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Titel: Um wessen Demokratie geht es hier?

Datum: 13. September 2012 um 13:51 Uhr
Rubrik: Bundesverfassungsgericht, Verfassungsgerichtshof, Erosion der Demokratie, Europäische Union, Europäische Verträge
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Die Vertreter der Politik und die Kommentatoren der Tagespresse sind sich bei der Bewertung des gestrigen ESM-Urteils des Bundesverfassungsgerichts in einem Punkt einig – die Demokratie wurde gestärkt und das ist gut. Dass es begrüßenswert ist, wenn die Demokratie gestärkt wird, ist freilich ein Gemeinplatz. Die Frage, die sich hier stellt, ist jedoch, wessen Demokratie durch das ESM-Urteil gestärkt wurde – die deutsche oder die europäische? Während der Bundestag durch das Urteil in der Tat mehr Entscheidungsbefugnisse bekommen hat, bedeutet das Urteil für die künftigen Länder als Empfänger von ESM-Krediten keinesfalls mehr Mitsprache und Demokratie – im Gegenteil. Von Jens Berger.

Machen Sie Sich einmal die Mühe und lesen das ESM-Urteil mit all seinen Bezügen auf die demokratischen Grundrechte mit folgender Vorgabe: Deutschland wäre kein ESM-Kreditgeber, sondern ein ESM-Kreditnehmer. Sicher, diese Vorgabe ist unrealistisch. Sie würden jedoch sehr schnell feststellen, dass die Einschränkungen der Rechte des deutschen Bundestages, die sich durch die Übertragung elementarer politischer Rechte auf das supranationale Gremium ESM ergeben würden, nach den Definitionen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts noch nicht einmal im Ansatz mit dem Grundgesetz zu vereinbaren wären. Für die Karlsruher Richter ging es ausschließlich darum, ob die demokratischen Rechte des Bundestages für den Fall gewährleistet sind, dass Deutschland ein ESM-Geberland ist. Dies wäre unproblematisch, wenn die Folgen des ESM-Urteils nur die deutsche Demokratie betreffen würden. Das Gegenteil ist hier jedoch der Fall.

Sollte beispielsweise Italien im nächsten Jahres erkennen müssen, dass es aus eigener Kraft nicht mehr gegen die Finanzmärkte ankommt und Hilfe vom ESM und der EZB benötigt, muss es mit der Europäischen Kommission und der EZB ein sogenanntes „Memorandum of Understandig“ aushandeln. Ob dieses Memorandum Grundlage für die Bewilligung von ESM-Mitteln ist und damit auch die Grundlagen für das Anleiheprogramm der EZB erfüllt, wird vom ESM-Gouverneursrat beschlossen. Der deutsche Vertreter in diesem Gremium ist Finanzminister Schäuble, der – so will es das Bundesverfassungsgericht – sich in seinem Abstimmverhalten an das Votum des Deutschen Bundestags zu halten hat. Ohne die Stimme Schäubles kann der ESM-Gouverneursrat keine Entscheidung fällen, da Deutschland dort eine Sperrminorität hat. Diese Konstellation führt dazu, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu einem Kontrollgremium über die Richtlinien italienischer Politik werden. Ob also Italien beispielsweise seinen Arbeitsmarkt dereguliert, die Renten kürzt und Lehrer entlässt, wird zwar formal in Rom entschieden, die Weichen dazu werden jedoch in Berlin gestellt. Hält sich die italienische Regierung nicht an die Vorgaben, die Deutschland als Bedingung für eine Zustimmung im ESM-Gouverneursrat stellt, kann das Land auch keine Hilfe von ESM und EZB in seinen Kampf gegen die Finanzmärkte erwarten und muss in letzter Konsequenz vielleicht sogar den Staatsbankrott erklären – mit all seinen verheerenden Wirkungen für das Volk.

Diese Abtretung der Entscheidungskompetenz über die Richtlinien der Politik an Gremien, die nicht vom eigenen Volk demokratisch legitimiert wurden, hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil bestärkt. Dank der Informationspflicht und der Mitentscheidungsrechte sind die deutschen Parlamentarier über jede Detailfrage der ESM-Verhandlungen bestens im Bilde und können den Daumen heben oder senken. Wenn man bedenkt, dass im nächsten Jahr in Niedersachsen, Bayern und im Bund wichtige Wahlen anstehen und sich alle Parteien bis auf die Linke gegenseitig darin übertreffen, vom Süden „Sparmaßnahmen“ und „Strukturreformen“ zu fordern, heißt dies nichts anderes, als dass die politischen Leitlinien anderer europäischer Länder Gegenstand des deutschen Wahlkampfs werden.

Dies ist zwar eine Stärkung „unserer“ demokratischen Mitbestimmung – jedoch auf einem Feld, auf dem „wir“ eigentlich nichts mit- und schon gar nichts zu bestimmen haben. Es steht nun einmal weder dem deutschen Wähler, noch dem Deutschen Bundestag zu, das Zepter über die politischen Leitlinien anderer Staaten in der Europäischen Währungsunion zu schwingen. Die Vertreter aller deutschen Parteien begrüßen die „Stärkung der Demokratie“ durch das ESM-Urteil. Damit meinen sie die Rechte des deutschen Bundestages. Wer aber spricht in dem ganzen Durcheinander überhaupt noch von den Rechten der Wähler und vom „nicht antastbaren Gehalt des Demokratieprinzips“ im Land des potentiellen ESM-Kandidaten? Wer schert sich eigentlich noch darum, was die Parlamente in Athen, Lissabon, Dublin, Madrid oder Rom noch zu sagen haben? Niemand, denn bei der ganzen Debatte um den ESM geht es ausschließlich um „uns“, ausschließlich um „unsere Demokratie“, um „unsere Rechte“. Die demokratischen Rechte unserer europäischen Mitbürger in anderen Ländern tauchen da bestenfalls als Fußnote auf.

Ja, liebe Europäer, wir haben in Deutschland unsere Demokratie gestärkt, indem wir Eure Schwierigkeiten nutzen, um Eure Demokratie auszuhebeln. Ihr habt Eure demokratischen Rechte verwirkt, schließlich sind wir ja die Geber und ihr seid die Nehmer. Wir sind die Starken und ihr seid die Schwachen. Findet Euch damit ab, so funktioniert unser (deutsches) Europa.


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