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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Einheitsfront der Reformer
Datum: 23. September 2004 um 11:38 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Parteien und Verbände, Wahlen
Verantwortlich: Albrecht Müller
Wer den Sozialstaatsumbau ablehnt, hat im Bundestag und in der politischen Elite keine wirkungsvolle Stimme mehr – also gibt er sie Außenseitern / Von Franz Walter / Quelle: Süddeutsche Zeitung / Nr.220, Mittwoch, den 22. September 2004 , Seite 15
Natürlich war nach den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg in den Schlagzeilen wochenanfangs aufgeregt und alarmistisch von einem ¸¸Erdbeben” die Rede. Und doch wusste man zugleich, dass das politische Establishment keinen Moment wirklich erschüttert war. Der Verlust von 7,4 Prozentpunkten galt ihnen schon als triumphale Bestätigung für einen Ministerpräsidenten. Und die Eliten in diesem Land – von der Politik bis zur Wirtschaft, von der taz bis zur FAZ – zogen daraus die Schlussfolgerung, dass es mithin einzig darauf ankäme, standfest zu bleiben, unbeirrt am Kurs der ¸¸Reformen” festzuhalten.
Einen solchen Elitenkonsens hat es in diesem Land noch nie gegeben. Der Begriff ¸¸Reformen” ist bei denen, die dominierend wirtschaften, deuten, administrieren, nachgerade sakrosankt. Er steht axiomatisch für das Gute, das unzweifelhaft Notwendige, für den einzigen Weg zum Heil aus dem Jammertal der viel zitierten ¸¸deutschen Krankheit”. Allein mit dem Bekenntnis zur ¸¸Reform” verschafft man sich daher Zugehörigkeit zu denen, auf die es in diesem Land ankommt. Wer auch nur ein vorsichtiges Fragezeichen setzt, wird meist schnell und scharf exkludiert, gilt womöglich als tumber Bsirskeist, als sozialstaatlicher Ewiggestriger, in der mildesten Version: als Leugner der Wirklichkeit.
Eben das aber ist die Ausgangslage für die Verwerfungen, die sich zuletzt an einigen Montagabenden entluden und an Wahlsonntagen äußerten, und über die dann die Eliten dieser Republik ihre sorgenvollen Klagelieder anstimmen. Denn wer die Reformen nicht goutiert – und das sind seit Jahren hartnäckig und störrisch große Teile dieser Gesellschaft – sieht sich politisch auf außerparlamentarisches Terrain abgestellt. Im nationalen Parlament jedenfalls, im Berliner Reichstag, hat er keine Repräsentanz mehr.
Dort teilen alle Fraktionen im Kern eine identische Reformphilosophie, von den Grünen bis zur CSU, von den Sozialdemokraten bis zu den Liberalen. Ein bisschen polemisch gewiss, aber gar nicht sonderlich übertrieben möchte man sagen: Eine solche politische Einstimmigkeit hat man in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus allein am 4. August 1914 erlebt. Im übrigen aber gab es davor und danach, bis in das Jahr 2002 hinein, noch ausreichend politische Differenz, genügend elementaren Streit über verschiedene politische Lösungswege, auch über grundlegende gesellschaftliche Alternativen.
Die andere deutsche Krankheit
Eben diese konstitutive Kontroverse zwischen verschiedenen Deutungen, Philosophien, Interessen und Entwürfen ist das Elixier der Politik, die eigentliche Begründung und Legitimation für den Parteienstaat und den Parlamentarismus. Parteien haben die Aufgabe, die unterschiedlichen Einstellungen, sozialen Lagen, werteorientierten Postulate der einzelnen Bevölkerungsteile aufzunehmen, zu bündeln, zu strukturieren und in eine zivilisierte, aber scharfe Auseinandersetzung in die Arena des Parlaments zu tragen. Darin liegt die integrative, infolgedessen friedensstiftende Funktion des parteienstaatlichen Parlamentarismus.
Aber diese Funktion wird nicht mehr wahrgenommen. Weit über die Hälfte der Deutschen hat, wie wir laufend aus unzähligen Befragungen erfahren, Einwände gegen eine rein markt- und rentabilitätsorientierte Revision der überlieferten sozialen Sicherungssysteme. Das mag konservativ begründet sein, sozialsentimental, linksprogressiv, christlich-nächstenliebend oder einfach nur dumpf sicherheitsorientiert. Es ist jedenfalls eine legitime Grundmentalität, die in einigen Ländern dieser Welt nicht ohne Erfolg zu eher etatistischen, transferorientierten Lösungen wohlfahrtlicher Aufgaben geführt hat.
Aber in Deutschland hat diese Mentalität im Bundestag keine Repräsentanz mehr. Keine Partei nimmt im Parlament die wohlfahrtsstaatliche Stimmung auf, artikuliert sie, gibt ihr politische Richtung und Rationalität. Bis in den September 2002 haben Grüne und Sozialdemokraten noch anderes versprochen und wurden durch diese Mentalität schließlich auch ein zweites Mal in das Kanzleramt und in die Bundesministerien getragen. Nach dem Agenda- und Richtungswechsel der rot-grünen Regierung siedelte sich ein Teil dieser nun frustrierten Mentalität zunächst hoffnungsvoll bei den Unionsparteien an.
Doch in der neu-verbürgerlichten Union gab es dafür erst recht keinen sozialkulturellen Raum oder gar eine politische Vertretung. Und so wurde diese wohlfahrtliche Stimmung und Schichtung gleichsam in die außerparlamentarische Randzone weggestoßen. Überwiegend drückte sich das in elektorale Enthaltung aus, neuerdings aber eben auch in der Wahl von populistischen oder extremistischen Parteien. Deren Charakter und politisch-sozialer Ort kann gegensätzlicher oft kaum sein, kann von weit links bis extrem rechts reichen: Aber in ihrer Wahl schwingt die elementare, von den Bundestagsparteien allerdings fundamental enttäuschte Erwartung mit, dass Politik auch anders sein kann, dass Alternativen möglich und legitim sind, dass Wirklichkeit verschieden gedeutet werden darf, dass es auch Blockaden oder Transformationen von Reformen geben sollte.
Kurz: Die eigentliche deutsche Krankheit ist, dass keine Partei im Bundestag mehr diese genuine, geradezu klassische Erwartung an Politik in sich trägt. Die weltanschaulichen Interpretationen haben sich eingeebnet, die politischen Perspektiven sind nivelliert. Es herrscht eine verblüffende Einheitsfront der ¸¸Reformer”. Historisch ist diese Einheitsfront, ist dieser nachgerade sakrale Dogmatismus der ¸¸Reform” neu. Warum auch sollten Reformen für alle gut sein? Die Geschichte kennt viele Reformperioden. Aber sie kennt keine Reformära, aus der alle Menschen und Klassen als Gewinner hervorgegangen wären.
Am Ausgang von Reformprozessen stehen Verlierer und Geschädigte, stehen häufig tiefe Einrisse und schwere Trümmer. Doch mehr noch: Es gibt kein Reformprojekt in der Weltgeschichte, dass nicht am Ende auch das Gegenteil von dem schuf, was es ursprünglich beabsichtigte. Es gab genügend Reformvorhaben, die mehr Schaden als Nutzen stifteten – und dadurch Voraussetzung für eine nächste, nun gegenteilig begründete Reformsequenz wurden. Soziologen sprechen in solchen Fällen von nichtintendierten Folgen gut gemeinter Absichten. Mit anderen Worten, Reformen stiften keineswegs per se Glück, Wohlfahrt, Befreiung; sie produzieren oft genug neue, andere Formen von Abhängigkeiten, Ungleichheiten, Begrenzungen und Bedrückungen.
Heftige Nebenwirkungen
Gerade die Sozialdemokraten müssten das wissen. Ihre Agenda 2010 bedeutet im Kern schließlich die Generalrevision ihres vorangegangen großen Reformprojekts aus den 1970-er Jahren. Das Reformmodell in der Ära Brandt setzte auf den kräftigen Ausbau des Sozialstaats als grundlegende Voraussetzung für Freiheit, Partizipation, Gerechtigkeit und Emanzipation. In der Logik der Agendareformer von heute aber ist dieser Sozialstaat, den man selber vor 30 Jahren etablierte, mittlerweile entschieden zu teuer, zu parasitär, zu leistungshemmend, zu wachstumsfeindlich, zu paternalistisch. Er ist die Quelle des Übels, das man gegenwärtig bekämpft. Die Sozialdemokraten reformieren sich also gewissermaßen selbst. Und eben das sollte misstrauisch machen.
Die Willy-Brandt-Sozialdemokraten waren 1972 ebenso felsenfest vom historischen Fortschritt ihres Reformismus überzeugt wie Kanzler Schröder jetzt im Jahr 2004 von der Alternativlosigkeit seiner Agendareformen. Im Jahr 2004 aber plagen sich die Reformer in erster Linie mit den Folgen der Reformen von 1972 im Hochschulbereich, im Schulwesen, in den Gemeinden, in der Sozialpolitik und der Wirtschaft. Es spricht angesichts der Dialektik von Reformen also viel dafür, dass wir spätestens im Jahr 2036 schwer unter der drückenden Last Reformen des Jahres 2004 ächzen und leiden werden, die rückblickend dann als verfehlt, überdreht, vereinseitigt gelten werden.
Ein bisschen haben uns die Vorboten verfehlter Reformen schon jetzt erreicht. Und damit spannt sich der Bogen wieder zurück zum Ausgang der letzten Landtagswahlen. Denn am Ende des marktzentrierten, antietatistischen Reformprozesses wird natürlich eine massive Entinstitutionalisierung stehen: Wir werden weniger Staat, weniger Solidargemeinschaften, weniger Großorganisationen, weniger kollektive Lösungen haben. Die integrativen Strukturen werden dezimiert, die sozialen Räume von kohärenten Normen, Einrichtungen und Assoziationen entleert sein.
Aber exakt das, die Entleerung und Entinstitutionalisierung, ist, wenn andere zivilgesellschaftliche Vernetzungen und Kulturen nicht in ausreichendem Maße entstanden sind, die Voraussetzung für Populismus und Extremismus, zuweilen auch von jäher Militanz. Wo die Puffer von Strukturen, Institutionen, Repräsentanz und kollektiven sozialmoralischen Verbindlichkeiten fehlen, entlädt sich Unmut, artikulieren sich Stimmungen unmittelbar, ungefiltert, aggressiv – ziellos. Wir beklagen das in diesen Tagen pathetisch und übersehen doch, dass dies auch Folgen, heftige ungewollte Nebenwirkungen der “Reformen” sind. Und dieser Reformprozess, so dozieren es die Eliten der Republik tagtäglich, ist längst noch nicht zu Ende.
Der Autor lehrt Politikwissenschaften an der Universität Göttingen.
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