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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Jahrzehntelang galt für die CDU Deutschland nicht als Einwanderungsland, jetzt stellt die Union plötzlich fest, dass wir ein Auswanderungsland sind.
Datum: 17. Juli 2006 um 9:22 Uhr
Rubrik: CDU/CSU, Hochschulen und Wissenschaft, Innen- und Gesellschaftspolitik
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
„Während in den letzten Jahren viel darüber geschrieben und gestritten worden ist, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist, hat sich im Windschatten fast unbemerkt eine ganz andere Entwicklung vollzogen: Deutschland wird zum Auswanderungsland!“ Und, oh Schreck, bei den Auswanderern handle es sich um „Menschen, die Leistungsträger in unserer Gesellschaft werden könnten und müssten: Wissenschaftler, Handwerker, Ingenieure.“ So wird Roland Koch in Bild am Sonntag vom 16.07.06 zitiert.
Auch die Bundesforschungsministerin Anette Schavan und Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger und die üblichen Alarmisten, also Arbeitgeberpräsident Hundt und Industrie-Präsident Thuman, blasen in der BamS Alarm.
Auch gegen die Abwanderung des ´Humankapitals` haben unsere Alarmisten ihre immer gleich lautenden Allheilmittel: „Neben dem Abbau von bürokratischen Hürden bei der Unternehmensgründung auch attraktivere Steuersätze, niedrigere Sozialabgaben und ein günstiges soziales Umfeld.“ „Kürzere Planungszeiten, schnellere Genehmigungsverfahren“ oder „Aufbruchsstimmung“ fallen einigen auch noch ein. Man kann die Herrschaften vermutlich nachts aufwecken und mit jedem beliebigen ernsthaft zu diskutierenden Problem konfrontieren, noch im Halbschlaf würden sie gebetsmühlenhaft ihr immer gleiches Sprüchlein aufsagen. Wir hatten in den NachDenkSeiten schon über die McKinsey-Studie berichtet, wonach weit mehr als die Hälfte der Studierenden Abwanderungsgedanken hegen.
Die Motive der befragten Diplomanden, unserem Land den Rücken zu kehren, waren jedoch ganz andere, als dass sie mit der von unseren Alarmisten angebotenen neoliberalen Litanei abgebaut werden könnten.
Die Neigung zur Republikflucht hängt offenbar mit verbreiteten Zweifeln zusammen, ob man für sich von einer gesicherten und vor allem zufrieden stellenden Zukunft in Deutschland ausgehen kann.
Werte wie Frieden (92 Prozent), Bürger- und Menschenrechte (91 Prozent), Umwelt-/Naturschutz (87 Prozent) sowie gleichauf soziale Wärme/menschlicher Zusammenhalt und Kinder/Familie (je 86 Prozent) und die Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit (79 Prozent), Bürger- und Gemeinsinn (71 Prozent), Vereinbarkeit von Beruf und Familie (79 Prozent) sowie Arbeitsplatzsicherheit (73 Prozent) stehen für die jungen Leistungsträger im Vordergrund ihrer gesellschaftlichen Wunschvorstellungen.
Bei solchen Zukunftswünschen dürften bei unseren künftigen „Leistungsträgern“ die von unseren Alarmisten angebotenen gesellschaftspolitischen Marterinstrumente nur noch mehr Fluchtreflexe auslösen.
Über die Hintergründe der drastischen Zunahme an Auswanderungen und der für Deutschland typischen Hysterie haben wir uns auf den NachDenkSeiten unlängst schon unsere eigenen Gedanken gemacht.
Roland Koch fiel allerdings noch etwas Zusätzliches ein: „Wir brauchen mehr Freiheit an den Hochschulen, damit Wissenschaftler sich entfalten und ihr Wissen nutzbar machen können.“
Endlich mal ein origineller und vor allem ein auf die Auswanderungswilligen bezogener Vorschlag, könnte man meinen.
Nun bringen aber doch unsere Ministerpräsidenten seit Jahren unseren Hochschulen eine Freiheit nach der anderen. Die Freiheit, Studiengebühren zu erheben, die Freiheit, sich als Elite-Universitäten aufzuspielen, die Freiheit, sich wie Unternehmen zu betätigen – etwa mit dem „Hochschulfreiheitsgesetz“ in NRW -, die Freiheit von angeblicher staatlicher Gängelung, die Freiheit zu leistungsorientierter Besoldung, die Freiheit mit neuen Studiengängen allen modischen Trends nachzurennen, die Freiheit von der akademischen Selbstverwaltung durch ein „new public management“ oder die Freiheit des Wettbewerbs untereinander.
Aber alle diese Freiheiten scheinen nichts zu nutzen. Gerade die jungen und die besten Wissenschaftler wandern aus.
Vielleicht sollten sich unsere durch die Föderalismusreform für die Hochschulen jetzt nahezu ausschließlich zuständigen Ministerpräsidenten einfach mal weniger über die Wettbewerbsfreiheit und über die Unternehmerfreiheit von Hochschulen und betriebswirtschaftlichem Effizienzkult Gedanken machen, sondern endlich mal wieder darüber, wie man die Wissenschaftsfreiheit und die wissenschaftliche Freiheit von jungen Wissenschaftlern stärken könnte. Gerade dieser Tage konnte man über eine Bertelsmann-CHE-Studie lesen, wonach die Einführung der Juniorprofessur zum Flop gerät. Das Hochschulrahmengesetz wollte mit dieser neuen Personalkategorie Wissenschaftlern in früherem Lebensalter mehr Freiheit für selbständige wissenschaftliche Tätigkeit eröffnen. Waren es nicht gerade die konservativ regierten Länder Bayern, Sachsen und Thüringen, die gegen die bundesweite Einführung der Juniorprofessur klagten und mit Unterstützung der Standesvertretung der Ordinarien, dieses Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht wieder einkassieren ließen?
Berichten nicht nahezu alle jungen Wissenschaftler, die aus Deutschland etwa in die USA oder nach England ausgewandert sind, dass der größte Gewinn an Freiheit gegenüber dem deutschen Muff der Ordinarienuniversität die Arbeit ihm Team und das Fehlen der Hierarchien sind?
Ist die Freiheit des Wettbewerbs tatsächlich ein Stimulans für wissenschaftliche Kreativität – vor allem wenn Wettbewerb nicht um wissenschaftliche Qualität stattfindet, sondern sich in der Einwerbung von Geld aus Forschungsaufträgen von Dritten ausdrückt? Wer jemals in Auftragsforschungsprojekten gearbeitet hat, weiß doch, dass dabei eher die Zahl der beschriebenen Blätter Papiers und auftragskonforme Ergebnisse als wissenschaftliche Qualität, Kreativität und Originalität zählen.
Ist die Freiheit zu kurzfristigem unternehmerischem Profit- und Verwertungsdenken tatsächlich eine Maxime für eine freie und unabhängige Wissenschaft und vor allem für wissenschaftliche Qualität? Oder ist wirkliche und innovative Wissenschaft nicht gerade dadurch gekennzeichnet, dass ihre Ergebnisse nicht vorhersehbar, ungewiss und prinzipiell widerlegbar sind, und sich gerade deshalb dem Profitdenken entziehen, ja sogar entziehen sollten, damit Wissenschaft nicht zur Ideologie verkommt – wie wir das zunehmend erfahren müssen.
Nein, Herr Koch, es geht um eine andere Freiheit an den Hochschulen als die, an die Sie denken. Als junger Wissenschaftlicher würde ich vor Ihrer Freiheit, die die grundgesetzlich garantierte und vom Staat zu gewährleistende Wissenschaftsfreiheit durch den irrationalen Zwang des Marktes und der zweckrationalen, aber unwissenschaftlichen Effizienz des Wettbewerbs ersetzt, auch ins Ausland fliehen.
Über Ihren bornierten Freiheitsbegriff, den Sie über unsere Hochschulen stülpen wollen, könnten wirkliche Elite-Universitäten, die Sie doch so sehr anstreben, nur milde lächeln.
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