NachDenkSeiten – Die kritische Website

Titel: Was vor 20 Jahren Verschwörungstheorie war, ist heute eine unbestrittene Tatsache

Datum: 13. Juli 2012 um 9:13 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Rechte Gefahr, Terrorismus
Verantwortlich:

Vor neun Monaten erfuhren wir, dass die zwei toten Männer im Campingwagen nicht nur routinierte Bankräuber, sondern vor allem Mitglieder einer neonazistischen Terrorgruppe namens ›NSU‹ waren, von deren Existenz keine staatliche Stelle etwas gewusst haben will.
Seither gibt es eine Flut von Medienberichten und zahllose journalistische Recherchen, die sich um Aufklärung bemühten. Die These, der Grund für den „blinden Staat“ sei ein Verkettung von Versäumnissen, Pannen und persönlichen Unzulänglichkeiten lässt sich kaum noch halten. Ein Verfassungschef nach dem anderen tritt zurück, ein Dominoeffekt wird befürchtet, ein Systemabsturz.
Die Gefahr, dass man aus diesem organisierten Versagen eben nicht die Stärkung jener Geheimdienste ableiten kann, sondern ihre Auflösung, bringt aber nun Aufklärungs- und Verdunklungswillen wieder zusammen. Soweit will es niemand kommen lassen, bei allem Bedürfnis nach Quote und Auflagesteigerung. Jetzt heißt es, als Regierung und Opposition zusammenzuhalten und das erschütterte Vertrauen in den Verfassungsschutz in einer Blitzheilung wiederherzustellen. Von Wolf Wetzel.

Zwischen ›blindem‹ und ›tiefem‹ Staat

»Ungereimtheiten, Widersprüche und Rätsel begleiten viele Affären. Und wenn man Skandale durchs Mikroskop betrachtet, wächst gewöhnlich das Grauen. Aber ein solches Staatsversagen wie im Fall der Zwickauer Terrorzelle ist schon eine Rarität. Dafür muss es Gründe geben: Versagen von Amts wegen, enorme Schlamperei – oder doch eine Kumpanei einiger Staatsdiener mit einer Mörderbande?«

(Chaostheorie, Süddeutsche Zeitung vom 5.7.2012)

Vor neun Monaten erfuhren wir, dass die zwei toten Männer im Campingwagen nicht nur routinierte Bankräuber, sondern vor allem Mitglieder einer neonazistischen Terrorgruppe namens ›NSU‹ waren, von deren Existenz keine staatliche Stelle etwas gewusst haben will.

Herrschte über ein Jahrzehnt Ahnungslosigkeit, so wurden wir in der Folgezeit mit einer Flut von Medienberichten konfrontiert, die Fakten, Indizien, Auszüge aus bislang geheim gehaltenen Akten an die Oberfläche spülten, über die alle Verfolgungsbehörden, von Polizeidienststellen, über Landesämter des Verfassungsschutzes, bis hin zu Bundesbehörden (BfV, BKA, GBA) den Teppich des Schweigens ausgebreitet hatten.
Alle großen Medien beteiligten sich an dieser Aufklärungsarbeit, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung. Die BILD-Zeitung interviewte einen SOKO-Chef, der der offiziellen Version von den tödlichen Ereignissen am 4. November 2011 deutlich widersprach, die Süddeutsche Zeitung und die Frankfurter Rundschau zitierten aus geheim gehaltenen Unterlagen, die der offiziellen Version, man habe keine ›heiße Spur‹ zu den NSU-Mitgliedern gehabt, eklatant widersprachen. Auch einige Fernsehsender beteiligten sich mit eigenen Recherchen daran, wie die ZDF-Dokumentation, die die Eltern von Uwe Böhnhardt ausführlich interviewte und die massive Behinderung der Aufklärung des Mordes 2006 in Kassel durch den damaligen hessischen Innenminister Bouffier belegen konnte.

Nun scheint sich aber der Wind in vielerlei Hinsicht zu drehen: Zum einen gibt es jetzt doch Verantwortliche für den Umstand, dass einer der bestausgerüsteten Gewaltmonopole in Europa über zehn Jahre keine Ahnung von den abgetauchten Mitgliedern des Thüringer Heimatschutzes/THS gehabt haben will, obwohl dieser von so vielen V-Männern durchsetzt war, dass man heute mit dem Zählen nicht nachkommt. Aktuell mussten der Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz/BfV und des Thüringer Verfassungsschutzes ihre Ämter aufgeben. Aber jetzt wird ein Dominoeffekt befürchtet, ein Systemabsturz. Denn die These, es handele sich bei alledem um Versäumnisse, Pannen und persönliche Unzulänglichkeiten lässt sich kaum noch halten.

Die Gefahr, dass man aus diesem organisierten Versagen eben gerade nicht die Stärkung jener Geheimdienste ableiten kann, sondern ihre Auflösung, bringt nun Aufklärungs- und Verdunklungswillen wieder zusammen. Soweit will es schließlich niemand kommen lassen, bei allem Bedürfnis nach Quote und Auflagesteigerung. Jetzt heißt es, als Regierung und Opposition zusammenzuhalten und das erschütterte Vertrauen in den Verfassungsschutz in einer Blitzheilung wiederherzustellen.

Die umbrella-man-Theorie – der Rettungsschirm der Aufklärer?

Auch medial wird das Ruder wieder herumgerissen. In der Politsendung ›Panorama‹ vom 5.7.2012 kommt ausführlich das Ehepaar Temme zu Wort. Im Zentrum steht die Rolle des hessischen Ex-Verfassungsschutzmannes Andreas Temme, der zur selben Zeit in jenem Internet-Café in Kassel war, als der türkische Besitzer hingerichtet wurde. Lässt man die Bilder und Worte auf sich wirken, hat man nur eines: Mitleid mit einem Verfassungsschutzmann, der seinen Job verloren hat, mit seiner Ehefrau, die alles mit ertragen musste und dennoch und jetzt erst recht zu ihm hält. Am Ende dieses Beitrages erscheint das Opfer nicht der türkische Internet-Besitzer, sondern Andreas Temme, der all dem wehrlos ausgeliefert ist.
Gemeinsames Fazit der Panorama-Redakteure und des Ehepaares Temme: am falschen Ort, zur falschen Zeit! An allem anderen sind die Medien schuld.

Am selben Tag überrascht auch die Süddeutsche Zeitung mit einem ganzseitigen Artikel:

»Chaostheorie – Gibt es in Deutschland einen ›Tiefen Staat‹ – also eine Zusammenarbeit von Behörden und Rechtsextremisten?«

Der Titel liegt noch ganz auf der kritischen Linie der Redaktion und macht neugierig. Was dann jedoch folgt, ist eine ganzseitige Selbstidiotisierung, auf scheinbar hohem Niveau. Man lässt die Story im Jahr 1963 beginnen, als John F. Kennedy ermordet wurde. In der Elm Street in Dallas, wo das Attentat geschah, wurde ein Mann unter einem Regenschirm gesehen, der einzige an diesem recht warmen, himmelblauen Tag. Angeblich ranken sich um diesen ›umbrella man‹ zahlreiche Geschichten, bis heute: »Eine der vielen bis heute umlaufenden Verschwörungstheorien besagt, dass Kennedy aus dem Regenschirm heraus erschossen wurde.«

Dann folgt ein großer Zeitsprung und wir landen im Jahr 2012 – in Deutschland. Die Redakteure John Goetz, Hans Leyendecker und Tanjev Schultz wollen zwei Wiedergänger ausfindig gemacht haben. Der erste ›umbrella man‹ ist der Leiter der Referatsgruppe 2b im Bundesamt für Verfassungsschutz, der die Vernichtung der Akten über die ›Operation Rennsteig‹ auf sich genommen hat.

Der zweite Wiedergänger ist der bereits erwähnte ehemalige hessische Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme. Was sollen der umbrella man und die Beiden gemeinsam haben? Bis die Redakteure darauf eine Antwort geben, lassen sie uns Leser noch eine ganze Weile zappeln. Bevor die Auflösung kommt, werden noch einige bekannte Merkwürdigkeiten aufgezählt, die eine wie auch immer geartete Zusammenarbeit zwischen Behörden und Neonazis begründen könnten.

Welchen Schluss sie daraus ziehen, verrät ganz Ende der Plot, ein erneuter Zeitensprung in die USA: »Jahre nach dem Attentat in Dallas auf den damals mächtigsten Mann der Welt sagte er (der umbrella man, d.V.) im amerikanischen Kongress aus. Er brachte seinen Schirm mit und erklärte, er habe ihn damals nur als Zeichen des Protests verwendet.«

Was will uns diese Parabel sagen? Der umbrella man in den USA, der BfV-Referatsleiter und der hessischen Verfassungsschutzmitarbeiter sind Opfer missverständlicher, unglücklicher Umstände! Ganz in diesem Sinne hat der Ex-Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme auch das letzte Wort:

»Ich war ganz einfach der falsche Mann am falschen Ort.«

Ganz einfach!?
Ein vielleicht literarisch gekonntes Plädoyer für einen Freispruch, der sich auf jeden Fall mit einem messen lassen kann: mit dem Aufklärungswillen der Verfolgungsbehörden.
Selbstverständlich handelt es sich auch hier um einen reinen Zufall: Der Mitredakteur John Goetz des Artikels in der Süddeutschen Zeitung war auch Mitredakteur bei der erwähnten Panorama-Sendung vom 5.7.2012.

Haben die Aufklärer plötzlich Angst vor der eigenen Courage bekommen? Warum kommen sie zu einem Schluss, der ihre eigenen Zweifel ad absurdum führt?
Sind es die Fakten, die sie mit zusammengetragen haben, die sie zu einem solch billigen Ende führen, oder die Angst vor den politischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben müssten?

Wer kann im Darkroom (was) sehen?

„Man weiß so wenig. Nur eins: Geheimdiensten ist absolut alles zuzutrauen. Es ist ihr Job, zu lügen, zu täuschen und zu tarnen. Manchmal auch zu morden – wer das bestreitet, lebt im Glücksbärchenland.“

Mark Nenecke, Kriminalbiologe, FR vom 17.6.2011

Sich auf das Terrain von Geheimdiensten und Verfolgungsorganen zu begeben, heißt immer, sich in verdunkelten Räumen zurechtzufinden. Das hat nichts mit obskuren Bedürfnissen zu tun, sondern mit dem Gegenstand der Untersuchung. Sowohl Geheimdienste als auch Verfolgungsorgane nehmen für sich in Anspruch, nicht alles preiszugeben, schon gar nicht, ihr Tun vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Als Begründung dienen ›übergeordnete Staatsinteressen‹, zu deren Schutz tatsächliches Wissen und Tun der Geheimhaltung unterliegen.

Einer unter diesen Bedingungen abgegebenen offiziellen Version zu widersprechen, ist folglich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, man könne nur im Trüben fischen. Schließlich könne man in einem beweisfreien Raum keinen Gegenbeweis führen. Diese Schwierigkeit, die nicht die KritikerInnen, sondern die Herren beweisfreier Räume zu verantworten haben, wird schnell und gedankenlos den KritikerInnen selbst angelastet. Genauso schnell wird jede andere Version als die Offizielle als Verschwörungstheorie gebrandmarkt, ganz vehement und laut vor allem von jenen, die diesen beweisfreien Raum angelegt haben.
Auch unter linken, staatskritischen Gruppierungen genießen Verschwörungstheorien keinen guten Ruf. Lassen wir alle gängigen Verallgemeinerungen einmal beiseite, gibt es tatsächlich auch innerhalb der Linken Erklärungen, die dem bösen Ruf von Verschwörungstheorien durchaus gerecht werden. Es geht um Erklärungsversuche, die bei besonders schweren Staatsverbrechen so etwas wie eine geheime Kommandozentrale ausmachen, die hinter dem Rücken politisch Gewählter die wirklichen Fäden der Macht in der Hand halten.

Dieser Art der Enthüllung dient dieser Text nicht. Wenn im Folgenden der offiziellen Version über die Mordserie der ›NSU‹ widersprochen wird, dann wird hinter der möglicherweise ganz anderen Version keine geheimnisvolle Macht vermutet.
Die hier geäußerte Befürchtung ist eine ganz andere: Die Möglichkeit, die Wahrscheinlichkeit, dass das, was bis heute der Geheimhaltung unterliegt, nicht außerhalb bestehender Institutionen, sondern im Schutz bestehender Institutionen passiert ist.

Wie will, wie kann man also einer Darstellung widersprechen, deren Details der ›Geheimhaltung‹ unterliegen? Wie will man ein Ereignis rekonstruieren, wenn alles konstitutive im Verborgenen bleibt, also außerhalb des Rechtsinstituts einer belastbaren Überprüfbarkeit?

In diesen Darkroom einzutreten, heißt also nicht, Gespenster zu sehen, sondern vor allem eines: Plausibel zu begründen, warum staatliche Stellen das Licht ausschalten und genau jene gespenstigen Umstände schaffen, die sie den KritikerInnen unterstellen. Der offiziellen Version zu widersprechen, kann also nicht heißen, es besser zu wissen. Unter diesen Umständen kann dies nur bedeuten, zu belegen, dass eine andere Version der Ereignisse genauso plausibel, möglicherweise viel wahrscheinlicher ist. Dieser Vorgehensweise bedienen sich auch Gerichte und kommen auf diesem Wege zu Urteilen.

Jeder Widerspruch zur offiziellen Version lebt mit dem Problem, dass jede andere Erklärung nur mit den Fakten agieren kann, die an die Öffentlichkeit gelangt sind. Wir sind also auf das angewiesen, was jene, die zehn Jahre nichts gewusst haben wollen, nun preisgeben. Es ist also keinesfalls eine böswillige Behauptung, wenn man festhält, dass die Fakten, die an die Öffentlichkeit dringen, gefiltert sind, dass sie unter dem Vorbehalt zu werten sind, dass es sich um selektive Wahrheiten handelt, um eine Wahrheit, die nicht übergeordnete Staatsinteressen gefährdet.

Das gilt selbst für Untersuchungsausschüsse, die immer wieder damit konfrontiert sind, dass Akten ›unter Verschluss‹ gehalten werden, dass geladene Zeugen nur ›beschränkte Aussagegenehmigungen‹ von Ihren Dienststellen erhalten oder schlicht nicht ›ladungsfähig‹ sind.

Aufgrund dieses selektiven Zugangs zu sogenannten Ermittlungsergebnissen kann eine Kritik nur so vorgehen: Ähnlich einem Gutachter legt man sich alle vorhandenen Fakten ›aus dritter Hand‹ auf den Tisch und ordnet sie verschiedenen Erklärungen zu. Welche Fakten machen die offizielle Version plausibel, welche Fakten stützen eine andere Erklärung. Es kann also nicht Aufgabe einer Kritik sein, zu beweisen, wie es wirklich war. Es kann nur darum gehen, ganz nüchtern darüber zu befinden, was angesichts der vorliegenden Fakten genauso wahrscheinlich ist. Dann, so das Fazit dieser Recherche, wird man zu dem Schluss kommen, dass aufgrund der vorliegenden Fakten jede andere Version wahrscheinlicher ist, als die offizielle.

Auf dem Terrain von Geheimdiensten geht es nicht um die Wahrheit, sondern um das Erlangen der Informationshoheit

Was Politiker und kapitalstarke Unternehmen qua Status und privilegierter Beziehungen machen, hat bei Geheimdiensten ein eigenes Ressort. Nachrichten zu streuen, „embedded“ Journalisten Informationen zuzuspielen (wofür diese sich bei anderer Gelegenheit ›erkenntlich‹ zeigen), Medien zu beeinflussen, ist kein bedauernswerter Auswuchs, sondern das Arbeitsfeld der Abteilungen ›Nachrichtenwesen‹. Geheimdienste pflegen nicht das naive, liberale Bild von der freien Meinungs- und Pressefreiheit. Für sie existiert ein ›Informationskrieg‹, in dem sie – wie auf jedem anderen Schlachtfeld auch – gewinnen müssen, was nichts anderes bedeutet als die ›Informations- und Deutungshoheit‹ zu erlangen bzw. zu bewahren.

Was macht man also mit der Flut der Informationen, die es im Fall der neonazistischen Mordserie der ›NSU‹ gibt? Sie sind widersprüchlich, sie passen nicht zusammen, sie verwirren, sie machen ratlos. Will man der Nachricht Glauben schenken, die eine Zeitung veröffentlicht hat oder dem Dementi, das von staatlichen Stellen oder von (anderen) Medien verbreitet wird.

Im Folgenden geht es darum, nicht den Kopf zu verlieren, sondern die Dementis und die zugrundeliegenden Nachrichten abzugleichen, aneinander zu legen. Manchmal verraten auch Dementis mehr, als sie wollen, grenzen den erhobenen Verdacht eher ein, als dass sie ihn ausräumen.

Der Text der drei Redakteure von der Süddeutschen Zeitung, die man eher dem investigativen Journalismus zuordnet, ist eine gute Vorlage.
Was hat der umbrella man in den USA mit den zwei Wiedergängern in Deutschland gemein?
Ergebnis dieses Beitrages ist jedenfalls, dass der umbrella man in den USA, der Referatsleiter im Bundesamt für Verfassungsschutz und der hessische Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme eines verbindet: Sie waren jeweils der falsche Mann, am falschen Ort, zur falschen Zeit.

Beginnen wir mit dem ersten Wiedergänger, mit dem BfV-Referatsleiter: Was hat dieser Mann, der hochrangig zur Bekämpfung des ›Rechtsterrorismus‹ eingesetzt war, mit dem umbrella man gemein? Nichts. Der Referatsleiter hat keinen Regenschirm aufgespannt, der fälschlicherweise für die Mordwaffe gehalten wurde, sondern hat Akten vernichtet, als die Generalbundesanwaltschaft und der Untersuchungsausschuss diese angefordert hatten. Die Handlung des Referatsleiters wurde nicht fälschlicherweise für bedrohlich gehalten und in ihrer Bedeutung überhöht, sondern als das bezeichnet was sie ist: die vorsätzliche Vernichtung von Beweismaterial in Verbindung mit einer Falschaussage. Was diese drei investigativen Journalisten dazu bewogen hat, ausgerechnet einen Mann, der am richtigen Ort das für ihn (und seine Behörde) richtige getan hat, mit einem ahnungslosen Mann mit Regenschirm zu vergleichen, ist mehr als schleierhaft.

Was es mit dem zweiten Wiedergänger des umbrella man auf sich hat, dem hessischen Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme, ist sicherlich um einiges schwieriger. Dabei greifen die SZ-Autoren auch auf die Panorama-Sendung zurück, in deren Mittelpunkt das Ehepaar Temme stand. Noch einmal kommt Andreas Temme zu Wort: »Ich war das angreifbarste Opfer.« Noch einmal wird betont, dass der Internetbesuch des hessischen Staatsschützers am dem Tag, wo sich der Mord ereignete, eine »Chat-Affäre« war, hinter der »Verschwörungstheoretiker bis heute eine große Staatsaffäre« vermuten.

Abgesehen davon, dass die SZ-Autoren ihren eigenen investigativen Ehrgeiz lächerlich machen, geht es bei den Fragen um die Rolle eines Staatsschützers, der vor und nach dem Internet-Besuch mit (von ihm geführte) Neonazis Kontakt hatte, um etwas anders.
Dass eine Fernsehsendung ausführlich Frau und Herr Temme zu Wort kommen lassen, ist gut und richtig. Bemerkenswert an dieser Sendung ist jedoch, dass die Redakteure an keiner Stelle die Aussagen des Ehepaars Temme mit bisher unbestrittenen Tatsachen konfrontierten! Warum haben sie diese Gelegenheit nicht genutzt? Herr Temme stellte sich in der Sendung als ein Opfer dar, dem seine neofaschistischen ›Jugendsünden‹ nachgetragen werden und sagt dazu lediglich, dass all das lange her sei. Warum haben die Redakteure Herr Temme nicht damit konfrontiert, dass 2006 in seiner Wohnung Auszüge aus ›Mein Kampf‹, Papiere neonazistischer Gruppen und Schriften zum Dritten Reich gefunden wurden?

Herr Temme beschreibt in besagter Sendung seine Seelenqualen, dass er von dem Mord nichts mitbekommen habe, dass er die Schüsse nicht gehört habe und die Mörder nicht hat fliehen gesehen. Warum konfrontieren die Redakteure Herrn Temme nicht mit den Feststellungen aus den Untersuchungsberichten, dass es schier unmöglich ist, an der Theke des Internetcafés zu bezahlen, ohne den ermordeten Internet-Besitzer dahinter liegend zu sehen? Warum fragen sie ihn nicht, wie es möglich ist, 50 Cent auf die Theke zu legen, ohne das Blut des Ermordeten zu sehen?
Warum lassen die Redakteure diese Gelegenheit nutzlos verstreichen, obwohl all das, was dessen Ahnungslosigkeit widerspricht, auch den Redakteuren bekannt war?

Was vor 20 Jahren Verschwörungstheorie war, ist heute eine unbestrittene Tatsache

Dass ein anderer Ablauf der mörderischer Ereignisse wahrscheinlich, wenn nicht gar naheliegender ist, dass die Verfolgungsbehörden die abgetauchten THS-Mitglieder nicht verloren hatten, sondern zahlreiche Kontakte zu ihnen pflegten, beantwortet nicht die viel schwerwiegendere Frage: Wenn es ›ganz anders‹ war … welche politischen Motive, welche staatlichen Interessen stecken dahinter, über zehn Jahre eine neofaschistische Terrorgruppe zu schützen?

Erfahrungsgemäß kann man auf die hier aufgeworfenen Fragen in zehn, zwanzig Jahren eine beweiskräftige Antwort geben, wenn Dokumente freigegeben werden, die heute niemand einsehen oder einfordern kann. Also ›unter Verschluss‹ gehaltene Dokumente, die hier nicht Gegenstand sein können.
Wir können nicht in die Zukunft schauen, sehr wohl in die Vergangenheit.

Dass etwas, was auch vor 30 Jahren für blanke Verschwörungstheorie gehalten wurde, tatsächlich so stattfand, möchte ich an einem zurückliegenden Fall erklären. Als es in den 70er und 80er Jahren immer wieder zu neofaschistischen Mord- und Bombenanschlägen in Europa kam (Bombenanschlag in Bologna am 2. August 1982/Anschlag auf das Oktoberfest in München am 26. September 1980), kam der Verdacht auf, dass viele dieser neofaschistischen Anschläge im Schutz staatlicher Stellen und Dienste begangen wurden.

Hinweise, die bereits damals diese Mutmaßung stützten, wurden jedes Mal von staatlicher Seite als bösartige Verleumdungen und aberwitzige Unterstellungen zurückgewiesen. Es dauerte über 20 Jahre, bis Licht in diese verdunkelten Zusammenhänge drang. Dr. Daniele Ganser, Historiker und Friedensforscher an der Universität Basel, hatte das Glück in Akten Einsicht zu nehmen, die in der Schweiz freigegeben wurden. Er wertete sie aus und kam zu dem Schluss, dass die NATO eine Stand-behind-Armee aus neofaschistischen Gruppen aufgestellt hatte, um diese im Zweifelsfall als faschistische ›Reserve‹ einzusetzen. Im Schutz dieses ›Gladio-Programmes‹ wurden zahlreiche Bombenanschläge ausgeführt, um so das Eingreifen des Staates zu provozieren (›Strategie der Spannung‹) bzw. zu rechtfertigen – und wenn nötig, einen Putsch zu legitimieren.

Als Reaktion auf die Veröffentlichung der Forschungsergebnisse der ETH Zürich gab das Außenministerium der USA eine umfangreiche Pressemitteilung heraus. Darin wurde die Existenz der Geheimarmeen sowie die zentrale Rolle der NATO und die Beteiligung der CIA indirekt bestätigt. (Daniele Ganser: NATO’s Secret Armies: Operation Gladio and Terrorism in Western Europe: An Approach to NATO’s Secret Stay-Behind Armies. Cass, London 2005, ISBN 3-8000-3277-5, S. 25)

Wolf Wetzel – 2012/7/10

Dieser Text basiert auf einer sechsmonatigen Recherche, die hier nachzulesen ist.


Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/

Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=13849