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Titel: Michel Rocard über die gesellschaftspolitische Fremdbestimmtheit Europas

Datum: 25. September 2004 um 15:50 Uhr
Rubrik: Europäische Union, Europäische Verträge, Neoliberalismus und Monetarismus, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Auszug aus dem in der “Le Monde” vom 22.9.04 erschienen Artikel von Michel Rocard “De l’Europe, du socialisme et de la dignité”

Michel Rocard ist PS-Politiker und war Ministerpräsident unter Mitterand; im Artikel begründet er der sein „ja“ zum Referendum über die europäische Verfassung und entwickelt dabei „seine“ Analyse des Wirtschaftsgeschehens seit dem 2.Weltkrieg (Übersetzung von Gerhard Kilper)

„… So wie sich die EU bis heute entwickelt hat, ist sie einigen Leuten durch die fortgeschrittene Integration schon zu mächtig geworden. Diese Kräfte versuchen deshalb, den weiteren Integrationsprozess zu stoppen oder zurück zu drehen. Dazu gehören die nationalistischen Souveränitätsfanatiker in Europa, vor allem aber die amerikanische Administration unter Bush wünscht sich ein schwächeres Europa, konnte sie doch wegen dem Euro nicht mit finanziellen oder anderen wirtschaftlichen Sanktionen auf die Irak-Krieg-Haltung Frankreichs und Deutschlands antworten…

Eine ganz andere Entwicklung, die an sich nichts mit dem europäischen Integrationsprozess zu tun hat, beeinflusst jedoch das Leben der Europäer in sehr viel schwerwiegender Weise: es ist die weltweite und massive Änderung der Regeln und Funktionsweisen des Kapitalismus, der nach dem 2. Weltkrieg schon gezähmt schien. Zusammen mit der, von der rasanten Entwicklung der Technik ausgelösten Globalisierung, scheint der gewandelte Kapitalismus politisch kaum mehr kontrollierbar zu sein.

Der marktwirtschaftliche Kapitalismus ist an sich ein sehr effektives Wirtschaftssystem, jedoch über seine Konjunkturzyklen grundsätzlich instabil und in sozialer Hinsicht ohne gesellschaftliche Korrekturen grausam.

Im kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Neubeginn nach dem Krieg hatten wir 30 Jahre lang eine Phase erstaunlicher wirtschaftlicher Stabilität mit kontinuierlichem Wirtschaftswachstum und stetem sozialem Fortschritt.

Diese Stabilitätsphase beruhte im Wesentlichen auf drei anerkannten Regularien der Wirtschafts- Finanz- und Sozialpolitik der entwickelten Länder:

  1. Die politische Umsetzung der von Keynes entwickelten, antizyklischen Wirtschafts- und Finanzpolitik mit ihrem magischen Viereck – fern vom heutigen, formal-sturen Haushaltsgleichgewicht
  2. Eine auf der Grundlage dieser Politik von Beveridge entwickelte Sozialpolitik: der Aufbau eines stabilen sozialen Netzes sollte nicht nur den (sozialistischen) Grundsätzen von Humanität und Solidarität Genüge tun, das Sozialsystem sollte darüber hinaus -über den von ihm ausgehenden, permanenten Konsumimpuls- die Konjunktur dauerhaft stabilisieren und rezessiven Tendenzen vorbeugen
  3. Henry Fords Empfehlung: „Zahlt den Arbeitnehmern hohe Löhne, wenn ihr wollt, dass die Leute eure Produkte kaufen!“

Mit diesen drei anerkannten wirtschafts-finanz- und sozialpolitischen Grundsätzen hatten wir 30 Jahre lang keine Wirtschaftskrise und kontinuierliches Wachstum bis in die 1980-er Jahre. Doch dann kam Milton Friedman und arbeitete mit einer Gruppe von Chicagoer Professorenkollegen eine angeblich „neue“ Doktrin der Wirtschafts- und Finanzpolitik aus, die folgenden „alten Hut“ verkündete:

Nach Jahrtausenden der Armut ist die Menschheit heute reich und wohlhabend geworden. Warum? Weil wir das freie Unternehmertum und den Kapitalismus erfunden haben. Die treibende Kraft dieses Wirtschaftssystems aber ist der Gewinn. Folglich: wenn die Gewinne noch mehr steigen, wird das System noch leistungsfähiger werden. Also: lasst uns alles das beiseite schaffen, was die Gewinne beeinträchtigen kann: Steuern, Soziallasten, arbeitsrechtliche Schutzgesetze, Staatsunternehmen und einen aufgeblähten öffentlichen Dienst.

Wird die Doktrin auf alle Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft übertragen, existieren überall Teilmärkte; in jedem dieser Teilmärkte wird schließlich das vom Marktmechanismus hergestellte Gleichgewicht zu optimalen Ergebnissen führen und – logischerweise schadet jede Intervention des Staates dem gesellschaftlichen Fortschritt!

Diese simple „neue“ Philosophie, die eigentlich ein uralter Schinken ist, eroberte in Rekordzeit die Gehirne der Eliten in den Industrieländern und in der internationalen Finanzwelt. Politische Parteien, Wähler, Regierungen von Amerika über Fernost bis Europa, ja internationale Institutionen übernahmen die Maxime der Friedmanschen Ideologie und versuchten und versuchen sie politisch umzusetzen.

Das Ergebnis: 20 Jahre nach dem Verschwinden der drei Regularien einer vernünftigen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik sind die Reichen reicher geworden und die sozialen Ungleichheiten enorm angewachsen, sowohl innerhalb der Länder als auch im Nord-Süd-Vergleich.

Das Phänomen Massenarmut, das in den entwickelten Ländern bereits besiegt schien, macht sich wieder breit, Politiker verkaufen Einschränkungen der Leistungen der Sozialsysteme als „mutige Heldentat“ und bisher selbstverständliche Leistungen der Öffentlichen Hand werden ohne öffentliche Debatte einfach abgeschafft, die Wirtschaftsentwicklung ist wieder instabil geworden – in den letzten 15 Jahren gab es weltweit mindestens 5 große Finanzkrisen. Auch die ersten Ansätze nachhaltigen Wirtschaftens und des Umweltschutzes wurden (verstärkt seit dem Amtsantritt Bushs) wieder aufgegeben, die Rohstoffreserven der Welt werden wieder ohne Rücksicht auf Umweltbelange im Schnellgang ausgebeutet, die drohende Klimakatastrophe scheint nur noch eine Nebenrolle zu spielen…

Die EU und ihre Institutionen haben diese katastrophale Entwicklung nicht zu verantworten, aber sie erleiden sie. Auslöser der Entwicklung waren jeweils nationale Kräfte, die eine Politik sozialer Grausamkeiten in ihren Ländern in Gang gesetzt haben, in Europa wie auf den anderen Kontinenten.

Die EU wurde ursprünglich mit der Idee der Vernetzung durch freien Warenverkehr und einer Öffnung zur ganzen Welt hin gegründet – was in der Epoche der drei Regularien für die Europäer nur Vorteile brachte. Da diese Grundsätze heute nicht mehr gelten und da auch die politischen Kräfte in Europa nicht den Willen haben, gegen das Friedmansche System anzukämpfen, erleidet Europa zur Zeit voll die Konsequenzen des Friedmanschen Neoliberalismus.

So sinkt überall in Europa der Anteil der Löhne am Volkseinkommen, die Löhne steigen nur noch langsam oder stagnieren gar in manchen Ländern, das soziale Netz wird Schritt für Schritt verkleinert und die Arbeitslosigkeit bleibt unverändert auf hohem Stand (aufgrund der demographischen Entwicklung ist es völlig unvernünftig, wenn jetzt vorhandene Arbeitskraft und Kapazitäten brach liegen).

Der eigentlich humanitäre Charakter des kontinentaleuropäischen Kapitalismus (genannt „Soziale Marktwirtschaft) ist heute im Begriff zu verschwinden und vom wesentlich brutaleren anglo-amerikanischen Kapitalismus abgelöst zu werden…“

© “Le Monde”

Rocard begründet danach sein „ja“ zur Verfassung im Referendum damit, dass in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik nur durch das Gewicht einer abgestimmte EU-Politik eine Änderung herbeigeführt werden könne, die zwar aufgrund der konservativen Mehrheiten zurzeit nicht in Sicht sei, aber bei europaweiten sozialdemokratischen Mehrheiten sehr wohl möglich sei. Jedenfalls könne sich ein einzelnes Land heute nicht allein erfolgreich gegen den neuen Kapitalismus stellen. Er legt weiter dar, dass nach seiner Meinung ein Scheitern der Verfassung die Dominanz der Bush-Regierung weiter stärken würde.

Anmerkung Albrecht Müller zum vorletzten Absatz: So angepasst und fremdbestimmt sich die sozialdemokratischen Parteien Europas in den letzten 2 Jahrzehnten gegeben haben, teilweise ganz eng an den USA orientiert wie Blair, wie Polen, früher Craxi, etc.), ist die Hoffnung von Rocard als sehr fragwürdig zu betrachten. Aber warum soll man nicht mehr von einer besseren Zukunft träumen dürfen. – Das bleibt trotz der Qualität seines Textes ansonsten leider anzumerken.


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