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Titel: Es muss nicht immer Budapest sein

Datum: 17. September 2012 um 9:18 Uhr
Rubrik: Demografische Entwicklung, Riester-Rürup-Täuschung, Privatrente, Wertedebatte
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Voriges Jahr kam heraus, dass für die erfolgreichsten Versicherungsvertreter der Hamburg-Mannheimer Versicherung eine Reise nach Budapest mit einer Sex-Party in einem historischen Schwimmbad veranstaltet wurde. 2007 war das und die ca. 83.000 Euro wurden über Umwege auch von uns allen durch Versicherungsbeiträge sowie durch Subventionierungen kommerzieller Altersvorsorgeprodukte mittels Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen finanziert. Später gab es auch ähnliche Reisen nach Jamaica und Mallorca.
Aber es muss nicht immer Budapest, Jamaica oder Mallorca sein. Manchmal reicht auch der Garten einer Frankfurter Apfelweinwirtschaft. Von Martin Betzwieser.

Als ich an einem sonnigen Abend, Ende August dort eine Grüne Soße genoss, wurde ich unfreiwillig Zeuge einer Unterhaltung einer größeren Gruppe von Versicherungsagenten, die dort gemeinsam mit einem hochrangigen Regionalmanager den „Versicherungsvertreter des Monats“ feierten. Von welchem Versicherungskonzern oder von welcher Bank die Gruppe war, weiß ich nicht. Mir ist auch nicht bekannt, wer die Zeche des Abends offiziell bezahlte. Allerdings war das elitäre Gehabe genau so interessant wie die zynische Denkweise über die Kunden, die Bevölkerung also, aber auch über manche Politiker und sogar auch über einige Lobbyisten.

Wofür wurde der Versicherungsvertreter des Monats gefeiert?

Der gefeierte Versicherungsvertreter verkaufte über 300 Riester-Renten in einem Monat, die meisten davon bei zwei Unternehmensveranstaltungen bzw. kurz danach an die dortigen Mitarbeiter. Mit freundlicher Unterstützung von Unternehmensleitung, Betriebsrat und Gewerkschaftssekretär konnte offensichtlich unwidersprochen dargestellt werden, dass die gesetzliche Rente – wenn man Glück hat – gerade noch das Existenzminimum garantieren könne und deshalb ein Auslaufmodell sei. Und natürlich wurde erzählt, dass die Demografie ein längeres Arbeitsleben, niedrigere Renten, eine Entlastung der jüngeren Generationen und auf jeden Fall eine Senkung der Lohnnebenkosten erforderlich mache. In der Runde hörte man erstaunt und erfreut, dass es auf der Unternehmensveranstaltung nicht eine einzige kritische Gegenfrage aus dem Kreis der Teilnehmer gegeben habe.

Gelobt wurde unter anderem, dass für jeden Arbeitgeber das Angebot einer beitragsfreien Entgeltumwandlung verpflichtend sei, wonach ein Teil (Anmerkung MB: bis zu 4%) des Bruttoentgelts – z.B. auch das jetzt das aktuell (Anmerkung MB: noch) auszuzahlende Urlaubsgeld – beitragsfrei in eine Rentenversicherung umgewandelt werden könne. Arbeitgeber – Stichwort „Wettbewerbsfähigkeit“ – und Arbeitnehmer/innen könnten dadurch die teuren und ungeliebten Sozialversicherungsbeiträge alias Lohnnebenkosten sparen und gleichzeitig eine gewinnbringende Altersvorsorge aufbauen. Was sei in Kombination dazu noch attraktiver? Natürlich eine staatlich üppig geförderte Riester-Rente. Das Interesse sei riesig gewesen.

Bedenken wegen sinkender Zinsen angesichts einer weltweiten Finanzkrise wurden u.a. mit dem Argument zerstreut, ein Großteil der Versicherungsbeiträge müsse zwingend in sichere deutsche Staatsanleihen angelegt werden. Fragen nach irgendwelchen nachteiligen Auswirkungen auf die gesetzliche Rente wurden verneint. Diese Argumentation funktioniere eigentlich immer, äußert eine Kollegin aus der Runde. Der Regionalmanager und seine Mitarbeiter freuten sich erkennbar geradezu diebisch darüber, dass die Menschen so naiv und uninformiert seien. So sei bei den beiden Verkaufsveranstaltungen von niemand der Zusammenhang zwischen Kapitalanlagen in deutsche Staatsanleihen und einer deutschen Staatsverschuldung gesehen worden. Die gleichen Politiker, die sich für private und betriebliche Altersvorsorge einsetzen und gesetzlich festlegen, dass ein Mindestanteil der Beiträge in deutsche Staatsanleihen angelegt werden muss, beschließen eine „Schuldenbremse“, stellt der Regionalmanager fest. Fast die gesamte Bevölkerung – so seine weitere Feststellung – sei zu blöd, irgendetwas zu kapieren und das sei ein Grund dafür, warum in den letzten Jahren die Geschäfte so gut liefen und immer noch verhältnismäßig gut laufen.

(Anmerkung in der Sache:
Wer jemals eine Entgeltbescheinigung zur Berechnung von z.B. Krankengeld oder Arbeitslosengeld bearbeiten musste oder selbst betroffen war, der weiß: Bei einer beitragsfreien Entgeltumwandlung werden Sozialversicherungsbeiträge gespart und selbstverständlich sinkt dadurch das sozialversicherungspflichtige Bruttoentgelt und das hat selbstverständlich sinkende Rentenzahlungen und nebenbei im entsprechenden Fall auch sinkendes Arbeitslosengeld, sinkendes Krankengeld, sinkendes Übergangsgeld und vieles andere zur Folge; praktisch jede aus Sozialversicherungsbeiträgen finanzierte Entgeltersatzleistung sinkt dadurch. Aber den Beschäftigten von Unternehmen kann mit ein paar klug entwickelten Prospektsprüchen das Gegenteil erklärt werden und sie schließen offenbar ohne weiteres Nachdenken eine beitragsfreie Entgeltumwandlung ab.)

Der Versicherungsvertreter des Monats freut sich – und alle anderen freuen sich mit ihm – darüber, dass von jedem abgeschlossenen Vertrag sofort ein kompletter Jahresbeitrag an Versicherungsunternehmen und darüber wieder an die Versicherungsvertreter fließt.

(Anmerkung in der Sache:
Schauen wir uns also nur interessehalber die Aufstellung von Verdiensten nach Branche. Ohne, dass wir die Entgelt- und Tarifstruktur der betreffenden Unternehmen kennen, stellen wir uns einmal vor, dass 4% des Sozialversicherungsbrutto für ein gesamtes Jahr an Versicherungsunternehmen und Vertreter gehen – und das von fast 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – wird klar, dass der Ertrag immens ist. Eine Leserin aus der Branche bezeichnete das vor einigen Jahren in einem Kommentar als staatlich subventioniertes „Raubrittertum“.)

Besonders stolz war der Versicherungsvertreter des Jahres auf eine Riester-Rente, die er einer 56jährigen Kundin in einer (Zitat) „Privataudienz“ verkauft habe, sie habe so eine große Angst vor Altersarmut, dass sie sich mit 56 eine Riester-Rente zulegen wollte. Zum Glück wisse sie nicht, dass sie bei den jetzigen Renditeverhältnissen 20 Jahre älter werden müsse als Johannes Heesters, um einen Cent Rendite ausgezahlt zu bekommen. (Anmerkung MB: Das zynische Kunden- bzw. Menschenbild der Versicherungsbranche wird z.B. durch den offensichtlich branchenüblichen Begriff „Mumienvertrag“ deutlich.) Dass Riester-Renten und alle anderen zusätzlichen Altersvorsorgearten bei Altersarmut auf die Grundsicherung angerechnet werden, müsse man nach Aussage des Regionalmanagers natürlich den Kundinnen und Kunden nicht unbedingt gleich auf die Nase binden. Zum Glück wisse das auch fast niemand, obwohl es bereits mehrere Berichte darüber im Fernsehen und in der Zeitung gegeben habe.

Der Regionalmanager rühmte sich weiter, dass er zahlreiche Finanz- Sozial- und Rentenexperten kenne und nannte namentlich Meinhard Miegel, Raffelhüschen, Riester und Rürup sowie die „Heilige Dreifaltigkeit des Versicherungslobbyismus Triple-R“.

(Anmerkung: Zur Erinnerung oder zur Information: Bernd Raffelhüschen, Professor aus Freiburg, Mitglied der Rürup-Kommission, der oft als Sozial- und Rentenexperte sowie Finanzwissenschaftler präsentiert wird, schafft es immer wieder, mit seinem besonderen Vortragsstil Öffentlichkeit und Journalismus einzulullen.
Sein Kommissionspräsident Professor Hans Adalbert (Bert) Rürup war (so die Aussage des Regionalmanagers) eine “geniale Schöpfung” von Politik, Lobby und Wissenschaft. Das SPD-Mitglied zum Vorsitzenden des Sachverständigenrates und des Sozialbeirates der Bundesregierung in Sozial- und Rentenangelegenheiten zu machen, sei eine “brillante Idee” und mache viele Rentenreformen dieser Zeit in weiten Teilen der Bevölkerung glaubwürdig.
Das wussten wir vorher auch, aber es ist interessant, das von einem Versicherungsmanager bestätigt zu bekommen. Auch Rürups Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Versicherungsmogul Carsten Maschmeyer konnte seiner Glaubwürdigkeit in diesem Kreis offenbar kaum schaden.)

Die Einschätzung des Regionalmanagers über Walter Riester, den er als Gastredner mehrerer Veranstaltungen kennen gelernt habe, ist besonders interessant. Zunächst sei es auch ein “genialer Plan” gewesen, den ehemaligen stellvertretenden IG Metallvorsitzenden zum (wörtlich) „nützlichen Idioten“ für eine der tiefgreifendsten Rentenreformen zu machen. Der Regionalmanager habe Riester bei einer dieser Veranstaltungen für dessen gewinnbringenden Einsatz zu Gunsten der Versicherungswirtschaft gedankt, habe aber dafür energische Widerworte geerntet. Demnach – so die Einschätzung des Regionalmanagers – sei Walter Riester immer noch absolut von der Richtigkeit seiner „Reformen“ überzeugt. Nach seiner Zeit als Minister und Bundestagsabgeordneter habe er nichts Schlimmes dabei gefunden, das finanziell Angenehme mit dem seiner Meinung nach immer noch Nützlichen zu verbinden. Mit Vorwürfen des Lobbyismus konfrontiert, reagiere er entsprechend zornig.

Zuletzt ließ der Regionalmanager noch seine Meinung über Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen wissen. Ihr sei es (Verzeihung, wörtlich) „scheißegal“, ob Altersarmut immer weiter zunehme. Ihr Hauptinteresse sei es, sich als soziales Gewissen ihrer Partei zu produzieren. Sie würde aber bei der Notwendigkeit einer zusätzlichen privaten Altersvorsorge nicht wackeln – im Gegenteil. Und dafür müssten wir alle froh und dankbar sein.

Zum Schluss nahm die Lautstärke der Gespräche in der Gruppe erheblich zu, was sowohl an dem auf der Veranstaltung gestärkten Selbstbewusstsein als auch an den größeren Mengen von Sekt, Aperol-Sprizz und „Hugo“ gelegen haben mag. Durch den Lärm schienen auch andere Gäste der Apfelweinwirtschaft auf die Gruppe und auf deren arrogantem Verhalten aufmerksam geworden zu sein. In manchen Gesichtern der anderen Gäste war Ratlosigkeit und Irritation zu lesen, einige Wenige schienen auch zornig geworden zu sein und wieder andere schienen es nicht glauben zu können, was sie da erleben mussten.

Dann wurde am Nebentisch die Rechnung bezahlt – mit wessen Geld auch immer – und die Gruppe verließ feixend das Lokal.

Fazit:

Bestimmt gibt es auch Vertreter/innen bei Versicherungen und Banken, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten ehrlich und respektvoll mit ihrer Kundschaft umgehen. Und sicherlich gibt es auch solche, die trotz ihrer finanziellen Abhängigkeit von den Verkäufen davon überzeugt sind, dass diese Formen der kommerziellen Altersvorsorge richtig sind. Und leider gibt es auch viele Versicherungsvertreter, die Verkaufsquoten erfüllen müssen und gezwungen sind, wissentlich und gegen ihr Gewissen Produkte zu verkaufen, die ausschließlich Arbeit- oder Auftraggebern und Versicherungsvertretern nutzen und der Kundschaft nichts bringen oder sogar schaden.

Aber vielleicht muss gerade wegen solcher Zweifel die Führungsebene der Versicherungsunternehmen den Korpsgeist und die Motivation ihrer Außendienstmitarbeiter durch Ausflüge nach Budapest oder zu anderen exotischen Orten oder wenigstens durch die Bewirtung in einer Apfelweingaststätte stärken. Es ist auffällig, dass gerade bei dieser Berufsgruppe diese Art von „Coaching“ besonders häufig anzutreffen ist.


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