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Titel: IMK: Polarisierung von Einkommen destabilisiert die Wirtschaft
Datum: 19. September 2012 um 9:40 Uhr
Rubrik: Hartz-Gesetze/Bürgergeld, Soziale Gerechtigkeit, Ungleichheit, Armut, Reichtum
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Die privaten Vermögen in Deutschland sind zunehmend ungleich verteilt. Das unterstreicht, nach verschiedenen wissenschaftlichen Untersuchungen, auch der Entwurf für den neuen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Die Einkommen haben sich ebenfalls stark auseinander entwickelt. Das ist nicht nur ein Gerechtigkeitsproblem, zeigt eine aktuelle Untersuchung: Die zunehmende Ungleichheit in Deutschland und anderen Staaten hat die Finanz- und Wirtschaftskrise mit verursacht, die bis heute nachwirkt. Zu diesem Ergebnis kommen Dr. Till van Treeck vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung und Simon Sturn von der University of Massachusetts in Amherst.[*]
Materialien zur Armut, zusammengestellt von Wolfgang Lieb.
In einem Punkt sind sich alle einig: Deutschland war in den vergangenen zehn Jahren zu einseitig auf seine Exporterfolge fokussiert, stellen Internationaler Währungsfonds, OECD, EU-Kommission und Internationale Arbeitsorganisation (ILO) unisono in aktuellen Analysen fest. Die Krise im Euroraum zeige die Negativwirkungen dieser Strategie auf – und nötige Alternativen: Eine stärkere Binnennachfrage in der Bundesrepublik würde dabei helfen, in Europa und der Welt die Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen zu verringern – und wäre damit ein wichtiger Beitrag zur Überwindung der Krise.
Dafür müsste Deutschland eines seiner Kernprobleme angehen: die rasant gewachsene Einkommensungleichheit, betonen van Treeck und Sturn. Die beiden Ökonomen haben im Rahmen eines Forschungsprojektes der ILO die Effekte zunehmender Ungleichheit in verschiedenen Ländern analysiert, darunter auch in Deutschland. Sie werteten dazu eine Vielzahl wissenschaftlicher Quellen aus.
Bislang konzentriere sich die Diskussion über Ungleichheit als eine der Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise vor allem auf die Vereinigten Staaten und die Schwellenländer, allen voran China, erläutern Sturn und van Treeck. Doch zu den Kernproblemen der Eurozone, deren Krise von der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise ausgelöst wurde, zähle auch die wachsende Ungleichheit der Einkommen im größten Mitgliedsland Deutschland.
Seit der Jahrtausendwende sind die Löhne deutscher Arbeitnehmer kaum gestiegen, die Schere zwischen großen und kleinen Einkommen hat sich immer weiter geöffnet. Zwischen 2001 und 2007 sank die Lohnquote gemessen am Bruttoinlandsprodukt um mehr als fünf Prozentpunkte. In den Jahren 1999 bis 2009 wuchs das verfügbare Einkommen des reichsten Zehntels um 16,6 Prozent, das des ärmsten Zehntels schrumpfte um 9,6 Prozent (siehe auch die Infografik im Böckler Impuls 13/2012; Link unten). Dabei war Deutschland laut Daten der Bundesbank bereits zum Start der Währungsunion 1999 in hohem Maße wettbewerbsfähig, so die Forscher. Aufgrund der im europäischen Vergleich weit unterdurchschnittlichen Lohnentwicklung konnte die deutsche Wirtschaft diesen Vorteil immer weiter ausbauen. Hingegen dämpften die schwache Reallohnentwicklung und die zunehmende Einkommensungleichheit die Binnennachfrage.
Als wesentlichen Faktor identifizieren van Treeck und Sturn dabei die Hartz-Reformen, die den Arbeitsmarkt flexibler machen sollten. Sie haben hierzulande das Wachstum des Niedriglohnsektors weiter angetrieben. Bis in die Mittelschicht breiteten sich ein Gefühl der Unsicherheit und die Angst vor Jobverlust aus. Auch in den USA nahm die Einkommensungleichheit zu. Dort häuften viele Bürger immer höhere Schulden an – zum Beispiel, um sich trotz niedriger Einkommen ein Eigenheim leisten zu können. Damit stützte der private Konsum zwar die wirtschaftliche Entwicklung. Doch das Leistungsbilanzdefizit wuchs, die Hauskreditblase platzte – die Finanz- und Wirtschaftskrise nahm ihren Lauf.
Die Deutschen hingegen verschuldeten sich nicht, um trotz stagnierender Einkommen ihren Lebensstandard zu halten. Im Gegenteil: Sie sparten einen größeren Teil ihres Einkommens. Diese typisch deutsche Reaktion ist auch dem typisch deutschen institutionellen Rahmen geschuldet, stellen die beiden Wissenschaftler fest:
All diese Faktoren ließen die Binnennachfrage nicht mehr wachsen, macht die Analyse der Wissenschaftler deutlich. Seit der Jahrtausendwende speiste sich das deutsche Wirtschaftswachstum allein aus dem Export. Starker Export, schwache Inlandsnachfrage und hohe Sparquote verursachten einen dauerhaft hohen Leistungsbilanzüberschuss. Deutschland lebte damit auch von der Überschussnachfrage der europäischen Nachbarn. Diese speiste sich wiederum aus Kreditblasen, die im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise platzten.
In Deutschland sollten Reformen deshalb darauf abzielen, die Einkommensungleichheit wieder zu reduzieren, empfehlen van Treeck und Sturn. Wichtig seien Lohnabschlüsse, die den Verteilungsspielraum ausnutzen, wie in jüngster Zeit geschehen. Die Politik könne dies unterstützen, indem sie die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifabschlüssen erleichtert, die Arbeitsmarktreformen um einen gesetzlichen Mindestlohn ergänzt und die Leiharbeit eindämmt. Damit ließen sich die schwache Konsumnachfrage und die starke Abhängigkeit der Wirtschaft vom Export überwinden – zum Wohle ganz Europas.
Quelle: Pressmitteilung IMK, Hans-Böckler-Stiftung
Drei Infografiken zum Download im Böckler Impuls:
Quelle: Böckler Impuls
Quelle: Böckler Impuls
Quelle: Böckler Impuls
Siehe dazu auch:
Was der Armutsbericht über Deutschland verrät
Die Reichsten werden immer reicher. Das geht aus dem vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hervor. Das private Nettovermögen hat sich allein zwischen 2007 und 2012 um 1,4 Billionen Euro erhöht – allerdings ist der Wohlstand sehr ungleichmäßig verteilt. Die reichsten zehn Prozent der Deutschen verfügen über mehr als die Hälfte des Gesamtvermögens, der unteren Hälfte der Haushalte bleibt gerade mal ein Prozent. Und der Anteil des obersten Zehntels ist in den letzten Jahren immer weiter gestiegen. 1998 belief er sich noch auf 45 Prozent, 2008 lag er bereits bei mehr als 53 Prozent des Nettogesamtvermögens. (© SZ-Grafik)
Quelle: SZ
Weiter berichtet die SZ aus dem ihr vorliegenden, jedoch noch nicht veröffentlichten 4. Armuts-Reichtumsbericht:
Quelle: Welt.de
In einem weiteren Beitrag berichtet die SZ, dass die Reichen trotz Finanzkrise immer reicher würden. Der private Reichtum werde immer größer, das Vermögen des Staates hingegen kleiner. Die SZ zitiert aus dem Bericht des Arbeitsministeriums: “Während das Nettovermögen des deutschen Staates zwischen Anfang 1992 und Anfang 2012 um über 800 Milliarden Euro zurückging, hat sich das Nettovermögen der privaten Haushalte von knapp 4,6 auf rund 10 Billionen Euro mehr als verdoppelt.” Im Zuge der Rettungsmaßnahmen anlässlich der Finanz- und Wirtschaftskrise sei “eine Verschiebung privater Forderungen und Verbindlichkeiten in staatliche Bilanzen feststellbar”.
Das private Nettovermögen hätte sich nach den Regierungsangaben allein zwischen 2007 und 2012 um 1,4 Billionen Euro erhöht. Weiter berichtet die SZ: Hinter diesen Zahlen stecke jedoch auch “eine sehr ungleiche Verteilung der Privatvermögen”. So vereinten “die vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte über die Hälfte des gesamten Nettovermögens auf sich”. Der Anteil dieses obersten Zehntels sei dabei “im Zeitverlauf immer weiter gestiegen”. 1998 belief er sich laut den amtlichen Zahlen auf 45 Prozent, 2008 war in den Händen dieser Gruppe der reichsten Haushalte bereits mehr als 53 Prozent des Nettogesamtvermögens. Die untere Hälfte der Haushalte verfüge über nur gut ein Prozent des gesamten Nettovermögens, heißt es in dem Bericht weiter.
Zur Lohnentwicklung berichtet die SZ: Große Unterschiede verzeichne die Analyse auch bei der Lohnentwicklung: Sie sei “im oberen Bereich in Deutschland positiv steigend” gewesen. Die unteren 40 Prozent der Vollzeitbeschäftigten hätten jedoch nach Abzug der Inflation Verluste bei der Bezahlung hinnehmen müssen. “Eine solche Einkommensentwicklung verletzt das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung”, werde dazu angemerkt.
Quelle: Welt.de
Die FAZ macht aus dem ernüchternden Bericht die Schlagzeile:
Die Deutschen werden immer Reicher
Die wirtschaftsliberale Zeitung berichtet zuerst: Auch nach der Finanzkrise hätten sich die Vermögen der Deutschen gut erholt. Zwischen 2007 und 2012 hab das private Nettovermögen – dazu gehören etwa Immobilien, Bauland, Geldanlagen oder Ansprüche aus Betriebsrenten – den Angaben zufolge um 1,4 Billionen Euro zugelegt. „Zahlen zur Ungleichheit gibt es in dem Bericht auch.“
Die reaktionäre „Welt“ sieht darin: „Die große Neiddebatte um das Geld der Reichen“
Hier findet man auch das gesamte Arsenal der Rechtfertigung der Spaltung zwischen arm und reich:
Siehe aber auch den Kommentar:
So asozial ist Deutschland
Wer den Armuts- und Reichtumsbericht studiert, bekommt den Eindruck, dass in Deutschland wieder ein Klassensystem entsteht. Schuld daran ist nicht nur die Union – sondern auch die SPD. Ein Kommentar von Hans Peter Schütz
Quelle: stern
Anmerkung unseres Lesers G.B.: Mal sehen wie die Urfassung das Bundessozialministeriums im Laufe der Ressortabfassung wieder geschönt wird. Schon beim 3. Armuts- und Reichtumsbericht waren gute Tabelle der ersten beiden Berichte nicht mehr drin..
Dazu kommt natürlich das Problem der Reichtumsmessung (Ehrlichkeit; Bewertung von Luxusgütern, wie Gemälden; Kleinst-Stichprobe ohne reelle Hochrechnungsmöglichkeit;…) Die letzten DIW-Berichte haben ja aus zwei Quellen deutlich unterschiedliche Zahlen bekommen.
Siehe zum Thema Armut
[«*] Till van Treeck, Simon Sturn: Income inequality as a cause of the Great Recession? A survey of current debates, International Labour Office, Genf, 16. August 2012. Download [PDF – 3.5 MB]
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