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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Sind wir zu radikal? Eine Anmerkung zum Selbstverständnis der NachDenkSeiten:
Datum: 29. Juni 2006 um 17:05 Uhr
Rubrik: Aufbau Gegenöffentlichkeit, Erosion der Demokratie
Verantwortlich: Albrecht Müller
Ein guter Freund der NachDenkSeiten hat nach Lektüre meines (AMs) Interviews im Tagesspiegel mit dem Titel „Dumm oder korrupt?“ die Sorge geäußert, wir begäben uns mit solch harten Formulierungen in die Gefahr, manch Wohlmeinenden abzuschrecken und uns zu isolieren. Diese Gefahr sehen wir auch. Aber was sollen wir machen, wenn das politische Geschehen im Lande solche harten Urteile rechtfertigt, ja geradezu herausfordert? Wir haben viele Nutzer, die froh sind, dass in den NachDenkSeiten nicht um den heißen Brei herum geredet wird. Wir haben aber auch andere, denen manche unserer Urteile zu radikal erscheinen, die, obwohl sie eine Grundsympathie für unsere kritische Begleitung des Geschehens haben, die Hoffnung haben, unsere Kritik sei nicht immer berechtigt, die Kritisierten würden doch nach ihrem besten Wissen und Gewissen handeln. Weil uns dieses Problem bewegt, wollen wir an zwei Beispielen unser Dilemma erläutern. Albrecht Müller/Wolfgang Lieb.
I. Unsere grundsätzliche Kritik an der Reformpolitik
Wir haben immer wieder gezeigt, welche und wie viele Reformen in Deutschland in den letzten 25 Jahre durchgesetzt worden sind und dass die Vorstellung, diese Art von Reformen würde uns aus der wirtschaftlichen Rezession herausführen, in vieler Hinsicht falsch und unbegründet ist. Die Misserfolge stellen ja nicht nur wir fest; so heißt es etwa dieser Tage in der gewiss nicht gerade radikalen FAZ:
Übrigens: Wenn die „klugen Köpfe“ hinter der FAZ das etwas früher gemerkt hätten, wäre uns mancher Unsinn erspart geblieben.
Wir haben in den NachDenkSeiten und ich habe in meinem Buch „Machtwahn“ im Einzelnen belegt, welche Reformen und warum sie gescheitert sind. Wir haben z.B. gezeigt, dass Schröders und Münteferings Coup mit den Neuwahlen vor allem ein Ziel hatte, nämlich eine kritische Debatte über das Scheitern der Agenda-Politik zu verhindern. Und weil sowohl der Bundespräsident als auch das Bundesverfassungsgericht die Gefahr sahen, dass dieser „Reform“-Kurs in eine kritische Lage geraten war, haben sie diesem verfassungspolitischen Hasardspiel die Hand gereicht. Der Bundespräsident hat gar noch offen zugegeben, dass er sich durch die Neuwahl eine andere Koalition erhofft hatte.
Wir haben in den NachDenkSeiten auch gezeigt, wie trotz des permanenten Scheiterns der neoliberalen Politikkonzepte die Reformdosis immer weiter erhöht wurde und mit nahezu allen politischen Kapazitäten immer nur weiter an Symptomen kuriert wird, aber keine Debatte darüber stattfindet und nichts Entscheidendes geschieht, um unsere Volkswirtschaft mit einer konsequenten, intelligenten und engagierten Makropolitik aus der wirtschaftlichen Krise herauszuholen.
Im Gegenteil, das Bisschen wirtschaftliche Belebung des Jahres 2006 – das im Übrigen überwiegend von außen und ohne unser Zutun kommt – wird vermutlich 2007 mit der dreiprozentigen Mehrwertsteuererhöhung schon wieder konterkariert. Zum Schaden von uns allen.
Wenn mit dieser sogenannten Reformpolitik stur weitergemacht wird, ohne kritische Bestandsaufnahme, ohne endlich einmal nachzudenken, ob das Konzept möglicherweise falsch ist, wie soll man dann anders darüber urteilen, als diese Politik mittelmäßig und unintelligent oder – weniger vornehm – dumm zu nennen? Wie soll man die Sturheit erklären, die die Meinungsführer in Politik und Wirtschaft, in Publizistik und Wissenschaft über das makroökonomisch Notwendige hinweg sehen lässt? Ist es abwegig, dann auch zu fragen, ob dahinter nicht eben nur Dummheit steckt, sondern massive Interessen stecken, die den wirtschaftlichen Niedergang auch dazu nutzen wollen, einen grundlegenden Systemwechsel einzuleiten und vor allem den Arbeitnehmern und den Gewerkschaften nachhaltig jeden Schneid abzukaufen?
Der österreichische Ökonom Kurt Rothschild sagte einmal ganz richtig: „Wenn die Leute nur dumm wären, das wäre herrlich, weil Dumme kann man gescheit machen. Aber wenn einer ein Interesse hat, da können Sie sich tot reden, der ist gescheit genug zu wissen, was sein Interesse ist und was nicht. Das mit der Dummheit ist sehr gefährlich. Die Politiker und die Business-Leute sind nicht dumm.“
Wir bestreiten ja nicht, dass sich vieles in der Welt ändert und es immer wieder der Neujustierung von Regeln und intelligenter Lösungen von neu auftretenden Problemen bedarf. Aber es ist erstens immer wieder neu die Frage zu stellen, ob in der nun schon lange andauernden labilen wirtschaftlichen Lage die Fortsetzung der heute gängigen Art von Reformpolitik ökonomisch sinnvoll ist und vor allem, ob sie die angestrebten Ziele erreichen kann. Wenn etwa die Reformen Hartz I, II, III und IV bei weitem nicht das gebracht haben, was damit versprochen wurde, wenn die vielen Steuersenkungen und Steuerreformen von Kohl und Schröder auch nicht andeutungsweise den Investitionsschub gebracht haben, den man erwartet hat, wenn eine Gesundheits- oder Rentenform nach der anderen nachgeschoben werden muss, oder wenn jetzt schon sogar vielen Verantwortlichen klar ist, dass die Föderalismus-Reform die Lage eher verschlimmbessert als sie zu verbessern, dann müsste doch irgendwann den Akteuren klar werden, da sie als „Hamster im Laufrad der Reformen“ nicht wirklich voran kommen.
Es ist zweitens die Forderung angebracht, dass, wenn man wirkliche Reformen in Angriff nehmen möchte, diese ohne die heute übliche Hektik in allen Facetten durchdacht und auf ihre Vor- und Nachteile für alle Betroffenen abgewogen werden, bevor man sie beschließt und mit der Brechstange implementiert. Die heute gängige Trial-and-error-Methode als Politikstil ist unserem Land und seinen Menschen nicht weiter zuzumuten. Schließlich eignen sich unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft nicht als Laborversuch. Wer trotzdem so verfährt, hat keine Vorstellung von der Komplexität gesellschaftlicher Regelungen, den Schwierigkeiten ihrer Umsetzung in die gesellschaftliche Praxis und der Lernprozesse, die dafür bei den Betroffenen notwendig sind. Die Gesellschaft ist keine Aktiengesellschaft, in der ein heroischer Managertyp autoritär seine Mission durchsetzen kann und wenn es schief geht, die Leute rausgeworfen werden dürfen und der Aufsichtsrat anschließend den gescheiterten Manager mit einer dicken Apanage nach Hause schickt. Diesem Manager-Kult scheint aber unser politisches Führungspersonal zu folgen, es setzt die über ein Jahrhundert oder über Jahrzehnte erarbeiteten und erkämpften Errungenschaften unseres Landes, wie etwa die Grundprinzipien und normativen Ausprägungen des Sozialstaats, wie die Arbeitslosenversicherung und die gesetzliche Rente aufs Spiel, ohne dabei ernsthaft zu bedenken, was dabei angerichtet wird. Das für die große Mehrheit der Bevölkerung einzige „Vermögen“, zur Absicherung von sozialen Risiken, die soziale Sicherheit, wird dabei in sträflicher Weise und mit unabsehbaren Risiken für den gesellschaftlichen Konsens aufs Spiel gesetzt.
In diesem Zusammenhang nur von „dumm“ zu sprechen, ist wirklich nur eine Verharmlosung.
II. Die bewusst voran getriebene Erosion des Vertrauens in die soziale Sicherung, die Übertreibung des so genannten demographischen Problems und die Werbung für Privatisierung und Privatvorsorge.
Mein (Albrecht Müllers) hartes Urteil „dumm oder korrupt“ begründe ich, so auch im Interview mit dem Berliner Tagesspiegel, exemplarisch am Umgang mit der gesetzlichen Altersvorsorge. Hier wird von den Meinungsführern in Politik, Wissenschaft und Medien so getan, als würde uns die demographische Entwicklung zu einem Systemwechsel oder mindestens zu einer Ergänzung durch eine „zweite Säule“, die Privatvorsorge zwingen. Es wird so getan, als folgten die Finanzprobleme der sozialen Sicherungssysteme aus der demographischen Entwicklung. Dabei wird unterschlagen, dass derzeit jedenfalls von niemandem ein „demographisches Problem“ festgestellt werden kann. Im Gegenteil: die Zahl der jungen Leute, die einen Ausbildungsplatz suchen, steigt und auf die Hochschulen kommt geradezu eine Welle zusätzlicher Studierender zu, die Babyboomer-Generation schafft eher ein besonders großes Angebot auf dem Arbeitsmarkt. Das kann eigentlich niemand, der mit den Tatsachen ehrlich umgeht, von der Hand weisen. Und dennoch wird auf dem demographischen Problem herumgeritten. Dabei wird schlicht zu unterschlagen beziehungsweise davon abgelenkt, dass die Krise der sozialen Sicherungssystem ihre hauptsächlichen Gründe in der wirtschaftlichen Krise hat und darüber hinaus noch dem Umstand geschuldet ist, dass die sozialen Sicherungssysteme mit versicherungsfremden Leistungen wie zum Beispiel den sozialen Kosten der deutschen Vereinigung belastet wurden. Noch zwei andere wichtige Daten: In Deutschland sind fast 53 Millionen Menschen arbeitsfähig und 15 Millionen sind über 65 Jahren. Das ist eine glänzende Relation von Erwerbspersonenpotential, also zu Arbeit fähiger Generation, zur Rentnergeneration. Unser Problem ist doch: nur noch rund 26 Millionen der potentiell arbeitsfähigen 53 Millionen sind in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis.
Auch in den nächsten Jahrzehnten ändert sich die Relation nicht so gravierend, dass wir damit nicht fertig würden. Wenn wir unsere Kraft auf eine rationale Beschäftigungspolitik und die Förderung der Produktivität konzentrieren würden statt auf die Verwaltung der Arbeitslosigkeit, dann wird die demographische Entwicklung einschließlich der Alterung kein ernsthaftes Problem. Diese Aussage ist in unseren Publikationen und in der NachDenkSeiten wie auch von anderen Autoren, die nicht der gängigen Aufgeregtheit verpflichtet sind, immer wieder belegt worden.
Unser Problem ist nicht die Demographie sondern die Wirtschafts- und die dadurch bedingte Beschäftigungskrise. Wer anderes behauptet, hat die Wirklichkeit falsch analysiert, ist also dumm – oder, was eben noch viel schlimmer ist, er lässt sich vor den Karren von Interessen spannen.
So hat die private Versicherungswirtschaft – von ihr selbst zugegeben – ein großes Interesse, einen beachtlichen Teil der bisherigen Beiträge für die gesetzliche Rente auf die Privatvorsorge umzulenken. Die Politik, große Teile der Wissenschaft und Publizistik entsprechen diesem Interesse und den interessengeleiteten Argumenten, wenn sie behaupten, wir hätten ein gravierendes demographisches Problem. Die atavistischen Ängste der Menschen vor einer „Überalterung“ oder einer „Unterjüngung“ (Platzeck) werden schamlos ausgenutzt, um politisch eine Umstellung vom Umlageverfahren (gesetzliche Rente) auf Kapitaldeckungsverfahren (Privatvorsorge) bei der Altersvorsorge durchzusetzen. Und die Politik tut alles, um die Ängste der Menschen vor Altersarmut noch zu schüren. Bei Angst setzt der Verstand aus, sonst würde man wenigstens erkennen, dass selbst, wenn es ein demographisches Problem gäbe, die Änderung des Finanzierungssystems für die Altersvorsorge an der demographischen Relation von Jung und Alt überhaupt nichts ändert.
Die Politik hat die Interessen der privaten Versicherungswirtschaft sowohl durch „Überzeugungsarbeit“ als auch durch politisches Handeln bedient. Zu den wichtigen politischen Entscheidungen, die das Vertrauen in die gesetzliche Rente beschädigt haben, gehören zum Beispiel die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre, die so genannte Entgeltumwandlung, die absurde Fixierung auf eine Beitragsgrenze von 20% wie auch die Einführung des Nachhaltigkeitsfaktor, der letztlich keine Untergrenze bei den künftigen Renten mehr einkalkulieren lässt. Alle diese Entscheidungen haben dazu beigetragen, dass die Erwartungen an die zukünftige soziale Altersversorgung gesenkt oder zumindest stark verunsichert worden sind.
Diese politischen Entscheidungen, an der alle etablierten Parteien mitgewirkt haben, werden ergänzt durch Propaganda und durch Subventionen. Entgegen allen Schwüren, Subventionen abzubauen, wird mit der Riester-Rente und ihren Varianten ein zusätzliches Subventionswesen aufgebaut. Die Privatvorsorge ist offenbar so „rentabel“, dass sie ohne Subventionen durch Steuergelder nicht auskommt und damit nicht funktioniert.
Schon Minister der rot-grünen Koalition haben sich offen als Fürsprecher der privaten Rente hervorgetan. Ulla Schmidt – zum Beispiel – warb offen im Fernsehen für die Privatvorsorge. Der niedersächsische Ministerpräsident Wulff sagt Nullrunden der Rente für nahezu 10 Jahre voraus und schürt damit die Angst vor der Altersarmut. Auch der amtierende Vizekanzler und Arbeits- und Sozialminister und seine Mitstreiter werben unentwegt für Privatvorsorge. Müntefering drückt sich damit ständig um das eigentliche Problem, nämlich sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze zu schaffen, herum. Schauen Sie auf die Website des Ministeriums von Franz Müntefering:
Hier ist der Text, den sie dort am 27.6.2006 lesen konnten. (Wir geben ihn wieder für den Fall, dass sich im Zeitablauf dort etwas ändert.) Es beginnt mit Lippenbekenntnissen zur gesetzlichen Rente:
Rente – Die gesetzliche Rentenversicherung ist und bleibt die wichtigste Säule der Alterssicherung in Deutschland. Die Bundesregierung hat das Ziel, die gesetzliche Rentenversicherung nachhaltig auf eine solide Finanzgrundlage zu stellen und langfristig zu sichern.
Gesetzliche Rentenversicherung – Deutschland verfügt über einen hoch entwickelten Sozialstaat. Das Sozialstaatsprinzip ist im Grundgesetz unveränderbar festgeschrieben (Artikel 20 Absatz 1, Artikel 28 Absatz 1). Sozialstaatlichkeit ist damit Verpflichtung für die Politik. Der Staat soll die Existenzgrundlagen seiner Bürgerinnen und Bürger sichern und für den Ausgleich zwischen den sozial Schwachen und den sozial Starken sorgen.
Zusätzliche Altersvorsorge – Das Durchschnittsalter unserer Bevölkerung steigt stetig. Bei der gesetzlichen Rentenversicherung kommen immer weniger Beitragszahler auf immer mehr Rentenempfänger. Um die jüngere Generation nicht zu überfordern, ist es deshalb unausweichlich, dass in Zukunft die Renten weniger stark steigen als bisher. Damit ist zusätzliche Altersvorsorge notwendig, um auch im Alter den gewohnten Lebensstandard aufrechterhalten zu können. Internationale Altersvorsorge – Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit, Verlässlichkeit und Optionalität, Solidarität und Subsidiarität – dies sind Kriterien, denen die Altersvorsorge auch und in Zukunft gerecht werden muss. In Deutschland haben sich die Rahmenbedingungen, unter denen diese Ziele erreicht werden können, verändert: Die Entwicklungen im Bevölkerungsaufbau, die Auswirkungen des verschärften Wettbewerbs, die Umbrüche auf dem Arbeitsmarkt, die Veränderungen von Lebenslagen und -entwürfen erfordern eine Neujustierung der Alterssicherung, die Alten und Jungen, Beitragszahlern und Rentnern gerecht wird.
Und wenn Sie bei „Rente“ weiter klicken, dann können Sie folgendes lesen:
Das Durchschnittsalter unserer Bevölkerung steigt stetig. Bei der gesetzlichen Rentenversicherung kommen immer weniger Beitragszahler auf immer mehr Rentenempfänger. Um die jüngere Generation nicht zu überfordern, ist es deshalb unausweichlich, dass in Zukunft die Renten weniger stark steigen als bisher. Damit ist zusätzliche Altersvorsorge notwendig, um auch im Alter den gewohnten Lebensstandard aufrechterhalten zu können.
Die Alterssicherung wird sich in Zukunft stärker als bisher auf drei Säulen stützen müssen:
- die gesetzliche Rentenversicherung,
- die betriebliche Altersversorgung und
- die private Altersvorsorge (Riester-Rente).
Der Staat hilft beim Aufbau einer zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge mit Zulagen, Steuervergünstigungen und in der betrieblichen Altersversorgung extra Beitragsersparnissen in der Sozialversicherung. Außerdem wurden mit dem Alterseinkünftegesetz die Rahmenbedingungen für die betriebliche Altersversorgung nochmals verbessert und die Attraktivität der Riester-Rente erhöht. Jeder kann frei wählen, ob und wie er sich zusätzlich absichert. Staatlich geförderte Zusatzvorsorge ist attraktiv und lohnend – aber keine Pflicht. Vor der Entscheidung über eine private Altersvorsorge oder eine betriebliche Altersversorgung über Entgeltumwandlung sollten immer eine persönliche Vorsorgeanalyse und Prüfung stehen (Checklisten), denn ergänzende Alterssicherung ist eine langfristige Angelegenheit. Eine Checkliste kann und soll die notwendige individuelle Beratung nicht ersetzen. Aber sie bietet einen schnellen Überblick über die Möglichkeiten der staatlich geförderten zusätzlichen Altersvorsorge und hilft, gut informiert zur Beratung zu gehen.
Das sind schon bemerkenswerte Texte. Sie könnten auch in den Werbebroschüren der Versicherungswirtschaft stehen, jedenfalls passen sie voll und ganz mit der Strategie der Versicherungswirtschaft zusammen. Hier werden die Bürgerinnen und Bürger auf Steuerzahlerkosten von den Tatsachen und wirklichen Risiken abgelenkt und es wird über das eigene politische Versagen hinweggetäuscht und um dieses Versagen zu überspielen, nimmt man halt gerne die oftmals sprichwörtlich wohlfeilen Argumente der starken und einflussmächtigen wirtschaftlichen Interessenverbände auf. Schließlich kann man dann auf einen starken propagandistischen Flankenschutz bauen.
Wenn vom zuständigen Ministerium behauptet wird, um „die jüngere Generation nicht zu überfordern“, wäre zusätzliche Altersvorsorge notwendig, „um auch im Alter den gewohnten Lebensstandard aufrechterhalten zu können“, dann wird der Boden rationaler Argumentation verlassen und durch Propaganda ersetzt. Man unterstellt dabei dass die Bürgerinnen und Bürger nicht fähig sind, eins und eins, nämlich ihre Beiträge für die gesetzliche Rente und die Prämien für die Privatvorsorge (etwa die Riester-Rente) zu addieren.
Die Spitzen des Sozialministeriums beteiligen sich übrigens handfest an den gängig gewordenen Fehlinformationen zum demographischen Problem. Der Minister selbst spricht, um die Dramatik der Entwicklung so richtig drastisch darzustellen, bei öffentlichen Veranstaltungen laut Handelsblatt davon, jedes 2. heute geborene Mädchen werde 100 Jahre alt. Richtig ist, dass vermutlich jedes 75. Mädchen dieses Alter erreichen wird.
Einer der Staatssekretäre im Sozialministerium, der Staatssekretär Anzinger, verbreitet die schlichte Unwahrheit über die angeblich einzigartig niedrige Geburtenrate in Deutschland auch noch 10 Tage nach einer offiziellen Richtigstellung durch das Statistische Bundesamt. Zur Begrüßung der Gründungsversammlung des Demographie-Netzwerkes (ddn) sagte Anzinger wörtlich am 27. März, und das steht immer noch im Netz [PDF – 52 KB]:
Herumgesprochen (Sic!) hat sich ebenfalls unsere geringe Geburtenrate. Sie ist nochmals gesunken! Sie beträgt jetzt in Deutschland 1,36 Kinder je Frau. Hinweis: Das ist weltweit der niedrigste Wert, vom Vatikanstaat abgesehen.
Richtig ist, dass selbst innerhalb der Europäischen Union 10 Länder eine niedrigere Geburtenrate haben als wir. Wir liegen im unteren Mittelfeld. Aber bei uns kann der Staatssekretär eines zuständigen Ministeriums sich dumm stellen und eine solche Unwahrheit verbreiten, ohne dass die für dumm Verkauften protestieren oder wenigstens laut auflachen.
Man stelle sich nur einmal den Aufschrei vor, wenn der Staatssekretär gesagt hätte, dass das demographische Problem von interessierten Wirtschaftskreisen aufgebauscht würde. Er würde sofort als „Radikaler“ abgetan.
Fazit: Ist unsere Frage „Dumm oder korrupt“ angesichts der hier nur ansatzweise skizzierten Vorgänge wirklich radikal, ist sie zu radikal? Da diese Vorgänge keine Einzelfälle sind, da unser Volk auf ganz vielen Feldern falsch informiert wird und da in vielen Fällen die Interessengebundenheit auch belegbar ist, fällt es uns von den NachDenkSeiten jedenfalls schwer, unsere Meinung zurückhaltender und weniger klar zu artikulieren. Wir sehen jedenfalls nicht, dass eine größere Zurückhaltung oder Mäßigung im Ton hilfreicher sein könnte, um eine Gegenöffentlichkeit zu den vorherrschenden Interessen zu schaffen.
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