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Titel: Wie demokratische Grundprinzipien durch Koalitionsverträge ausgehebelt werden – ein Déjà-vu in Dauerschleife

Datum: 15. April 2025 um 9:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Bundestag, Erosion der Demokratie, Parteien und Verbände
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Das hehre Bild unserer Demokratie, welches in der Öffentlichkeit beständig gezeichnet wird und an das auch die Mehrheit der Menschen in diesem Land glaubt, ist doch folgendes: Steht eine Entscheidung, in der Regel ein Gesetz, im Bundestag zur Abstimmung an, so diskutieren und beschließen die Abgeordneten dies im Bundestag als „freie und nur ihrem Gewissen unterworfene Vertreter“ des Volkes. Für jedermann nachzulesen in Art. 38 Abs. 1 Grundgesetz. Also alles in Ordnung?, fragt sich Lutz Hausstein.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Doch Theorie und Praxis sind häufig zwei Dinge, die auch gern mal auseinanderklaffen. Denn ganz so frei in ihren Entscheidungen sind die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in der Realität dann doch nicht.

Schritt 1: Der Fraktionszwang

Kurz gesagt ist der Fraktionszwang etwas, das es zwar theoretisch so richtig gar nicht gibt, der aber trotz seiner Nichtexistenz in der Praxis regelmäßig wirksam wird.

Bei wichtigen Abstimmungen in den jeweiligen Parlamenten (nicht nur im Bundestag, sondern auch in den Landtagen, sogar in den kommunalen Parlamenten) wird im Vorfeld durch einen sehr kleinen Machtzirkel im Zentrum so ziemlich jeder Partei (einschlägig gern als „Elefanten“ bezeichnet) festgelegt, welche Entscheidung die Abgeordneten der eigenen Partei zu treffen haben. Diese werden daraufhin auf diese Entscheidung eingeschworen. Bei sehr wichtigen Abstimmungen werden parteiintern zuvor gern sogenannte Probeabstimmungen durchgeführt, um das Abstimmungsverhalten zu überprüfen und gegebenenfalls die Abgeordneten nochmals auf die Parteilinie respektive die Fraktionslinie einzuschwören.

Nun ist zwar jeder Abgeordnete in seiner Entscheidung frei – ein unmittelbarer Zwang bei Abstimmungen ist nicht möglich. Besitzt der jeweilige Abgeordnete genügend persönliche Widerstandsfähigkeit, so kann er bei dieser Abstimmung und sogar bei jeder weiteren Abstimmung in dieser Legislaturperiode seinem eigenen Gewissen folgen und seine Stimme seinem persönlichen politischen Standpunkt entsprechend abgeben.

Die Folgen eines solchen Handelns wären für ihn jedoch gravierend. Die beinahe noch mildeste Folge wäre, dass dieser Abgeordnete in der Fraktion, aber auch in der Partei anschließend einen Spießrutenlauf absolvieren müsste. Egal ob er hierbei gezielt von den Informationen seiner Fraktion abgeschnitten würde oder von weiteren Arbeiten abseits seiner reinen Abgeordnetentätigkeit – so zum Beispiel bei der Mitgliedschaft in einem Bundestagsausschuss – ausgeschlossen würde: Die Arbeit dieses Abgeordneten wäre massiv eingeschränkt. Darüber hinaus wäre er aber auch als „Abweichler“ politisch verfemt. Auf so ziemlich allen politischen Ebenen würde man sich von ihm zurückziehen, er würde als Fremdkörper behandelt und ausgeschlossen.

Das eigentliche Problem eines solchen widerständigen Abgeordneten wäre hingegen ein anderes. Egal ob er nun als direkt gewählter Abgeordneter oder über die Landesliste in den Bundestag gekommen wäre: Seine Partei könnte ziemlich gesichert dafür sorgen, dass er bei der nächsten Wahl seinen Wahlbezirk an ein anderes Parteimitglied verliert oder (beim Einzug über die Parteiliste) auf einem hinteren Listenplatz landet, auf dem ein erneuter Einzug in den Bundestag de facto unmöglich wäre.

Es gibt zwar Ausnahmen davon, aber diese sind handverlesen. Der langjährige SPD-Bundestagsabgeordnete Marco Bülow, von 2002 bis 2021 MdB, hatte schon frühzeitig gezeigt, dass er einen eigenen Kopf hat, und hat sich nicht strikt der Partei- bzw. Fraktionslinie untergeordnet. Danach hat die SPD in seinem von ihm gewonnenen Wahlbezirk Gegenkandidaten installiert, um ihn so am Einzug in den nächsten Bundestag zu hindern. Zu Bülows Glück hat die Parteibasis vor Ort diese Machenschaften verhindert. Aber auf Bülows Positiv-Beispiel kommen Hunderte oder gar Tausende Gegenbeispiele. In der SPD genauso wie in anderen Parteien. Marco Bülow war eine Ausnahme, die die Regel erst recht bestätigt.

So sind es denn die Ängste um die Zukunft und um das eigene Fortkommen, die Abgeordnete dazu bringen, sich „freiwillig“ dem Fraktionszwang zu unterwerfen und entgegen ihren eigenen Überzeugungen für (oder gegen) ein Gesetz zu stimmen. Der Fraktionszwang ist äußerst wirksam und er hebelt das demokratische Grundprinzip des freien Mandats aus.

Schritt 2: Der Ausschluss von „wechselnden Mehrheiten“ in den Koalitionsverträgen

Als wäre das nicht schon schlimm und demokratiezersetzend genug, wird seit längerer Zeit eine Passage in die Koalitionsverträge eingebaut, die beim flüchtigen Lesen der dieses Mal immerhin 146 Seiten zwar schnell übersehen werden kann, deren Auswirkung aber für das Abstimmungsverhalten im Parlament von fundamentaler Bedeutung ist. Die Zauberformel lautet „wechselnde Mehrheiten“. Wer mit diesem an und für sich wenig aussagekräftigen Begriff nichts anfangen kann, dem seien die beiden entscheidenden Absätze ans Herz gelegt, die zu diesem Schlagwort im aktuellen schwarz-roten Koalitionsvertrag stehen:

„Im Deutschen Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab. Das gilt auch für Fragen, die nicht Gegenstand der vereinbarten Politik sind. Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen.

Über das Verfahren und die Arbeit im Parlament wird Einvernehmen zwischen den Koalitionsfraktionen hergestellt. Anträge, Gesetzesinitiativen und Anfragen auf Fraktionsebene werden gemeinsam oder im Ausnahmefall im gegenseitigen Einvernehmen eingebracht.“

Wie hat man sich das nun in der Praxis vorzustellen? Die Handlungsanweisung steht ja de facto schon im Text des Vertrags. Im Bundestag steht eine Abstimmung zu einem für die Partei(en) wichtigen Thema an bzw. die Regierungskoalition möchte eine solche initiieren. Die Führungszirkel der jeweiligen Parteien erarbeiten ihre Standpunkte und das von ihnen gewünschte Abstimmungsverhalten ihrer Abgeordneten. So weit, so bekannt. Wenngleich auch das schon wenig demokratisch ist.

Nun schreibt aber der Koalitionsvertrag vor, dass die Fraktionen der Regierungsparteien einheitlich abstimmen müssen. Was dürfte da im Normalfall passieren? In einer Zweier-Koalition wie der aktuellen dürfte es wenig Zweifel geben. Der größere Koalitionspartner teilt dem kleineren seinen Standpunkt mit und dieser ist nun gezwungen, ihn zu übernehmen. Und damit per Fraktionszwang auch seine eigenen Abgeordneten verpflichten, sich diesem unterzuordnen. Der in seinen Entscheidungen freie und nur seinem Gewissen unterworfene Abgeordnete ist da ohnehin nur noch Makulatur. Nun auch auf mehrfacher Ebene. Einerseits durch den Fraktionszwang und andererseits durch den Koalitionsvertrag.

Doch wer nun glaubt, die Passage mit den wechselnden Mehrheiten sei ein Griff in die Trickkiste, der jetzt von der Unionsfraktion oder zumindest der schwarz-roten Regierung ersonnen wurde, der irrt. Meine Recherche ergab zeitlich absteigend, dass auch in den Koalitionsverträgen der SPD/Grünen/FDP-Koalition 2021, der CDU/CSU/SPD-Koalition 2018, der CDU/CSU/SPD-Koalition 2013, der CDU/CSU/FDP-Koalition 2009, der CDU/CSU/SPD-Koalition 2005, der SPD/Grünen-Koalition 2002 bis hin zur SPD/Grünen-Koalition 1998 diese Passage zu wechselnden Mehrheiten – in den entscheidenden Teilen sogar komplett wortgleich – enthalten war.

Der renommierte Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim kritisierte dies auch schon 2001 in seinem Buch „Das System – Die Machenschaften der Macht“ sehr deutlich:

„Die rot-grüne Koalitionsvereinbarung von 1998 hat erstmals sogar die ausdrückliche Pflicht der Koalitionsfraktionen zu einheitlichen Abstimmungen und zum Unterbinden wechselnder Mehrheiten niedergelegt und damit das freie Mandat vollends zur Farce gemacht.“

Dies kann ich an dieser Stelle nur noch einmal bestätigen. In einer Diskussion mit einer ehemaligen Bundestagsabgeordneten, die über mehrere Legislaturperioden für die SPD im Bundestag saß, antwortete sie auf meine Kritik an ihrem Abstimmungsverhalten zu mehreren sozialpolitischen Themen, dass es „vor diesem Hintergrund“ [dem Koalitionsvertrag mit der Passage zu den wechselnden Mehrheiten; L.H.] eben auch dazu kommen kann, dass sie „nicht entsprechend ihrer politischen Haltung abstimmt“. Dies lässt wenig Spielraum für die Annahme, dass diese Passage das freie Abgeordnetenmandat ad absurdum führt.

Die erneute Aufnahme der Passage zu den wechselnden Mehrheiten in den aktuellen Koalitionsvertrag stellt eine fortsetzte Missachtung des im Grundgesetz festgeschriebenen demokratischen Prinzips des freien Abgeordnetenmandats dar. Es muss gesichert sein, dass Abgeordnete ohne Zwänge ihre Stimme abgeben können und das sein können, was sie dem Wortsinne nach sein sollen: Vertreter des Volkes.

Titelbild: DesignRage/shutterstock.com


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