelegte Vorrangigkeit der ESM-Darlehen, denn die ist Grundbestandteil des ratifizierten Vertragswerks.
Schenkt man den Agenturmeldungen dieses Wochenendes Glauben, die von den Verantwortlichen nicht dementiert werden, planen die Finanzminister der Eurozone bereits, den Nachteil der mangelnden Finanzkraft des ESM durch eine „Hebelung“ zu erhöhen. Details dazu sind freilich noch nicht bekannt, die zitierten Quellen erwähnen jedoch, dass der ESM künftig um zwei Instrumente ergänzt werden soll, die bereits beim ESM-Vorgänger EFSF im Einsatz sind. Die erste Option besteht aus einer Art Kreditversicherung durch den ESM. Die eigentlichen Anleihen werden bei dieser Option vom Privatsektor (also vornehmlich von Banken) gekauft und der ESM stellt diesen Investoren eine kostenlose Versicherung für die ersten 20% bis 30% eines Wertverlusts im Falle eines Schuldenschnitts zur Verfügung. Sollte also ein Land, für das Anleihen in dieser Form abgesichert werden, einen Schuldenschnitt von 25% (effektiv) vornehmen, würden die Verluste nicht vom privaten Investor, sondern voll vom ESM getragen werden. Die zweite Option hat im Endeffekt die gleiche Auswirkung, nur dass bei dieser Option die Anleihen nicht direkt versichert, sondern über ein zusätzliches Instrument gesonderte Anleihen ausgeben werden, bei denen der ESM die erste Verlusttranche übernehmen würde. Beim EFSF sind beide Optionen vorgesehen, da der Finanzsektor jedoch kein Interesse an diesen Instrumenten zeigt, wurden sie jedoch nie umgesetzt.
Beide Optionen sind im Kern zwar durchaus dazu geeignet, die zwei bereits beschriebenen Probleme des ESM (zu geringe Finanzkraft und Risikoverschiebung durch die vorrangige Bedienung der ESM-Darlehen) zu mindern, verstoßen jedoch zweifelsohne gegen den Absatz 13 des ESM-Vertrags. Wenn ESM-Darlehen laut Vertrag immer vorrangig bedient werden müssen, schließt dies ausdrücklich auch jedes Instrument aus, bei dem der ESM die Risiken des Privatsektors nachrangig übernimmt. Exakt dies ist jedoch bei den beiden diskutierten Optionen, die in der öffentlichen Diskussion als „Hebelung“ bezeichnet werden, der Fall. Wenn der ESM das Risiko der Banken direkt oder indirekt versichert, muss er im Falle einer Umschuldung auch die vollen Verluste abdecken. Aus der Vorrangigkeit würde durch diese Form der Hebelung de facto eine Nachrangigkeit und Absatz 13 des ESM-Vertrags würde damit inhaltlich auf den Kopf gestellt. Juristisch ausgedrückt würde durch die Hebelung die Vertragsgrundlage entfallen. Auch wenn die maximale Haftungssumme nicht berührt wird, so erhöht sich durch die Hebelung doch die Wahrscheinlichkeit, dass durch den ESM Verluste zu Lasten der Steuerzahler entstehen, ganz gewaltig.
Die europäischen Parlamente haben über einen ESM-Vertrag abgestimmt, bei dem die vertraglich festgeschriebene Vorrangigkeit der Darlehen einen implementierten Schutzmechanismus für die eigene Haftungssumme darstellt. Wenn nun die Exekutive diesen Schutzmechanismus nicht nur aushöhlt, sondern sogar in sein Gegenteil umkehrt, ist es zwingend geboten, dass der ESM-Vertrag neu formuliert werden muss, wobei unter anderem Absatz 13 umgeschrieben werden muss. Da diese Änderungen grundlegend sind, müssen dann aber auch alle Teilnehmerstaaten den ESM-Vertrag neu ratifizieren.
Die geplante Hebelung wird dabei sicher nicht die letzte Änderung des ESM-Vertrags sein. Das gesamte Vertragswerk wirkt vielmehr so, als sei es nicht für die Ewigkeit gemeißelt, sondern stetig im Fluss. Wenn die nationalen Parlamente den Änderungen zustimmen, sind die nächsten Änderungen bereits in Arbeit. Vertrauensfördernd ist dieses Vorgehen sicherlich nicht. Dabei wäre der gesamte Eiertanz rund um den ESM unnötig, wenn die europäische Politik sich endlich dazu durchringen könnte, nicht permanent das ESM-Vertragswerk zu flickschustern, sondern das EZB-Statut in der Form abzuändern, dass die EZB endlich auch zur direkten Staatsfinanzierung unter vertraglich bestimmten Auflagen eingesetzt werden kann. Erst mit diesem finalen Schritt wäre endlich Ruhe im Karton und wir könnten die Symptombekämpfung ad acta legen und uns um die Ursachen der Finanz- und Eurokrise kümmern, die neoliberalen Reformen rückgängig machen, die Finanzmärkte regulieren und eine gemeinsame europäische Sozial- und Wirtschaftsagenda entwerfen. Die Bekämpfung der Ursachen der Krise scheint jedoch politisch nicht gewollt zu sein.
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