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Titel: „Unsere Eliten sind dumm oder korrupt“

Datum: 26. Juni 2006 um 16:49 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Aufbau Gegenöffentlichkeit, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich:

„Deutschland 2006 – es steht schlecht da, sagen fast alle. Albrecht Müller ärgert das. Denn er weiß, wie es ökonomisch vorwärts ginge: Schulden machen wie die USA.“
Das ist der Titel und Vorspann zu einem Interview im Tagesspiegel.

Zwei Ergänzungen:

Erstens: Was mit „Schulden machen“ gemeint ist, wird im Text des Interviews klar. Ich zitiere einen Teil des Interviews, um dieses immer wiederkehrende Missverständnis klarzumachen: Wer eine Volkswirtschaft kreditfinanziert ankurbeln will, ist per se kein Schuldenmacher. Hier der Interviewteil:

„Sie meinen die klassische Methode des Ökonomen Keynes: Mehr Schulden machen und mit staatlichen Investitionen Wachstum erzeugen. Das gilt wegen der hohen Schuldenlast als überholt. Darum setzen die meisten Ökonomen nicht auf das Ankurbeln der Nachfrage, sondern auf die Verbesserung des Angebots, also die Bedingungen für die Unternehmen.

AM: Stimmt, in Deutschland machen wir das seit 25 Jahren so. Unternehmenssteuern senken, Sozialabgaben senken, Löhne senken und Staatsausgaben senken. Und was ist dabei herausgekommen? Höhere Arbeitslosigkeit und mehr Schulden.

Was wird aus der Maastricht-Grenze für den Euro, wonach die Neuverschuldung nicht mehr als drei Prozent der Wirtschaftsleistung ausmachen darf?

AM: Die können wir ja ohnehin nicht halten, solange wir im Konjunkturloch stecken. In anderen Ländern ist das gar nicht umstritten. Schweden hat seine Krise in den 90er Jahren vor allem mit hohem Einsatz staatlicher Mittel und einer Schuldenquote von über elf Prozent überwunden. Genauso hielten es die Briten, dort ging es bis acht Prozent, und auch die Clinton-Regierung hat hohe Schulden hingenommen, um dann Schulden abzubauen. Diese einfachen Zusammenhänge verstehen unsere Meinungsführer offenbar nicht. Für diese Unfähigkeit zahlen wir alle: Stellen Sie sich vor, wir hätten den letzten Boom im Jahr 1992 nicht mit einer dummen Hochzins- und Sparpolitik abgebrochen und seitdem statt der jämmerlichen 1,2 Prozent Wachstum im Jahresdurchschnitt 2,5 Prozent erreicht. Dann hätten wir heute ein um fast ein Drittel höheres Bruttoinlandsprodukt, das wären fast 700 Milliarden Euro mehr pro Jahr; der Schuldenabbau wäre gar kein Problem. Ist Ihnen schon aufgefallen, dass eine Debatte über diesen Verlust bei uns vermieden wird?“

Zweitens: Am Ende des Interviews werde ich gefragt:

„Sie werden in der SPD gesehen wie Norbert Blüm oder Heiner Geißler bei der CDU: Als einer von den Alten, die ihre alten Zeiten wiederhaben wollen.“

AM: “Das ist ja das Problem: Wir Alten sind die Radikalen, weil wir es uns leisten können. Wenn ich in meinem Examensjahr 1963 hundert Bewerbungen hätte schreiben müssen und dann doch keinen Job gekriegt hätte, hätte ich vielleicht auch keinen Mut entwickelt, radikale kritische Fragen zu stellen. Ich kann die Ohnmacht und Mutlosigkeit der Jungen gut verstehen. Da ist es gut, wenn zum Ausgleich wenigstens ein paar Alte aufmüpfig werden.“

Auf diese meiner Antwort hat mir gestern einer unserer Nutzer geschrieben, ich hätte die Perspektivlosigkeit vieler Junger weit untertrieben. Er schreibt:

„Leider geht die Anzahl von 100 Bewerbungen, nach denen “Ohnmacht und Mutlosigkeit vielleicht” angesagt seien, an der Lebenswelt junger motivierter Arbeitssuchender vorbei. Als 30-jähriger leistungs- und arbeitswilliger Diplom-Politologe mit Auslandserfahrung, diversen Praktika und ehrenamtlichen Engagement möchte ich Ihnen mitteilen, dass die Zahl von “100 Bewerbungen, ohne einen Job zu bekommen” viel zu niedrig geschätzt ist und nicht die Erfahrungen und Lebenswelt junger Arbeitssuchender widerspiegelt.

Die Situation in meinem akademisch geprägten Umfeld gestaltet sich nämlich anders, möglicherweise sogar repräsentativ: Seitdem ich vor drei Jahren mein Studium mit einem guten Examen abschloss, schrieb ich 570 Bewerbungen, ohne bislang eine Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden. Jede Woche steigt die Anzahl der geschriebenen Bewerbungen um etwa 5. Freunde flüchten sich in ihre Promotion, um für die kommenden 3 Jahre eine Aufgabe und Beschäftigung zu finden. Eine Bekannte von mir absolvierte inzwischen 7 Praktika. Ein Bekannter von mir -32 Jahre alt- überlegt angesichts seiner langjährigen Jobsuche seit einiger Zeit, eine Therapie mit Antidepressiva zu beginnen, weil er keinen Lebenssinn mehr zu entdecken in der Lage ist.

Für viele Menschen in dieser Situation drängt sich nicht die Frage auf, ob – wie sie sagten- nach hundert Bewerbungen bereits “Ohnmacht und Mutlosigkeit” angebracht seien. Die Frage lautet vielmehr, wann eigentlich endlich Schluss damit sein soll, Aktenordner mit Stellenabsagen zu füllen…. sollen 5 Aktenordner gefüllt werden, 10, oder vielleicht 20…. oder soll noch die ganze Schrankwand mit Stellenabsagen gefüllt werden? Die Größenordnungen, mit denen über die Anzahl der Bewerbungen junger Menschen gesprochen werden sollte, liegen jedenfalls nicht bei einhundert, sondern lassen sich besser mit der Anzahl gefüllter Aktenordner erfassen. Ich habe inzwischen 3 gefüllt, der vierte ist in Arbeit.

Meine Schilderungen sind nur eine persönliche Momentaufahme. Sicher ist jedoch, dass Ihre im Interview genannte Bewerbungsanzahl von 100 viel zu niedrig gegriffen ist und nicht die Realität und Erfahrungen motivierter Arbeitssuchender widerspiegelt.

Ihre Nachdenkseiten gehören inzwischen zu meiner täglichen Lektüre. Ihr Buch – leider noch nicht gelesen – werde ich mir auch noch zu Gemüte führen.
Als Volkswirt haben Sie selbstverständlich ein makroökonomisches Wissenschaftsinteresse – und das sei Ihnen ungenommen und ist so in bester Ordnung. Der vorliegende Brief an sie möchte Sie nur – aber damit erzähle ich Ihnen nichts Neues – auf die vielen persönlichen Niederlagen und Katastrophen aufmerksam machen, die in Ihrem Interview ungenannt bleiben. Ich danke Ihnen für Ihren wertvollen Beitrag zu aktuellen politischen Debatten.“


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