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Titel: Europa spielt mit dem Feuer

Datum: 15. Mai 2012 um 14:03 Uhr
Rubrik: Euro und Eurokrise, Europäische Union, Schulden - Sparen
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Die Fronten zwischen Griechenland und seinen „Rettern“ verhärten sich von Tag zu Tag mehr. Der Ausschluss Griechenlands aus EU und Eurozone galt zum Jahresbeginn noch als wenig wahrscheinliches und vor allem auch bedrohliches Schreckensszenario. Glaubt man deutschen und österreichischen Regierungsvertretern ist aus diesem Szenario mittlerweile eine Option geworden, die ernsthaft in Betracht gezogen wird. Für Alexis Tsipras, den neuen starken Mann in Athen, ist diese Option jedoch lediglich ein Bluff. Sollte Europa nicht schon bald das Ruder herumreißen, könnte es zu einem Showdown an der Ägäis kommen, der nicht nur in Griechenland, sondern in ganz Europa in einer ökonomischen und politischen Katastrophe enden könnte. Von Jens Berger

„Wir wollen, dass Griechenland in der Eurozone bleibt, aber ob Griechenland in der Eurozone bleibt, das liegt in den Händen der Griechenlands und das ist eine Entscheidung, die in Griechenland gefällt wird“. Diese Worte, die Vito Corleone aus Mario Puzos Paten alle Ehre machen würden, stammen vom deutschen Außenminister Guido Westerwelle. Griechenlands Wähler haben sich nicht gegen das Verbleiben in der Eurozone entschieden und werden dies auch in den für Juni anberaumten Neuwahlen aller Voraussicht nach nicht tun. Das Votum des griechischen Volkes war vielmehr ein Votum gegen die Klientelparteien ND und Pasok und gegen das zerstörerische Austeritätsprogramm (Memorandum), das dem Land von der Troika (EU, EZB und IWF) aufgezwungen wurde.

Die politischen Ziele der aufstrebenden Parteien links der sozialdemokratischen PASOK sind nicht der Austritt aus der Eurozone, sondern seine Stundung sowie ein Teilerlass der Schulden und eine Abkehr vom alles abwürgenden Sparkurs. Doch selbst wenn Alexis Tsipras und sein linkssozialistisches Bündnis Syriza bei einer Wiederholung der Wahlen eine absolute Mehrheit bekommen sollten, haben sie nicht die Mittel, ihre Forderungen auch durchzusetzen.

Über das Schicksal Griechenlands wird längst nicht mehr in Athen entschieden. Wie die griechische Tragödie enden wird, liegt in der Hand der Troika. Griechenland hängt am finanziellen Tropf seiner Geldgeber und nicht das griechische Volk oder die Politik, sondern sie entscheiden über die Zukunft des Landes.

Ginge es nach Alexis Tsipras, würde Athen aus ökonomischer Notwehr heraus, die von der Troika oktroyierte Sparpolitik beenden und seine Kreditverpflichtungen einstweilen nicht mehr bedienen. Tsipras ist davon überzeugt, dass die Geldgeber sich aus Sorge vor dem kompletten Ausfall ihrer Forderungen und aus Angst, dass auch andere Euro-Sorgenkinder in den Abgrund gerissen werden könnten, sich mit einer neuen griechischen Regierung zu Nachverhandlungen bereiterklären würden.

Alexis Tsipras hat jedoch das Problem, dass die Entscheider unter den Gläubigern nicht rational denken, sondern – wie die bisherige Politik zur Bekämpfung der Euro-Krise beweist – Getriebene ihrer eigenen Ideologie sind. Wenn Griechenland der Troika die Bedingungen diktieren könnte, würde der – vor allem von Deutschland propagierten –„Shock and Awe“-Strategie („Schrecken und Ehrfurcht“) der Boden unter den Füßen weggezogen. Warum sollten Portugal, Irland, Spanien und Italien sich dann noch von der Troika knallharte Bedingungen diktieren lassen, mit denen die ökonomische Basis dieser Länder erodiert und die Bevölkerung in Armut getrieben wird? Auch Portugal hat eine Jugendarbeitslosigkeit von mehr als 50% und leidet erbärmlich unter Merkels Austeritätsknute. Die Macht des Paten Vito Corleone gründete darauf, dass jedermann wusste, wie er mit Menschen umging, die sich seinem Willen widersetzten und keine Kompromisse einging. Es ist keinesfalls auszuschließen, dass die EU nicht blufft und ihren Worten auch Taten folgen lässt und Griechenland aus der Eurozone zwingt.

Um sich die Folgen des Machtpokers in Athen und Brüssel auszumalen, lohnt es sich, einen Blick auf die im Raume stehenden Optionen zu werfen, mit denen die europäische Politik auf die Entwicklungen in Griechenland reagieren kann:

Option 1: Fortsetzung der Memorandum-Politik

Ginge es nach den Willen der deutschen Regierung und der EU-Kommission würde Griechenland den eingeschlagenen Weg fortführen, die Staatsausgaben noch weiter zurückfahren und die neoliberalen Strukturreformen fortführen. Dadurch würde sich die nun bereits fünf Jahre andauernde Rezession sich noch weiter vertiefen und da mit der Wirtschaftskraft auch die Staatseinnahmen in den Keller gehen, ist auch keine Sanierung des Staatshaushalts in Sicht. Ob und auf welchem Niveau der Teufelskreis aus Einsparungen, Lohnsenkungen, Deregulierung des Arbeitsmarkts, Arbeitslosigkeit und der zwingend damit verbundenen weiteren Verschlechterung des Staatshaushalts zu stoppen ist, können noch nicht einmal die Befürworter der Sparpolitik sagen. Sie setzen ihre Hoffnung ausschließlich darauf, dass das in ferner Zukunft zum Erfolg führen könnte.

Griechenland steht immer noch vor einem gigantischen Schuldenberg, der immer noch weiter wächst. Sollte kein ökonomisches Wunder geschehen, wird das Land seine Verpflichtungen auch mittel- bis langfristig nicht alleine stemmen können. Andere Optionen (Schuldenerlass/Euro-Austritt) werden durch die Memorandum-Politik lediglich hinausgeschoben. Eine Fortsetzung der Memorandum-Politik stelle somit keine Lösung der Probleme dar, sie ist ökonomisch unsinnig und – wie es immer so schön heißt – politisch (d.h. gegen die Menschen) nicht umsetzbar. Die massenhafte Verarmung, die fortwährenden Demütigungen und vor allem die schiere Hoffnungslosigkeit haben dazu beigetragen, dass sich das griechische Volk aus seiner Duldungsstarre befreit und zu mehr als zwei Dritteln eine Politik gewählt hat, die sich gegen eine Fortsetzung der ökonomischen Strangulierung des Landes richtet. Eine weitere Suspendierung der Demokratie hätte somit nicht nur ökonomische, sondern auch politisch unabsehbare Folgen, siehe z.B. das Aufkommen der Neonazis.

Option 2: Stundung und/oder Teilerlass der Schulden

Griechenland ist nach der Umschuldung der Forderungen privater Gläubiger und dem daraus resultierenden technischen Staatsbankrott im März dieses Jahres mittlerweile fast ausschließlich bei der Troika verschuldet. Eine Sonderrolle nimmt hier der „Rettungsschirm“ EFSF ein, bei dem Athen momentan mit 103 Milliarden Euro verschuldet ist – hier garantieren die Eurostaaten die Rückzahlung der Kredite an – meist – private Investoren. Technisch gesehen, vertritt die Troika somit inzwischen nahezu die gesamte Gläubigerseite. Bei entsprechendem politischem Willen, könnte die Troika ohne weiteres ein Moratorium über die griechischen Schulden verhängen. Dazu gibt es durchaus historische Parallelen. US-Präsident Hoover verhängte beispielsweise 1931 im Zuge der Weltwirtschaftskrise ein Moratorium für die europäischen Schuldner der USA. Würde man Griechenland ein paar Jahre Luft zum Atmen geben und warten, bis die griechische Konjunktur wieder Fuß fasst, könnte man immer noch über die Rückzahlungsmodalitäten der Kredite verhandeln. Jeder Gläubiger weiß, dass es manchmal durchaus von Vorteil sein kann, seinen Schuldner am Leben zu lassen.

Sollte die Troika zu keinen Konzessionen bereit sein, droht ohnehin ein Ausfall der vergebenen Kredite. Im Falle eines Euro-Austritts Griechenlands ist sogar ein Totalausfall der Kredite der anderen Euroländer und der EZB wahrscheinlich. Durch einen Erlass oder eine weit gestreckte Stundung der Forderungen könnten die Kreditgeber wenigstens einen Teil ihrer Kredite zurückbekommen. Noch wichtiger ist jedoch, dass eine solche Lösung einen Zusammenbruch der griechischen Wirtschaft und des griechischen Bankensystems verhindern würde und so die Ansteckungsgefahr für den Rest der Eurozone minimieren würde. Eine solche Lösung läge jedenfalls in beidseitigem Interesse.

Option 3: Staatsbankrott und Ausschluss aus EU und Eurozone

Die Euro-Verträge sehen zwar weder einen freiwilligen noch einen erzwungenen Austritt eines Eurolandes aus der Gemeinschaftswährung vor. Doch Papier ist geduldig, zumal ein Stopp der Hilfszahlungen derart desaströse Auswirkungen hätte, das Griechenland gar keine Wahl hätte, als die Gemeinschaftswährung zu verlassen. Da Griechenland ein Primärdefizit hat, die Einnahmen des Staates also die Ausgaben nicht decken, könnte der Staat bereits wenige Wochen nach dem Stopp der EU-Zahlungen seine Rechnungen und damit auch die Löhne der Staatsbediensteten nicht mehr bezahlen. Aber dies wäre sogar noch das harmloserer Problem im Vergleich zur ökomischen Lawine, die das Land niederwalzen würde. Der gesamte griechische Bankensektor hängt am Tropf der EZB, ohne den Zugang zur europäischen Zentralbank können sich die griechischen Banken nicht refinanzieren und wären von einem Tag auf den anderen pleite, zumal der griechische Staat und öffentliche Betriebe, für die der Staat haftet (zusammen sind dies 107 Mrd. Euro), nicht nur als potentieller Retter, sondern nun auch als Schuldner ausfallen würde. Ein Zusammenbruch des griechischen Bankensystems würde zum einen zu einer panikartigen Kapitalflucht führen und andererseits der griechische Wirtschaft den Todesstoß verpassen. Wohl dem Betrieb, der über Auslandskonten verfügt!

In einem solchen Szenario würde die EU Griechenland am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Der gesamte griechische Staat wäre vom Geldverkehr abgeschnitten und gezwungen, aus dem Euro auszutreten und eine – wie auch immer geartete – eigene Währung einzuführen. Selbstverständlich wären damit die bestehenden Zahlungsverpflichtungen nicht weg. Eine „neue Drachme“ würde gegenüber dem Euro zwischen 30 und 50 Prozent abwerten. Die Altschulden aller Sektoren (Privathaushalte/Unternehmen/Staat) sind aber in Euro notiert und es ist wahrscheinlich, dass ein großer Teil dieser Altschulden nicht bedient werden kann. Griechenland wäre fortan ein Paria auf den internationalen Finanzmärkten. Es käme zu einem harten Schuldenschnitt, bei dem wohl nur der IWF seine Gelder zurückbekommt. Kredite des IWF gelten vor allem bei Staaten, die von den Finanzmärkten abgeschnitten sind, als einzige Möglichkeit, überhaupt noch an Devisen zu kommen. Die einzigen Staaten, die noch nicht einmal ihre Schulden beim IWF bedienen können, sind Somalia, Sudan und Zimbabwe.

Es ist sehr spekulativ, die konkreten Folgen eines Euroaustritts Griechenland zu benennen. Fest steht jedoch, dass Griechenland zum Armenhaus Europas würd. Es gab bislang noch keinen Staat, der einen Staatsbankrott hinlegen musste und gleichzeitig aus einer Währungsunion ausgeschlossen wurde.

Die Schockwellen einer solchen ökomischen und politischen Katastrophe ließen sich mit Sicherheit nicht auf Griechenland begrenzen. Sollte Europa Griechenland fallen lassen, würde eine massive Kapitalflucht auch aus den angeschlagenen Euroländern (Portugal, Irland, Spanien, Italien) in das Zentrum der Eurozone stattfinden. Gleichzeitig würden die Banken keine Kredite mehr in die Peripherie vergeben, müssten sie doch nach dem Präzedenzfall Griechenland gleichfalls mit einem Ausfall rechnen, wenn auch andere Staaten aus der Eurozone herausfallen würden. Ein Ausschluss Griechenlands aus der Eurozone hätte eine epidemische Wirkung und würde die Eurokrise binnen kürzester Zeit auf die nächste Eskalationsstufe heben. Dieses Szenario wäre der worst case und wahrscheinlich der Beginn des Endes der Gemeinschaftswährung überhaupt.

Was will Europa?

Nach rationalen Abwägungen gibt es nur eine Option, mit der Europa nicht nur Griechenland, sondern auch sich selbst aus der Krise befreien kann: Ein Schuldenmoratorium für Griechenland, kombiniert mit einem durchdachten Wachstums- und Investitionsprogramm für die Europeripherie und einer Anpassung der Lohnstückkosten im Zentrum der Eurozone zur Stärkung der Binnennachfrage. Sollte Europa sich für diesen Weg entscheiden, werden auch kommende Generationen noch in einem gemeinsamen Europa leben können. Sollte sich Europa entgegen jeder rationalen Abwägung dazu entscheiden, an Griechenland ein Exempel zu statuieren, wie mit Staaten umgegangen wird, die sich der neoliberalen Doktrin verweigern, werden die Folgen für den gesamten Kontinent zerstörerisch sein und den Traum vom gemeinsamen Europa nachhaltig beschädigen. Sechs Jahrzehnte der europäischen Annährung stünden plötzlich zur Disposition. Der Kontinent wäre durch politische Borniertheit plötzlich um 100 Jahre zurückgeworfen in die Zeit der konkurrierenden Nationalstaaten mit ihren hegemonialen Sphären. Es steht viel auf dem Spiel, hoffen wir, dass sich die Verantwortlichen in Athen, Berlin und Brüssel ihrer historischen Verantwortung bewusst sind.


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