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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Auch gravierende Fehler und Fehleinschätzungen werden hierzulande nicht bestraft. Beispielhaft: Steinmeier, Steingart und Sinn.
Datum: 14. August 2012 um 14:34 Uhr
Rubrik: „Lohnnebenkosten“, Denkfehler Wirtschaftsdebatte, Euro und Eurokrise, Wettbewerbsfähigkeit
Verantwortlich: Albrecht Müller
Heute sind die Medien voll von Meldungen (S.a. hier) über einen wahrscheinlichen Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands von rund 163 Milliarden €. Damit hat sich seit dem Jahr 2000 ein Leistungsbilanzüberschuss von weit über 1 Billion angesammelt. Das erinnert an Einschätzungen und politische Forderungen zum Ausbau der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft, die ca. zehn Jahre zurückliegen. Es sind gravierende Fehleinschätzungen, die mitverantwortlich sind für die Ungleichgewichte in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen und insbesondere für die Krise im Euroraum. Den falschen Propheten und Falschberatern hat dies nicht geschadet. Das liegt vor allem daran, dass die meisten Medien eng mit der Fehleinschätzung verflochten sind und die Wissenschaft von der Ökonomie unter einem schon des Öfteren beschriebenen Mangel an welfareökonomischer Bildung leidet. Albrecht Müller.
Das Kanzleramtspapier vom Dezember 2002
Steinmeier war Chef des Bundeskanzleramtes, als Ende Dezember 2002 ein Papier das Licht der Welt erblickte, das unter der Chiffre „Kanzleramtspapier“ firmierte. Das Papier war eine Art Einleitung für die dann beginnende Diskussion zur Agenda 2010. Eines der Kernanliegen war offensichtlich der Druck auf die Löhne und auf die Entwicklung der „Lohnnebenkosten“. Im Papier stand zu lesen:
„Wie schädlich steigende Lohnnebenkosten sind, zeigt die Entwicklung seit der Wiedervereinigung: 1990 betrugen die Beitragssätze zur Sozialversicherung noch 35,5%. Bis 1998 waren sie auf den historischen Höchstwert von 42% gestiegen. Im gleichen Zeitraum ist die Arbeitslosigkeit von 2,6 Mio. auf 4,28 Mio. Arbeitslose im Jahresdurchschnitt gestiegen. Die Zahl der Erwerbstätigen ging von 38,5 Mio. auf 37,2 Mio. in 1997 zurück.
Deswegen … ist eine der Kernstrategien der Bundesregierung die auf eine Absenkung der Lohnebenkosten abzielende Modernisierung der sozialen Sicherungssysteme.“
Zehn Jahre später stellen wir fest, dass diese Politik insgesamt die zuvor schon erkennbare Stagnation der Löhne fortgeführt hat und auch die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme und ihre Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. Das, was man heute Niedriglohnsektor nennt, kombiniert mit der Erosion der sozialen Sicherungssysteme hat die Wettbewerbsfähigkeit erhöht und damit zum langsam dramatisch werdenden Ungleichgewicht der internationalen Wirtschafts- und Währungsbeziehungen beigetragen.
Der Ruf des für das Kanzleramtspapier verantwortlichen Chefs des Bundeskanzleramtes Steinmeier hat darunter genauso wenig zu leiden gehabt wie der Ruf des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder.
Dieser Vorgang ist insofern aktuell und relevant, als der potentielle Spitzenkandidat der SPD vermutlich auch heute nicht über seinen damals angelegten Schatten springen können wird. Wenn man eine solche Fehleinschätzung hinter sich hat, dann braucht man schon sehr viel Charakterstärke, um zuzugeben, dass dies eine Fehleinschätzung mit fatalen Folgen war.
Angesichts der Medienlage muss Steinmeier auch nicht mit Sanktionen von ihrer Seite rechnen. Auch nicht von Seiten der anderen etablierten Parteien und der Mehrheit der Wissenschaft. Sie lagen und liegen bis heute ähnlich falsch.
Gabor Steingart: Der Abstieg eines Superstars (2003)
Der damalige Chef des Spiegelbüros Berlin, Gabor Steingart, veröffentlichte wenige Monate nach Erscheinen des Kanzleramtspapiers, also in der Phase der Einführung der Agenda 2010, ein dramatisch daher kommendes Buch. Er sah den industriellen Kern der Bundesrepublik Deutschland wegschwimmen. Hier ein Auszug aus dem Text der Amazon.de-Redaktion:
“Das Urteil des Autors ist schonungslos: Die deutsche Erfolgsstory ist längst zu Ende. Einst als Musterschüler gepriesen, verabschiedet sich die Bundesrepublik zunehmend aus dem Kreis der führenden Volkswirtschaften.“
Heute ist der Autor Chefredakteur des Handelsblatts, also wahrlich nicht in der Versenkung verschwunden. Seine damalige grobe Fehleinschätzung hat ihm nicht geschadet, vermutlich auch deshalb nicht, weil sein Buch zusammen mit ähnlichen Veröffentlichungen seiner Partner Stefan Aust und Claus Richter die Funktion hatte, den neoliberalen Reformen den Weg zu bereiten und sie publizistisch zu begleiten. Da dies auch eine große Zahl anderer Kolleginnen und Kollegen so hielt, muss er bis heute nicht mit Kritik an seiner groben Fehleinschätzung rechnen.
Hans-Werner Sinn: Ist Deutschland noch zu retten?
Erscheinungstermin: 2003.
Hier der Auszug aus Amazons Kurzbeschreibung:
„Deutschland ist zum kranken Mann Europas geworden. Das Bildungssystem ist miserabel, die Wettbewerbsfähigkeit katastrophal.“
Dem „besten Ökonomen Deutschlands“ ist 2003 gleich ein doppelter Fehler unterlaufen – zum einen die zitierte grobe Fehleinschätzung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands im Vergleich zu den USA, zum andern die Verwechslung von Exporten und Importen bei der Darstellung der Weltmarktposition der beiden Länder im Vergleich.
Darüber habe ich in „Machtwahn“ berichtet. Dieser Text wurde am 11. Mai 2006 als Auszug aus „Machtwahn“ betreffend Prof. Sinn, Seiten 248-251 wiedergegeben.
Prof. Sinn hat dann mit einem Buch über die „Basarökonomie“ auf der gleichen Linie nach gelegt. Es hat ihm bis heute nicht geschadet, obwohl er auf der Seite der Wissenschaft einer der Hauptverantwortlichen für die Fehlentwicklung ist.
Wer sich etwas ausführlicher mit der Frage der Wettbewerbsfähigkeit und den Einlassungen des Prof. Sinn befassen will, findet einen immer noch aktuellen Text in „Die Reformlüge“. Auch diesen Text haben wir in den NachDenkSeiten wiedergegeben. Siehe hier.
Man konnte alles wissen über die Fehlentwicklung – über das Auseinanderlaufen der Wettbewerbsfähigkeiten und die Gefahren für den gemeinsamen Währungsraum, den Euroraum.
Der oben zitierte Text stammt von 2004. Aus dieser Zeit gibt es eine Reihe warnender Texte von Heiner Flassbeck. Ich selbst habe mich in „Machtwahn“ (2006) konkret zu dem absehbaren Problem geäußert. Dort heißt es auf Seite 113 und 114:
„Fazit: Die wirtschaftlichen Folgen der neoliberal bestimmten Wirtschaftspolitik in Deutschland sind jetzt schon gravierend. Man kann in einem Land wie Deutschland nicht eine die Nachfrage abwürgende und nur auf den Export zielende Politik betreiben, ohne die Währungsunion zu gefährden und/oder den Partnerländern eine ähnlich verrückte Stagnationspolitik zuzumuten. Wenn die sich abzeichnenden währungspolitischen Auswirkungen tatsächlich eintreten, könnte sich unsere Situation noch erheblich verschlechtern.“
Dieser Text erschien im März 2006. Nach weiteren sechs Jahren stehen wir vor dem prognostizierten Scherbenhaufen. Und wiederum wird der Wahnsinn von Wissenschaft und Publizistik gedeckt. Ein besonders gravierendes Beispiel für diese Ignoranz findet sich heute in der FAZ:
Außenhandel Ungleichgewichte
FAZ 13.08.2012 · Deutschlands Exportüberschuss ist nochmals gestiegen. Jetzt wird wieder über angebliche „Ungleichgewichte“ debattiert. Verfehlt ist eine solche Diskussion vor allem dann, wenn sie Überschüsse und Defizite als gleichermaßen problematisch anprangert.
…
Von Philip Plickert
Lesen Sie diesen kurzen Text. Nach Meinung des Autors haben die „Marktkräfte“ zu den hohen Überschüssen in Deutschland geführt. Er hat nicht verstanden, dass in der Tat Defizite und Überschüsse die beiden Seiten der gleichen Medaille sind. Und er sieht keinen Grund zur Sorge. Da muss man doch wohl fragen dürfen:
Kann sich die FAZ keine besser ausgebildeten Wirtschaftsredakteure leisten?
Zur besseren Ausbildung würde gehören, dass Ökonomen nicht nur in Geldgrößen zu denken vermögen, sondern auch in „real terms“. Sie müssten die Theorie der Marktwirtschaft von der optimalen Allokation der Ressourcen lernen.
Dann würden sie begreifen, dass auf Dauer angesammelte Exportüberschüsse verschenkter Wohlstand sind. Wir leben gravierend unter unseren Verhältnissen und wir richten in der aktuell gegebene Situation auch noch den Schaden an, dass wir Arbeitslosigkeit exportieren. Wenn man nicht in monetären Größen, sondern in realen Größen denkt, dann weiß man, dass man Forderungen gegen amerikanische Importeure nicht essen kann und sich damit auch nicht kleiden kann. Im Denkfehler Nummer 17 „Wir leben vom Export“ (Die Reformlüge) ist mehr dazu gesagt. Auch diesen Text haben wir ins Netz gestellt.
Es bleibt noch anzumerken, dass die zuvor genannten Personen keinesfalls einzigartig sind. Es gibt zuhauf ähnliche Texte und Einlassungen von Angela Merkel, von Schäuble, von Steinbrück, usw. Fehleinschätzungen sind sozusagen die Regel. Und das Ausbleiben der Strafe/Sanktion gegen Fehlberatung und Fehlentscheidung ist auch die Regel.
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