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Titel: Ungehörter Weckruf

Datum: 24. August 2012 um 8:39 Uhr
Rubrik: Denkfehler Wirtschaftsdebatte, Euro und Eurokrise, Europäische Union, Wertedebatte
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Die Eurokrise geht ins dritte Jahr und die immer aussichtslosere Entwicklung hat mittlerweile den Optimismus verdrängt. Man muss leider konstatieren, dass Deutschlands politische und ökonomische Eliten auf ganzer Ebene versagt und aufgrund ihrer ignoranten Borniertheit den europäischen Traum zu Grabe tragen. Sollte die Politik die Verantwortung der Stunde nicht erkennen, steht dem Kontinent eine düstere Periode bevor. Die Geschichte kennt keine Wiedergutmachung, die Weichen für unsere und die europäische Zukunft werden heute gestellt. Es sind jedoch nicht wir, die die Weichen stellen, sondern es sind genau die Eliten, die uns seit Jahrzehnten mit ihren ideologischen Scheuklappen auf diesen Irrweg geführt haben. Anscheinend sind wir dazu verdammt, sehenden Auges ins Verderben zu laufen. Es ist allerhöchste Zeit für einen Weckruf, der aber wahrscheinlich ungehört bleiben wird. Von Jens Berger

Wenn nun sogar schon progressive Geister wie Paul Krugman, Joseph Stiglitz, Nouriel Roubini und Heiner Flassbeck an der Einfältigkeit der Politik und der Unfähigkeit der Ökonomen verzweifeln, und für die Eurozone lieber ein Ende mit Schrecken als einen Schrecken ohne Ende wünschen, ist dies ein Alarmsignal. Leider muss man Flassbeck in seiner Beschreibung des Status quo Recht geben. Deutschlands Politiker und Ökonomen haben es verbockt. Die Eurozone hat den entscheidenden Konstruktionsfehler, dass sie keinen systemimmanenten Schutzmechanismus gegen die Unfähigkeit der politischen Eliten beinhaltet. Die deutsche Politik hat die europäische Idee aus den Augen verloren und nicht erkannt, welche Chancen eine Gemeinschaftswährung bietet und welche Wirtschafts- und Finanzpolitik notwendig ist, um Europa wirtschaftlich zusammenwachsen zu lassen. Die orthodoxe Ökonomie hat diese Notwendigkeiten ebenfalls nicht erkannt, sie sieht den Staat immer noch als eine Mischung aus einem großem Unternehmen und einem Störfaktor für die freien Märkte. Den Unterschied zwischen einer Volkswirtschaft und einem Unternehmen haben viele der „Starökonomen“, die der Politik ihre Weisheiten ins Ohr flüstern, nie verstanden. In einer Demokratie sollte der Wähler das letzte Korrektiv für solche Fehlentwicklungen sein. Aber wie sollen die Bürgerinnen und Bürger das erkennen, was die Politiker nicht erkennen, wenn sie tagaus, tagein von der nachplappernden Journaille verblödet, ja geradezu chauvinistisch aufgestachelt werden? Natürlich gibt es sie, die Anständigen, die Mahner, die Kritischen, die Nachdenker; ihr Einfluss auf die öffentliche Debatte und die real existierende Politik geht jedoch in Deutschland gegen Null.

Ist es angesichts dieser düsteren Realität nicht besser, die Segel zu streichen, in die innere Emigration zu gehen und sich selbst zu entpolitisieren? Vielleicht ja, schon viele ehemalige Mitstreiter sind in den letzten Jahren diesen Weg gegangen und man kann ihnen daraus sicherlich keinen Vorwurf machen. Es gehört schon ein gehöriges Maß an Idealismus und Leidensfähigkeit dazu, jeden Tag eine Mischung aus Sisyphos und Don Quijote abzugeben. Wer jedoch vom Ideal getrieben ist, die Welt für seine Kinder zu einem besseren Platz zum Leben zu machen, darf nie aufhören für dieses Ziel zu kämpfen. Wie nötig dieser Kampf ist, begreift man wohl erst, wenn man einen Blick in die Zukunft wirft. Wie sähe ein Europa aus, das den Weg des Endes mit Schrecken geht?

Ein europäisches Schreckensszenario

Will man bei Flassbecks Metapher vom Paar, das sich auseinander gelebt hat, bleiben, sollte man ergänzen, dass einer der Partner z.B. ein chronisch Alkoholkranker sein könnte. Die Partnerschaft kann in diesem Kontext der letzte Halt sein, obgleich solche Partnerschaften für die gesunde Hälfte stets eine schwere Belastungsprobe darstellen. In den seltensten Fällen wird aber ein Alkoholkranker nach einer Trennung trocken, sondern greift meist erst recht nach der Flasche. Die Flasche nach der Deutschland gegriffen hat, ist die Exportfixierung. Durch eine Rückkehr zur D-Mark würde diese Krankheit keinesfalls geheilt – im Gegenteil. Die Aufwertung der neuen deutschen Währung würde vielmehr dazu führen, dass sich das Land noch stärker am neoliberalen Gift berauscht und nur die Dosis der Droge erhöht. Durch eine Aufwertung der D-Mark um 50% gegenüber Resteuropa wären nämlich plötzlich die Lohnkosten nicht mehr konkurrenzfähig und man benötigt keine ausgeprägte Phantasie, um sich die öffentliche Debatte in einer solchen Situation vorzustellen. Wer jahrzehntelang die Binnenkonjunktur ignoriert und nur auf den Export geschielt hat, wird, ja er kann sich gar nicht über Nacht umbesinnen, nur weil er eine neue, stärkere Währung hat. Auf Deutschland würde, wie Flassbeck es zutreffend schreibt, ein Tsunami der höchsten Kategorie zurollen. Die Zerstörungskraft dieses Tsunamis wäre gewaltig – zu den Millionen zusätzlichen Arbeitslosen käme auch noch eine wohl historisch einmalige Pleitewelle, da nicht nur die Banken, sondern auch die Unternehmen und die Privathaushalte Forderungen in Billionenhöhe abschreiben müssten. Oder glaubt irgendwer ernsthaft, dass die ehemaligen „Euroschuldner“ ihre Schulden in einer um 50% aufgewerteten deutschen Nationalwährung tilgen würden oder könnten? In einem solchen Szenario wäre vor allem der übergebliebene Rest des Sozialstaats dem Sperrfeuer der neoliberalen Heckenschützen ausgeliefert. Um „wettbewerbsfähig“ zu bleiben, müssten die Löhne dramatisch „gedrückt“ werden. Deutschland würde unweigerlich in eine Krise schlittern, die historisch ihresgleichen sucht. Wer glaubt, dass die Demokratie in einer solchen Situation gestärkt wird und Deutschlands Eliten dem Volk mehr Mitsprachrecht geben, beleidigt die Geschichte durch einen Mangel an Phantasie [1].

Deutschland hat stets nur dann eine harmonische Rolle im europäischen Konzert eingenommen, wenn es zuvor zurechtgestutzt wurde und zu schwach für einen ausgelebten Nationalismus war. Die deutschen Eliten würden sich ihr eigenes Scheitern nie eingestehen und Vorlagen für neue Dolchstoßlegenden gibt es ebenso viele wie potentielle Sündenböcke, auf die man die Schuld fürs eigene Versagen abladen könnte. Ein Ende der Eurozone würde Deutschland in eine tiefe Krise katapultieren und man wird Schuldige suchen und finden – zu den heißen Kandidaten zählen Südeuropäer und Franzosen, die ja durch ihren Schlendrian die Eurozone zerstört hätten, und im Inland die Sozialisten, die mit ihrem Sozialstaat, ihrer Konjunkturpolitik und ihrer Schuldenmacherei Deutschland erst in diese Situation getrieben hätten und natürlich die Amerikaner, deren Banken uns (angeblich) die Krise beschert haben. Auch sozial Benachteiligte und Migranten werden es in diesem neuen Deutschland sicher nicht einfach haben. Wer dieses Deutschland haben will, soll den Finger heben. Frau Merkel? Herr Schäuble? Herr Sinn? Tun Sie sich keinen Zwang an.

Keine Gewinner, nur Verlierer

Aber auch für den Rest Europas wäre eine Trennung keinesfalls der Aufbruch in ein neues goldenes Zeitalter. So sehr wie Deutschland vom Export abhängt, hängen die anderen Staaten von ihrer Binnenwirtschaft ab. Wären Frankreich, Spanien und Italien Volkswirtschaften, die maßgeblich vom Export von Rohstoffen, Industriegütern oder Dienstleistungen leben würden, wäre eine Abwertung der Währung nicht unbedingt ein großer Nachteil. Alle diese Länder leben jedoch vor allem von ihrer Binnenwirtschaft und eine Abwertung der Währung wäre hier konzentriertes Gift. Man bedenke nur, um wie viele Milliarden die Binnennachfrage alleine aufgrund der währungsbedingten Inflation bei Energie, Rohstoffen und Nahrungsmitteln wegbrechen würde. Genauso wenig wie aus Deutschland – vorausgesetzt dies wäre überhaupt politisch gewollt – binnen weniger Jahre eine Volkswirtschaft mit starker Binnenwirtschaft werden kann, können Länder wie Griechenland, Italien oder Portugal binnen weniger Jahre zu exportstarken Fabriken der Welt werden. Vor allem dann nicht, wenn die Zollunion wegfällt und der Protektionismus ein Revival erlebt, wovon in einem „Post-Euro-Europa“ auszugehen ist.

Wir stehen am Scheideweg. Borniertheit, Ignoranz und ideologische Scheuklappen haben uns dorthin gebracht. Hätten Politiker und Ökonomen die Menetekel wahrgenommen, wäre es nie so weit gekommen. Stattdessen haben wir uns lieber eine Scheinrealität aufgebaut, nun müssen wir den Preis zahlen – und dieser Preis wird hoch sein.

Geschichte ist nicht vorherbestimmt

Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sich ein Ende des Euros lediglich auf ökonomische Fragen auswirken wird. Wenn es niemandem besser und allen schlechter geht, wird man Schuldige suchen und die Schuld immer beim Anderen finden. Die Häme und die Niedertracht, mit dem dieses neue Deutschland dem Süden gegenübertritt und die neue alte Feindschaft, die dem heutigen Deutschland mit immer lauterem Echo aus dem Süden entgegenhallt, sind wohl nur das Donnergrollen für das katastrophale Unwetter, das einem Zusammenbruch der Eurozone folgen wird. Ehe wir´s uns versehen, könnten wir schon bald in einem Europa der sich befeindenden Nationalstaaten aufwachen – einem Europa des frühen 20. Jahrhunderts, mit dem Unterschied, dass wir uns nicht wie weiland vor 1914 in einer „belle époque“ mit einer florierenden Wirtschaft befinden, sondern am Rande des Abgrunds.

Niemand kann vorhersagen, welchen Weg die Geschichte gehen wird, wenn das, was in den letzten 60 Jahren an Gemeinsamkeit in Europa gewachsen ist, wieder auseinanderbricht. Auch das hier geschilderte glatte Gegenteil einer europäischen Utopie, also eine Dystopie, ist nur eine Möglichkeit von vielen. Wenn wir den Weg, den wir momentan beschreiten, aber weitergehen, wird diese Dystopie jedoch zu einer sehr realistischen Möglichkeit. Können wir Deutschen, können das die Europäer wollen? Vielleicht ist es ja schon zu spät, eine Wende zu vollziehen. Vielleicht ist es ja auch unmöglich, gegen die Windmühlen der Borniertheit, Ignoranz und der ideologischen Scheuklappen anzukämpfen. Ja, vielleicht sind die Weichen für unsere Zukunft auch schon blockiert und wir sind dazu verdammt, sehenden Auges in eine Katastrophe zu laufen. Vielleicht ist das alles so. Herausfinden können wir dies nur, wenn wir weiterhin unser Bestes tun und unsere Stimme dagegen erheben – auch wenn sie wahrscheinlich ungehört bleibt. Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche [2].

“Die einzige Pflicht, die wir der Geschichte gegenüber haben, ist, sie umzuschreiben.”
Oscar Wilde


[«1] Zitat Marion Gräfin Dönhoff

[«2] Zitat Ernesto „Che“ Guevara


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