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Titel: Zur Denkschrift der EKD über Armut in Deutschland.

Datum: 13. Juli 2006 um 8:53 Uhr
Rubrik: Bildungspolitik, Kirchen/Religionen, Ungleichheit, Armut, Reichtum, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland schließt seinen Frieden mit dem wirtschaftspolitischen Kurs der Bundesregierung. Er macht viele moralisch und theologisch begründete Vorschläge zur Armutsbekämpfung und zur gerechten Teilhabe an der Gesellschaft. Über die Bekämpfung der Ursachen von Armut und Ausgrenzung schweigt er sich in seiner Denkschrift leider weitgehend aus.

Es ist höchst anerkennenswert, dass die Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland den Armutsbegriff über die schiere materielle Armut hinaus um den Mangel an „gerechter Teilhabe“, um die „umfassende Beteiligung Aller an Bildung und Ausbildung sowie an den wirtschaftlichen, sozialen und solidarischen Prozessen der Gesellschaft“ ergänzt und erweitert. Es ist gerade in einer Zeit, wo der Freiheitsbegriff als individuelle, noch mehr als unternehmerische Freiheit politisch usurpiert wird, gut, wenn eine starke gesellschaftliche Kraft wie die Evangelische Kirche die Bedeutung der Solidarität für eine nachhaltige und gerechte wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung hervorhebt.

Gut zwanzig der achtzig Seiten lesen sich wie ein Armutsbericht einer parlamentarischen Enquetekommission und viele Passagen stünden auch einem Kommissionsbericht von Bildungsexperten gut zu Gesicht.
Den Überlegungen und Vorschlägen über Armutsbekämpfung und Bildungsförderung kann man in vielen Punkten nur zustimmen. So etwa, dass das Thema Armut nicht vom Thema Reichtum getrennt werden könne oder dass der entscheidende Risikofaktor zur Herausbildung von Armut die in Deutschland über die letzten 30 Jahre beständig angewachsene Arbeitslosigkeit sei. Bemerkenswert ist die Kritik an der Berechnung der Regelsätze für die Sozialhilfe, wo sich die Vermutung aufdränge „leitend für das Berechnungsverfahren sei weniger die Ermittlung eines angemessenen Existenzminimums sondern vielmehr die erwartete Belastung der öffentlichen Haushalte gewesen“.
Unterschreiben kann man auch den Satz, dass wenn die Summe der Sozialleistungen für eine Familie „höher liegt als das Nettoeinkommen eines Vollzeit Arbeitenden, von dem eine ganze Familie ernährt wird“ dies „aber nicht eine Absenkung der Leistungen für Familien begründen“ dürfe, sondern „zu einer Diskussion um die Ausgestaltung des Niedriglohnbereichs einschließlich einer differenzierten Diskussion der erhobenen Forderung nach Mindestlöhnen führen“ müsse. Ein Niedriglohnsektor dürfe kein Bereich werden, „in dem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch eine sich stets nach unten bewegende Lohnspirale ausgebeutet werden.“

Wo es nicht genügend Nachfrage nach Arbeit gebe, müsse „schon um der Menschen willen auf öffentliche geförderte und wo nötig auch auf direkt öffentlich bereitgestellte Arbeitsplätze zurückgegriffen werden.“ Ein zweiter oder gar dritter Arbeitsmarkt dürfe kein Tabu sein.

Auch für die Bildungspolitik wird Richtiges angemahnt:
„Zu den Schlüsselfragen einer erfolgreichen Sozialstaatsstrategie gehört ein energisches Setzen auf Bildung – einschließlich der frühkindlichen Bildung in Kindertagesstätten – und Weiterbildung.“
Heftige Kritik wird daran geübt, „dass der Schulerfolg eines Kindes vergleichsweise zu sehr von seiner sozialen Herkunft und zu wenig von seinen Begabungen bestimmt wird“.
Es wird sogar an bildungspolitischen Tabus gerüttelt: „Unter dem Aspekt der Schaffung eines armutsverringernden Bildungssystems“ müsse „über die Kultur des drei- und mehrgliedrigen Schulsystems in Deutschland diskutiert werden. In keinem vergleichbaren Industrieland gliedert sich das Schulwesen im Ergebnis so rigide wie in Deutschland. Nirgendwo sonst fallen die faktischen Entscheidungen über künftige Lebenschancen in so jungen Jahren. Es scheint einiges dafür zu sprechen, dass es vor allem die Notwendigkeit der schnellen Selektion der Schüler in den meisten Bundesländern nach nur vier Jahren ist, die den auch entsprechenden Druck bei den Lehrern verschärft und so zur problematischen Gesamtsituation beiträgt.“

Selbst die viel gefeierte (neue) Familienpolitik der Bundesregierung bekommt „ihr Fett weg“: „Der Schwerpunkt dieser (familienpolitischen) Aktivitäten liegt in der Erleichterung der Situation relativ besser Verdienender. Die große Zahl von Kindern in Armut werden durch diese Maßnahmen nicht erreicht und nicht besser gefördert. Ihnen hilft nach aller Erfahrung auch nicht die Erhöhung von materiellen Leistungen als solches, sondern vor allem die Bereitstellung institutioneller Förderleistungen. In dieser Hinsicht ist der kostenlose Zugang zu Kindertagesstätten vom zweiten Lebensjahr an der richtige Weg“.

Die Denkschrift widerspricht all denjenigen, die soziale Gerechtigkeit in eine formale „Chancengerechtigkeit“ umdeuten wollen: „Ohne materielle Verteilungsgerechtigkeit läuft Chancengleichheit ins Leere… Der Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit bleibt daher von großer Bedeutung, denn wenn Menschen in die Situation geraten, kein eigenes Einkommen erzielen zu können, ist der Anspruch auf materielle Basissicherung die Voraussetzung dafür, weiter gehende, nichtmaterielle Unterstützung überhaupt nutzen zu können.“ (S.8ff)

Statt eines bloß formal gerechten Angebots an Chancen im Sinne einer „Befähigungsgerechtigkeit“, nach dem Prinzip „Jedem das Seine“, müssten über die „solidarisch gewährte materielle Unterstützung“ hinaus „von staatlicher Seite aktivierende und unterstützende Hilfen und insbesondere wirksame Bildungsmöglichkeiten bereitgehalten werden, um eine breite Teilhabe der betreffenden Menschen an der Gesellschaft zu sichern bzw. wiederherzustellen.“
Im Mittelpunkt aktivierender und unterstützender Hilfen müsse „die auf allen Ebenen, insbesondere aber durch das Bildungssystem zu leistende Vermittlung von Kompetenzen“ stehen. Diese Kompetenzen sollten „vor allem auf die Entwicklung von Eigenverantwortung und Solidarität.“ Hier liege der Schlüssel für eine wirksame Armutsbekämpfung.

Es ist geradezu raffiniert intelligent, um nicht zu sagen typisch für den staatsorientierten deutschen Protestantismus, wie hier die reformerischen Begriffe vom „aktivierenden“ oder „vorsorgenden“ Sozialstaat, das „fördern“ und das – meist nur repressiv eingesetzte – „fordern“ oder der bloße Appell an die „Eigenverantwortung“ umgedeutet werden, in die Forderung nach „aktivierenden Wegen mit dem Ziel, Menschen dabei zu helfen, wieder für sich selbst sorgen zu können.“ Es ist der Versuch dem überwiegend finanzpolitisch motivierten Umbau des Sozialstaats das konstruktive Konzept iner „teilhabefreundliche Erneuerung des Sozialstaates“ entgegen zu stellen.

An manchen Stellen wirkt es geradezu penetrant, wie die Autoren der Denkschrift versuchen, sich begrifflich an den allgemeinen Reformjargon anzuschmiegen und ihn inhaltlich im Sinne einer protestantischen Sozialethik umzudeuten.

All das, was hier lobend erwähnt worden ist – und es gäbe einiges mehr hinzuzufügen – kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Denkschrift mit all ihren unterstützenswürdigen Vorschlägen und Appellen, sich wirtschaftspolitisch voll und ganz an das vorherrschende angebotsorientierte ökonomische Dogma angepasst hat.
Man hat an manchen Passagen geradezu den Eindruck als wären da Texte aus den Schubladen, des die Denkschrift verlegenden Bertelsmann-Konzerns oder aus dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) dazwischen gemischt worden. Letzteres wäre auch kein Wunder der der Vorsitzende der die Denkschrift vorbereitende Kammer der EKD für Soziale Ordnung Gert G. Wagner kommt aus diesem Stall.

Die Denkschrift verlangt eine „enge Verzahnung von Sozial-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik“. Warum eigentlich nicht auch und gerade der Wirtschaftspolitik?

Während einleitend von der „teilhabefreundliche Erneuerung des Sozialstaates“ gesprochen wird, heißt auf weiter hinten „es braucht einen entschiedenen Umbau“. (S.51)
Es brauche „Impulse, um die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und die Beschäftigungsspielräume zu erweitern.“ (S.52) Man tut also so, als wäre die Wettbewerbsfähigkeit und nicht etwa die stagnierende Binnennachfrage unser Problem.

Da ist plötzlich nicht mehr davon die Rede, dass Arbeit „als ein Teil des von Gott gegebenen Auftrags an den Menschen“ ist, sondern es heißt im üblichen Jargon, dass „eine weitere Verteuerung des Faktors Arbeit kontraproduktiv wäre“. Und: „Ohne eine spürbare Senkung der Abgaben auf Arbeit droht legale Beschäftigung auch künftig in vielen Fällen zu teuer zu sein, droht die Schattenwirtschaft weiter zuzunehmen .“ Das könnte man auch wortgleich in den Denkschriften des DIHK nachlesen.

Geradezu aus einem Bertelsmann-Ranking abgeschrieben sein, könnten Behauptungen wie etwa: „Im internationalen Vergleich zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen einer guten Beschäftigungslage eines Landes und einer niedrigen Belastung der Arbeitsverhältnisse,…durch lohnbezogene Sozialabgaben.“
Wie selbstverständlich wird als „vorteilhaft“ unterstellt, „Arbeitsverhältnisse stärker von der Belastung durch Sozialabgaben zu befreien und die Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme verstärkt und nachhaltig über Steuern sicherzustellen.“ Der Mythos von den zu hohen Lohnnebenkosten findet nun also seine theologischen Weihen.
Der Einzelne werde sich „für den Erhalt seines jeweiligen Wohlstandsniveaus gegen zusätzliche Risiken stärker selbst sichern müssen.“ Es gebe die „Notwendigkeit verstärkter privater Vorsorge“.
Auch bei der Alterssicherung wird für eine „stärkere Mischung von Umlage- und Kapitaldeckung“ plädiert und einfach behauptet, „dass stärker gemischte Deckungsstrategien offenbar eine stabilere Abgabenentwicklung für Erwerbstätige und Unternehmen ermöglichen“. (S. 55)
Auch bei der EKD hat also die Kampagne der Versicherungswirtschaft zur Ruinierung der gesetzlichen Sozialversicherungssysteme und die Propaganda zur privaten Versicherung ihre Wirkung offenbar nicht verfehlt.

„Die für 2005 beschlossene Zusammenlegung der Hilfsangebote aus der früher getrennten Arbeitsförderung und Sozialberatung und vor allem die intensivierte, ganzheitliche Beratung ist …ein grundsätzlich richtiger Weg. Er muss aber konsequent und für die Betroffenen spürbar umgesetzt werden.“
Die Hartz-Reformen werden also abgesegnet. Ist es aber wirklich „gerechte Teilhabe“, wenn jahrzehntelang Beschäftigte nach Hartz IV künftig schon nach einem Jahr in die Bedürftigkeit und damit in den von der Denkschrift selbst kritisierten Zustand der Armut fallen.

Und im Sinne der herrschenden Wirtschaftslehre darf natürlich auch nicht fehlen: „Unverzichtbar ist eine wirkliche Verringerung der Staatsverschuldung, deren Ausmaß schon heute die kommenden Generationen in einer unzumutbaren Weise belastet.“ (S. 58) Kein Wort darüber, warum die jahrelange Konsolidierungspolitik scheitern musste und zu welchen sozialpolitischen Konsequenzen die bisherige Sparpolitik geführt hat.

Einen besonders zynischen Ausrutscher sogar ins patriarchalische Denken des 19. Jahrhunderts leistet sich die Denkschrift gegenüber den alleinerziehenden Müttern:
„Sorgfältig muss bedacht werden, ob angesichts schlechter Bildungs- und Berufsperspektiven die Gefahr besteht, dass höhere finanzielle Transfers über der Armutsrisikogrenze (also über 1.219 Euro pro Monat) dazu beitragen könnten, dass es für junge Frauen aus ärmeren Familien und mit schlechten Berufsperspektiven attraktiv erscheint, zur Hebung oder Sicherung des eigenen Lebensstandards ein Kind zu bekommen, anstatt den langfristig nachhaltigen Weg einer möglichst guten Ausbildung zu gehen. (S. 34)

Man könnte auch dafür, dass die EKD ihren Frieden mit der herrschenden neoliberalen ökonomischen Lehre geschlossen hat, viele weitere Beispiele anfügen.

Nun könnte man einwenden, das Einschwenken auf den Agenda-Kurs und seiner Vertiefung durch die Große Koalition sei doch vorbildlich, nur so könnte man doch konstruktive Vorschläge machen und mitgestalten. Da sollten sich doch die Linken und die „traditionalistischen“ Gewerkschaften doch mal ein Beispiel an den Kirchen nehmen.

Schön wär`s ja, wenn das so einfach wäre.
Hat nicht gerade diese Art der Wirtschaftspolitik, an die sich der Protestantismus jetzt anpasst, zur Zunahme des Armutsrisikos und der Armut geführt?
Haben die in der Denkschrift für richtig gehaltenen Hartz-Gesetze nicht für Millionen von Menschen so erhebliche Verschlechterungen gebracht, dass ihnen die materielle Basis für „Teilhabe“ weitgehend entzogen wurde?
Hat nicht die einseitig auf die Verbesserung der Kapital- und Vermögenseinkommen ausgerichtete Lohn- und Steuerpolitik zu einem guten Teil dazu beigetragen, dass – wie in der Denkschrift beklagt – die „Gesellschaft nicht mehr als gerecht erlebt wird“?
Wie will man ohne eine aktive Konjunktur- und Beschäftigungspolitik das größte Armutsrisiko, nämlich die Arbeitslosigkeit und die Senkung der Löhne unter die Armutsgrenze bekämpfen?
Wie will man ohne eine aktive Wirtschaftspolitik die Anknüpfungspunkte für eine „aktivierende“ Arbeitsmarktpolitik schaffen? (Wo blieb denn bei Hartz das „Fördern“ nach dem „Fordern“?)
Oder wie soll ein Staat, der die Steuern für die Vermögenden und Besserverdienenden am laufenden Band senkt und auch dadurch immer weniger Geld für Bildung investieren kann, die materiellen Voraussetzungen für eine „teilhabegerechte“ und „armutsverringernde“ Bildungsförderung schaffen?
Fragen über Fragen, die man an die meisten der in der Denkschrift genannten Vorschläge richten müsste.

Der Rat der Evangelischen Kirch in Deutschland bietet mit seiner Denkschrift zur Armut in Deutschland viele gut gemeinte moralische Appelle und theologisch begründete Vorschlage. Er mischt sich in das „politische Geschäft“ ein – wie Bischof Huber betonte -, aber es ist ein Einmischen durch die Anpassung, um nicht zu sagen Anbiederung an das derzeitige politische Geschäft des Kurierens an den Symptomen und nicht bei der Bekämpfung der Ursachen der Armut in Deutschland.
Über die Bekämpfung der Ursachen der Armut schweigt sich die Denkschrift leider weitgehend aus.


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