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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Die Steuerflucht-Mafia bekämpfen
Datum: 18. September 2012 um 9:02 Uhr
Rubrik: Soziale Gerechtigkeit, Steuerhinterziehung/Steueroasen/Steuerflucht, Steuern und Abgaben
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Die versuchte Auswanderung des Inhabers des größten französischen bzw. weltviertgrößten Vermögensimperiums, Bernard Arnault, nach Belgien, liefert ein anschauliches Lehrstück dafür, wie sich die Verhältnisse inzwischen entwickelt haben.
Allen späteren Dementis zum Trotz zeigt das Auswanderungsbegehren des unersättlichen Milliardärs, dass zum Selbstläufer gewordene Geldgier in ihrer Hartnäckigkeit, allgemein geltende Gesetze zu umgehen, die mutmaßlichen Steuerflüchtlinge in die Nähe krimineller Machenschaften rückt.
Steuerflucht ist keine Randerscheinung, sondern zentraler Bestandteil einer Wirtschaft geworden, die unter der Dominanz der Finanzwirtschaft mafiotische Formen angenommen hat. Die Bekämpfung der Steuerflucht hat daher höchste Dringlichkeit als nationales und europäisches Anliegen.
Von Edwy Plenel[*], Originaltitel: Combattre la mafia de l’évasion fiscale
Artikel erschienen am 12. September 2012 in der frz. Online-Zeitung mediapart.fr. Übertragen von Gerhard Kilper.
Historischer Rückblick
1937, nach der Wiederwahl Franklin D. Roosevelts für eine zweite Amtszeit, verstärkten die USA – in einer der heutigen vergleichbaren Wirtschaftskrise – ihren demokratisch und sozial ausgerichteten Neuanfang, während zur gleichen Zeit in Europa Nazismus und Faschismus ihre barbarische Politik bis zum unvermeidlichen Umschlag in den Weltkrieg durchsetzten.
Am 21. Mai 1937 übergab der amerikanische Finanzminister Henry Morgenthau eine Schrift seines Hauses zu Steuerbetrug und Steuerflucht an Roosevelt. Die Schrift belegte, dass in den Jahr für Jahr vorgenommenen Untersuchungen der Steuerbehörden zu Steuereingängen und Einkommen die immer hartnäckigeren Versuche vermögender Privatleute und Unternehmen offenbar wurden, den ihnen nach dem Steuerrecht zukommenden Anteil ans Finanzamt nicht zu bezahlen. Und das obwohl der allseits respektierte Richter am Verfassungsgericht, Holmes, seinen Landsleuten erläutert hatte, Steuern seien „der Preis, der für eine zivilisierte Gesellschaft zu entrichten ist“ – doch leider wollten zu viele Bürger Zivilisations-Rabatt.
Keine Steuern zu bezahlen, zu wenig Steuern zahlen oder sich gar ganz seiner Steuerpflicht durch Flucht zu entziehen – das ist die Karte für eine barbarische Gesellschaft „des jeder für sich“, gegen ein solidarisches Gemeinschaftsleben, das auch für das Wohlergehen eines jeden Einzelnen da ist.
Bei absoluter Durchsetzung der Option des Geldes als Ziel und Maß aller Dinge wird Geld zur ungezügelten Waffe für eine blind gewordene Freiheit. Diese Art von Freiheit zerstört Gemeinschaftsbande und Solidarität, die die Gesellschaft zusammen halten. Wenn man sich alles kaufen kann, kann es keine Grundsätze und keine Werte mehr geben und selbst Gesetze verlieren dann ihre Bedeutung.
Steuern sind nicht der Feind der Freiheit (inklusive der Freiheit, sich zu bereichern), sie zügeln die individuelle Freiheit durch Einbindung des Individuums in einen gesamtgesellschaftlichen Rahmen. Jeder leistet nach Maßgabe seiner Möglichkeiten (wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit) seinen Beitrag zum öffentlichen Reichtum des Gemeinwesens. Grundintention der Errichtung und Betreibung von Schulen, Krankenhäusern, Straßen etc. etc. war und ist, keinen Bürger einer Gesellschaft vom Gemeinschaftsleben auszuschließen.
Wenn sich heute in Frankreich führende Vertreter der Rechten über das Schicksal eines Bernard Arnault aufregen, so zeigt das ihr geringes Interesse für das Gemeinwohl auf der einen und ihre große Fürsorge für einige wenige privaten Interessen auf der anderen Seite. Das war übrigens rechte Politik insbesondere in der 5-jährigen Präsidentschaft Sarkozys: die Masse der kleinen Leute zahlt – bei möglichst breiter Akzeptanz – immer mehr Steuern, die sehr Reichen zahlen immer weniger, um sich immer weiter bereichern zu können …
Aber die Gesinnung der französischen Rechten und ihr Lob illegitimer Praktiken hat in der extremen Radikalisierung der amerikanischen Rechten noch Weiterungen, deren faschistische Versuchungen zur blind gewordenen Fahnenfreiheit geworden sind … und die das Recht des Stärkeren, weil Reicheren, als gesellschaftliche Norm verkündet. Über den historischen Umweg amerikanischer Vergangenheit wird das ganze Ausmaß intellektueller Regression sichtbar (die europäische Aktualität eingeschlossen).
Grund für Morgenthaus Schrift waren geringere als erwartete Steuereinnahmen im Jahr 1936 gewesen. Der Bericht verwies auf die Steuerhinterziehungspraxis reicher Amerikaner, die alles taten, um sich kollektiver Solidarität zu entziehen. Unter Auflistung dieser Praktiken, inklusive besonders auch der Steuerparadiese und unter Nennung der Namen betroffener Milliardäre, prangerte der amerikanische Finanzminister diese Machenschaften als Gaunereien an und stellte sie allen anderen am (gemeinsamen arbeitsteiligen) Wirtschaftsleben beteiligten Steuerzahlern gegenüber – Arbeitnehmern, kleinen Gewerbetreibenden, (Mittelstands-)Unternehmern … Morgenthau schrieb an Präsident Roosevelt „Wir haben noch viel zu viele Fälle von moralischem Betrug, d.h. Steuervermeidung mit als zweifelhaft anzusehenden Begründungen, die keinen wirklichen Bezug zum realen Geschäftsleben haben und derer sich kein anständiger Mensch bedienen würde. Sie haben ihr Regierungsamt mit dem Anspruch angetreten, für mehr Moral im Wirtschaftsleben zu sorgen. Wir brauchen mehr Moral und Anstand in den Beziehungen der Bürger zu Ihrer Regierung … Durchschnitts-Arbeitnehmer und Gewerbetreibende bedienen sich nicht solcher Methoden, die große Masse der Steuerpflichten gibt anständige Steuererklärungen ab. Der Fakt, dass Leute, die sich selbst als Wirtschaftselite sehen, den Fiskus betrügen oder sich ihm entziehen, ist nicht nur für unsere Steuereingänge von Nachteil, sondern auch für die anderen Bürger der Gemeinschaft, die die Machenschaften der Steuerhinterzieher hinnehmen müssen. Durch Steuerhinterziehung der einen erhöht sich die Last der ordentlichen Steuerzahler, die selbst über weniger Mittel verfügen.
Erfolg und Akzeptanz unseres Steuersystems hängen sowohl von einer guten Finanzverwaltung als auch von ehrlichen Steuererklärungen der Steuerzahler ab. Wir können zu Recht von Leuten der Oberschicht mehr Moral und Anständigkeit erwarten, als das bei den Steuererklärungen im Jahr 1936 der Fall war.“
Die Partei des Geldes und die Partei des Verbrechens
Dieser Alarmruf Henry Morgenthaus gegen Betrug und Steuerflucht setzte eine klare und eindeutige New Deal-Politik zur Besteuerung der sehr reichen Bürger in Gang. Roosevelt erklärte 1936, zwei Jahre nach dem Revenue Act, der die Besteuerung der Reichen neu fasste, „Steuern sind der Beitrag, den wir leisten, um das Privileg von Mitbestimmung und Teilhabe an einer organisierten Gesellschaft genießen zu können“.
Bürger mit einem Jahreseinkommen von mehr als 200 000 $ (heute 1 Million $ entsprechend) wurden mit 63% Einkommensteuer besteuert. Durch Gesetzesänderung wurde der Spitzensteuersatz 1936 auf 79% erhöht und erreichte 1941 den Wert von 91%. Fast ein halbes Jahrhundert lang, praktisch bis zu Reagans und Thatchers Konterrevolution, lag der Spitzensteuersatz für die höchsten Einkommen in den USA bei 80%.
Wie es Morgenthau in seiner Zeit unterstrich und wie die heutige belgische Versuchung eines Bernard Arnault zeigt, reicht es nicht, einfach die Reichen stärker zu besteuern, es muss auch verhindert werden, dass sie betrügen, dass sie ihre Vermögen außer Landes bringen, dass Straftäter sich der Strenge des Gesetzes entziehen können und dass das Verbrechen sich im Schutz einer Schattenwirtschaft ausbreitet.
Dass sich in den letzten 40 Jahren Steuerflucht in der globalisierten Weltwirtschaft als Gift einnistete, sich professionalisierte und um sich juristische Sperren aufzubauen vermochte, die Steuerflucht zu einer uneinnehmbaren, nicht transparenten, geheimnisvollen Zitadelle in der Art eines „schwarzen Loches“ machte, diese gefährliche, sich selbst schützende und verstärkende „Mafiatisierung“ der Welt ist keine Kleinigkeit, bei der man zur Tagesordnung übergehen kann.
Man muss kein wirklichkeitsferner Schwärmer oder Agitator sein, wenn man eine Wesensverwandtschaft zwischen der Partei des Geldes und der Partei des Verbrechens behauptet, zwischen Organisationen, die jenseits ihrer sonstigen Unterschiede nur das Gesetz von Profit und Geheimhaltung kennen. Roosevelt nahm sich in seiner berühmten Rede vom 31.Oktober 1936 im Madison Square Garden die „alten Feinde des Friedens“ vor, vor allem „industrielles und Finanzmonopol, Spekulation, unredliche Banken“ und fuhr fort: „… sie begannen die Regierung der Vereinigten Staaten als simplen Appendix ihrer privaten Geschäfte anzusehen. Wir wissen jetzt, dass es genauso gefährlich ist, vom organisierten Geld wie vom organisierten Verbrechen regiert zu werden“.
Roosevelt bekräftigte, das organisierte Geld habe dasselbe Firmenschild wie die organisierte Kriminalität und ging damit weiter als der Kandidat François Hollande mit seiner anonymen Finanzwelt als Feind, die gar nicht so anonym ist … Zu Roosevelts Kampf gegen Steuerbetrug und Steuerflucht gesellte sich auch der Kampf seines Finanzministers Morgenthau gegen Korruption und gegen die organisierte Kriminalität.
Was würden diese – vom Anspruch der Demokratie erfüllten und überzeugten – radikalen amerikanischen Reformer angesichts des heutigen Spektakels ultraliberaler Deregulierungen sagen, die uns nach einigen Jahrzehnten eine Welt beschert haben, in der das Geld König und das Verbrechen dessen Diener ist?
Ja das Verbrechen, die Weigerung, sich an Gesetze zu halten und die Verletzung von Regeln in einem Klima von Feigheit und Unanständigkeit, in dem die Staaten vor der Arroganz der Oligarchien zurückweichen …
So sieht die Realität unserer heutigen Welt als Beute eines entfesselten Kapitalismus – mit Steuerparadiesen als dessen Kern – aus. Diese Verhältnisse sind keine Randerscheinung, keine Ausnahme oder Abweichung, sondern die Norm. Nicholas Shaxson, schrieb 2011 als Autor des neuesten Schwarzbuchs zu diesem Thema: „Steuerparadiese gibt es überall. Mehr als die Hälfte des international abgewickelten Handels wird über sie – zumindest auf dem Papier – abgewickelt. Mehr als die Hälfte aller Bankaktiva und ein Drittel direkter Auslandsinvestitionen der Multinationalen laufen über Off-shore-Finanz-Zentren. Etwa 85% aller internationalen Bankoperationen und Obligationsemission werden über den sogenannten „Euromarkt“ durchgeführt, den staatsfreien Off-shore-Raum.
Der IWF stellte 2010 fest, dass die kumulierte Bilanz kleiner Steuerparadiesinseln sich auf 18.000 Milliarden $ beläuft – ein Drittel des Welt-Sozialprodukts – und dass diese Zahl wahrscheinlich noch zu gering angesetzt ist. Der amerikanische Rechnungshof enthüllte 2008, dass 83 der größten Unternehmen des Landes Filialen in Steuerparadiesen unterhalten. Im folgenden Jahr zeigte eine Untersuchung des unabhängigen amerikanischen Tax Justice Network, dass 99 der 100 größten europäischen Unternehmen an Off-shore-Plätzen Filialen unterhielten. In jedem Land sind Banken diejenigen Gesellschaften, die mit Abstand am häufigsten Kontakte mit Steuerparadiesen pflegen.“
… Gabriel Zucman und seine Kollege Niels Johannesen, Forscher an der Pariser Wirtschaftshochschule zeigten in einer in diesem Monat September 2012 veröffentlichten Studie, dass das angebliche Vorgehen der G20 gegen Steuerparadiese „bis jetzt weitgehend gescheitert ist. Heute gibt es in den Steuerparadiesen genauso viele Gelder wie 2009 und die Finanzfonds zieht es in die am wenigsten kooperativen Steuerparadiese“.
Die Schattenseiten der Globalisierung
Wer weiß, dass heute eine winzige Karibikinsel, die Cayman Islands, das viertgrößte Finanzzentrum der Welt beherbergt? (Diese Frage stellte unser Kollege Christian Chavagneux von „Alternatives économiques“ in der Einleitung zu seinem Buch „Les Paradis fiscaux“, zusammen mit Roman Palan, coll. Repères, La Découverte 2012).
Seit Chavagneuxs Publikation gab es zahlreiche neue Veröffentlichungen zur Rolle dieser diskreten Schatteninseln – auf denen auch der amerikanische Präsidentschaftskandidat Mitt Romney Vermögen angelegt und versteckt hatte…
Nach Chavagneux sind Steuerparadiese gleichzeitig Schattenseiten der Globalisierung und Hauptakteure der großen Finanzkrise seit 2007. Zu Diensten der mächtigsten Finanz-Akteure sorgen sie im globalen Maßstab gleichzeitig für Verschleierung von Finanztransaktionen, für globale Instabilität und Verteilungsungerechtigkeit. Und mit der Verlängerung und Vertiefung der Krise setzt sich Schatten gegen Erhellung und Aufklärung durch.
Das amerikanische Tax Justice Network veröffentliche in diesem Sommer eine Studie die belegt, dass offizielle Schätzungen internationaler Organisationen das Gewicht der Steuerparadiese unterschätzen. Nach diesem unabhängigen Institut betragen die dort versteckten Finanzaktiva nicht schon unglaubliche 17.000 Milliarden $, sondern eher 25.000 Milliarden $, mehr als das Bruttosozialprodukts der USA und Japans zusammen genommen (dabei handelt es sich nur um Finanzaktiva, andere versteckte Aktiva als Investitionen in Immobilien, Yachten, Reitställe oder Kunstwerke sind nicht erfasst).
Ein perspektivischer Irrtum wäre es, zu glauben, es handele sich hier nur um individuelle Fälle einzelner Privater, die Gesetze ihrer Staaten brechen, um sich leichter bereichern zu können. In Wahrheit haben wir ein komplettes System, von den Großunternehmen bis zu den Großbanken, die ihre wirtschaftliche Prosperität über die Illegalität von Off-shore-Plätzen organisieren.
So ließen es sich auch Banken, die seit 2008 ohne Gegenleistung Hilfe des Staates in Anspruch nahmen, allesamt weiterhin in Steuerparadiesen gut gehen. Der jüngste Bericht von CCFD-Terre Solidaire belegt, dass die Präsenz französischer Banken in Steuerparadiesen – trotz oder gerade wegen der Krise – noch zugenommen hat. Bei 7 untersuchten Banken stellte man 547 Filialen in Steuerparadiesen fest, rund 21% ihrer Filialen überhaupt. So haben französische Banken, besonders BNP-Paribas, Crédit Agricole und die Société Générale 24 Filialen auf den Cayman-Islands, 12 auf den Bermuda-Inseln, 19 in der Schweiz, 29 in Hongkong und 99 in Luxemburg.
Doch, wie Chavagneux und Palan zeigen, verlagern neben Banken zunehmend auch Großunternehmen ihre Gelder und ihre Firmen-Finanzpolitik in ihre Steuerparadies-Filialen, wo große Finanztransaktionen oder die Aufteilung weltweit erzielter Gewinne zentral organisiert werden.
So kommt man zu dem Paradox, dass zum Beispiel im Jahr 2008 der größte ausländische Investor in Frankreich nämlich Frankreich selber in Form multinationaler französischer Unternehmen war. Diese investierten in ihrem Heimatland über ihre in Steuerparadiesen ansässigen Filialen – wertmäßig mehr als ausländische Multinationale in Frankreich.
Hinter diesen Zahlen und Praktiken verbirgt sich Diebstahl eines großen Teils unseres arbeitsteilig gemeinsam erzeugten nationalen Reichtums, der umgeleitet und versteckt nicht mehr für das hiesige Gemeinwohl umverteilt werden konnte.
In seiner neuesten Untersuchung zur Steuerflucht aus Frankreich, die zur Einleitung einer gerichtlichen Untersuchung gegen die Schweizer UBS-Bank führte, behauptet unser Kollege Antoine Peillon – ohne Widerspruch oder Dementi – auf seinem Mediapart-blog, dass „die vor dem französischen Fiskus versteckten Aktiva fast den Wert der Höhe der jährlichen frz. Steuereinnahmen haben“ und dass das Steuerflucht-Vermögen von Privatpersonen und Unternehmen „sich auf mindestens 590 Milliarden Euro beläuft, davon allein 108 Milliarden in der Schweiz“.
Mindestens 40 Milliarden Steuer-Einnahmen entgehen dem frz. Staat Jahr für Jahr
Die Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerflucht ist inzwischen keine Nebensache mehr, sondern zum Eckpfeiler der wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen, sowie moralischen Erneuerung unserer Nation geworden.
Jenseits eines legitim hohen Spitzensteuersatzes für die höchsten Einkommen muss die neue Regierung in den ungleichen Kampf zwischen Erwartungen der Mehrheit unserer Bevölkerung und Pflicht-Verletzungen der Oligarchien eingreifen (eine erstklassige pädagogische Gelegenheit für die Regierung übrigens).
Hier sind sich alle Kräfte und Strömungen Frankreichs einig, die Hollande im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen unterstützt haben – das zeigte auch der Bericht der neuen Senats-Untersuchungskommission zur Kapitalflucht ins Ausland und deren fiskalische Wirkung (die 2 Berichtsbände können auf der Internetseite des Senats oder auf dem blog des Berichterstatters Eric Bocquet eingesehen werden).
Dieser unangreifbare Bericht zeigt, dass dem französischen Haushalt durch Steuerflucht mindestens 40 Milliarden € / Jahr, wahrscheinlich aber 50 Milliarden pro Jahr entgehen. Jedenfalls 10 oder 20 Milliarden mehr als die Sparlast von 30 Milliarden €, mit denen die Franzosen zur Haushaltssanierung belastet werden sollen.
Worauf wartet die Regierung noch bei der Übernahme der Erkenntnisse des Senatsberichts und bei der Einleitung einer breiten parlamentarischen Offensive im Kampf gegen die Finanzverbrechen?
Die Lektüre der vielen Anhörungen des Senats zeigt klar den Verlauf der Fronten: auf der einen Seite das von bestimmten hohen Beamten der Finanzverwaltung begünstigte Geschäftsmilieu, das die Volksvertretung von oben herab behandelt und auf der anderen Seite alle die, die auf Ruck und Bewegung durch die neue Regierung hoffen…
Unsere beiden oben zitierten Kollegen Chavagneux und Palan verbrachten viel Zeit mit Senatoren, denen sie in Anhörungen Graphiken und Schemata zur Erläuterung ihrer Untersuchungsergebnisse vorlegten. Nach Chavagnan verlautete aus Kreisen des frz. Finanzministeriums, sowohl bei Privatpersonen als auch bei multinationalen Unternehmen deckten Belgien, die Schweiz, Liechtenstein und Luxemburg zusammen den Hauptanteil des französischen Steuerbetrugs ab.
Der Betrug nistete sich demnach bei uns mitten in Europa ein, Belgien und Luxemburg waren Gründungsmitglieder der EU-Vorläufer-Organisationen. Alle Finanzinvestoren des amerikanischen Haushaltsdefizits haben ihren Sitz in Steuerparadiesen, die von Frankreichs Defizit besonders in Luxemburg, auf den Cayman-Islands und in Großbritannien.
Die französischen Senatoren hörten auch den Finanzrichter Renaud Van Ruymbeke an, der 1996 – mit anderen – einen Aufruf gegen die Verschleierung internationaler Finanztransaktionen durch Steuerparadiese verfasste („Genfer Appell“).
Van Ruymbeke äußerte, damals habe er die Bemerkung eines Schweizer Kollegen nicht so ernst genommen, der sagte: „Steuerbetrug ist ein Riesenproblem“. 16 Jahre später ist er der Meinung, „Steuerbetrug ist eine Sache, die darin verborgene organisierte Kriminalität eine andere. Selbst wenn organisierte Kriminalität nur 1-5% der Steuerflucht ausmachen sollte, bedienen sich beide einer bestimmten Anzahl von Instrumenten, die mit Liberalismus oder Globalisierung zu tun haben. (…) Sobald Gelder die Staatsgrenzen überschreiten, gilt das Gesetz des Dschungels.“
Mediapart fr. versuchte seit seiner Gründung 2008 diese Realität offen zu legen. Offensichtlich gibt es bei den Protagonisten unserer spektakulärsten Recherchen keine hartgesottenen Kriminellen. Es waren Finanzbeamte oder mit Waffenbeschaffung befasste Beamte, Beamte im Verteidigungs- und im Wirtschaftsministerium. In der höheren Gesellschaft etwa die Erbin von Liliane Bettencourt und Bettencourts Bekanntenkreis, Rechtsanwälte, Finanziers, Notare, große Brauereibesitzer, Profi-Politiker; im international agierenden Finanznetz von Ziad Takiedienne traf man auf François Léotard (ehemaliger frz. Verteidigungsminister), Nicolas Bazire (die No. 2 der Arnault-Gruppe), Nicolas Sarkozy, Edouard Balladur (ehemaliger frz. Ministerpräsident), Jean-Francois Copé (der sich zurzeit um den Parteivorsitz der nach Sarkozys Niederlage in die Opposition geratene UMP bewirbt) …
Auch wenn wir uns auf die Affären Karachi (Fregattengeschäft von Balladur/Sarkozy), Woerth-Bettencourt und Takieddine konzentrierten (man könnte noch die Affäre Tapie anfügen), so zeigten doch alle unsere Recherchen einen massiven Zugriff auf Steuerparadiese, die verbreitete Praxis von Steuerbetrug und Steuerflucht. Zusammengefasst könnte man sagen, in diesem privilegierten gesellschaftlichen Milieu Frankreichs ist Gesetzesbruch übliche Praxis und mehr noch, wie selbstverständlich werden gesetzesbrecherische Praktiken in diesen Kreisen auch kulturell akzeptiert (siehe etwa unsere jüngsten Enthüllungen zur Verbindung Takieddine – Barclays Bank).
Der italienische Hilferuf gegen die „obere Mafia“
Der durch seinen juristischen Kampf als unabhängiger Staatsanwalt berühmt gewordene Italiener Roberto Scarpinato erinnert gerne daran, dass die wirkliche Macht, die des Geldes und des Verbrechens sich vermischen, sich gegenseitig kontaktieren oder begegnen, immer eine obszöne Angelegenheit im wirklichen Sinne des Lateinischen „ob scenum“, also abseits der öffentlichen Bühne.
Denn Geheimhaltung ist die Grund-Obszönität der Macht, deshalb sind wir auch über das Bekanntwerden von Machenschaften so verblüfft – egal ob es sich um die Mitschnitte des Hausverwalters im Hause Bettencourt oder um die in den Takiedinne-Dokumenten sich offenbarende Realität geht, um Geldgier, Brutalität und auch primitive Vulgarität der Protagonisten.
Auf öffentlicher Bühne bzw. im institutionellen Handlungsrahmen von Ämtern hebt diese Macht gegenüber der Öffentlichkeit den Schein einer Vertretung allgemeiner Interessen hervor. Aber hinter der Bühne entwickeln die Mächtigen, ohne jede Verstellung, eifrige Geschäftigkeit, Tricks und Arrangements im Namen ihrer brutal-rohen eigenen Interessen.
Mit seinem Buch „Die Rückkehr des Prinzen“ legt Scarpinato ein mit Leidenschaft und Zorn geschriebenes Buch von außerordentlicher Qualität über die „Mafiotisierung“ einer deregulierten Welt vor. Das Buch scheint unverzichtbar, wenn man verstehen will, wie das Wort Mafia zum Allerweltswort unserer heutigen Welt wurde.
In unserer Welt der Gegenwart werden aus der wuchernden Zunahme privater Interessen entstehende Interessenskonflikte unter dem Mantel des Allgemeininteresses bzw. des Gemeinwohls de facto institutionalisiert. So wird der Machtmissbrauch legitimiert, durch Gewöhnung oder Resignation.
Korruption als kulturell akzeptiertes Verhaltensmuster prägt selbst die Ausübung politischer Macht. Die Leitungs- und Vermögenseliten praktizieren Illegalität zum eigenen Vorteile ohne irgendwelche Gewissensbisse.
Nach Scarpinato verbirgt sich hinter den aus kleinen Verhältnissen stammenden Mafia-Killern, der „militärischen Mafia“, von der die Medien berichten, die „obere Mafia“.
Das sind die Nutznießer der Killer-Mafia, die Scarpinato unter Lebensgefahr in seinen Untersuchungen zu entlarven suchte: Politiker, Leute der besseren Gesellschaft und Finanziers.
„Das mafiöse Italien kennt jeder“ schleudern sowohl Scarpinato als auch der Journalist Roberto Saviano (Autor des Buches „Gomorra“) Europa und der Welt ins Gesicht. Saviano wundert sich über Gleichgültigkeit und Sorglosigkeit der Franzosen gegenüber der sehr konkreten Anwesenheit italienischer Mafia-Gruppen in Frankreich, die Hand in Hand gehe mit unserer Nachsicht gegenüber der korsischen Kriminalität.
In der Einleitung der französischen Ausgabe seines Buches schreibt Saviano, „Frankreich ist heute ein Umschlags-, Verhandlungs-, sowie Re-Investitionsplatz der Mafia und ein Platz für die Bildung krimineller Kartelle geworden“ und er wiederholt diese Botschaft in den Medien.
Aber hauptsächlich, meint Saviano, breite sich die untere Mafia mit ihren Praktiken auch in der besseren Gesellschaft aus. So sei das internationale Bankensystem seit der Bankenkrise 2008 nicht sehr wählerisch gewesen, wenn es darum ging, Verbrechergeld weiß zu waschen, um die eigenen Kassen mit neuer Liquidität aufzufrischen.
Das heißt aber auch, dass wir in Frankreich, mit keinen – wie in Italien – von der Exekutive unabhängigen Staatsanwälten in der Problemwahrnehmung hinterher hinken.
Die früheren großen Worte Sarkozys zu Steuerparadiesen, deren schwarze Liste dann wie durch ein Wunder aufgehellt wurde, waren Begleitmusik zu einer allgemeinen Demobilisierung des französischen Staates im Kampf gegen die Finanz- und Wirtschaftskriminalität – egal wo.
Der zentrale französische Antikorruptionsdienst (SCPC), dessen Existenz fast in Vergessenheit geraten war, mutierte zu einer leeren Schale. Dieser Dienst ist jedenfalls, wie ihr Chef heute selbst sagt, eine machtlose Institution.
In diesem Jahr prangerte der frz. Rechnungshof hart die Schwächen von Tracfin als Finanzverwaltungsbehörde zur Bekämpfung der Geldwäsche an. Und auch die OECD ist über das Nachhinken Frankreichs im Kampf gegen die internationale Korruption besorgt und wundert sich über die geringe Anzahl an untersuchten Fällen sowie über das Ausbleiben von Sanktionen.
Zur gleichen Zeit nutzen jedoch die nicht gerade für konfiskatorischen Kollektivismus bekannten amerikanischen Behörden die Wirtschaftskrise zur Stärkung ihres Kampfes gegen Steuerbetrug und Steuerflucht.
In ihrem Visier steht vor allem die Schweiz und ihre Banken, in denen heute über ein Drittel des fehlenden, weil zu ihnen umgeleiteten Weltreichtums deponiert ist. Im Namen staatlicher Souveränität als Grundlage von Steuererhebung und Steuereintreibung schonen die amerikanischen Behörden keine am Wirtschaftsleben beteiligten Privaten, insbesondere die Schweizer UBS-Bank ist ins Visier der US-Justiz geraten. Zugleich startete Amerika ein Programm zur freiwilligen Selbstanzeige von Steuerbetrügern.
Mehr als bisherige Justizverfahren löste an Schweizer Bankplätzen der amerikanische Foreign Account Tax Compliance Act Panik aus, weil er Geldhäuser durch drohende US-Sanktionen zwingen wird, automatisch umfassend alle Informationen über amerikanische Konten in der Schweiz an die USA zu übermitteln. Dieses amerikanische Finanzgesetz wird am 1. Januar 2013 in Kraft treten.
Worauf wartet man noch?
Als Schlussfolgerung seiner Untersuchung über Steuerparadiese (Untertitel „Untersuchung über die Verwüstungen der neoliberalen Finanzindustrie“) warnt Nicholas Shaxson:
„Die Steuerparadiese sind inzwischen der Faktor geworden, der bestimmt, wie politische und wirtschaftliche Macht in der heutigen Welt funktioniert. Sie ermöglichen Privatpersonen, Unternehmen und den reichsten Ländern die Aufrechterhaltung ihrer Privilegien, für die es keine vernünftigen Gründe gibt.
Steuerparadiese sind das Theater, in dem Millionäre gegen Arme, Multinationale gegen Bürger und Oligarchien gegen Demokratien kämpfen und in dem jedes Mal die Reichen gewinnen“.
Anders gesagt, wenn ihnen nicht entschlossen und kontinuierlich der Kampf angesagt wird, besteht keine Möglichkeit eine sozial progressive Politik durchzusetzen und noch weniger, den Nachweis einer solchen Politik als Politik-Option überhaupt zu erbringen. Denn: der Gegner ist unredlich, arglistig, gewalttätig und mächtig, ohne Grenzen und ohne Gewissen – ganz so wie das organisierte Verbrechen.
Literaturangaben
[«*] Edwy Plenel, Jahrgang 1952, von 1980 – 2005 Journalist in der Redaktion von Le Monde,
zuletzt als Redaktionsdirektor; 2008 Mitbegründer der unabhängigen online-Zeitung mediapart.fr
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=14470