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Titel: Kriegstüchtigkeit – die große Lüge!
Datum: 28. März 2025 um 10:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Redaktion
Das politische Großvorhaben Kriegstüchtigkeit baut auf Lüge, Paranoia und eine schamlose Verdrehung der Realität. Geht es nach dem politischen Willen, soll die gesamte Republik kriegstüchtig werden, um bei einem Angriff Russlands kämpfen zu können. Doch warum sollte Russland die NATO angreifen? Dafür gibt es keinen Grund. Es wird Zeit, der Lüge die Luft abzulassen. Von Marcus Klöckner.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Politiker in Deutschland und Europa projizieren das Feindbild Russland an den Himmel. Die Vorstellung von den „bösen Russen“, die in der Ukraine „nicht haltmachen“ und in „barbarischer Gier“ ganz Europa plattwalzen wollen, bestimmt derzeit das politische Handeln von NATO, Europäischer Union und Deutschland.
Eine schier unfassbare Neuverschuldung, durchgewunken von der Mehrzahl der Volksvertreter im Bundestag, soll dem Land dazu „dienen“, dass in dieser „schweren Stunde“ im Sinne unserer Demokratie das politische Ziel Kriegstüchtigkeit erreicht werden kann. Doch: Es gibt weder eine „schwere Stunde“ noch dient das Großvorhaben Kriegstüchtigkeit der Demokratie. Das Projekt Kriegstüchtigkeit ist das größte politische Propagandaprojekt seit Bestehen der Bundesrepublik. Angetrieben wird es von Lügen, Paranoia und einer schamlosen Verdrehung der Realität. Das Fundament, auf das ein Klüngel aus Politikern, Legitimationsexperten und Medienvertretern ihr Märchen vom kriegslüsternen Russland baut, hat die Tragfähigkeit eines Wackelpuddings.
Das hindert die „Fraktion Feindbildaufbau“ allerdings nicht daran, ihren Propagandabau weiter voranzutreiben. Propaganda braucht letztlich kein reales, tragfähiges Fundament. Das Einzige, was sie braucht, ist eine Macht, die sie nährt – mit Bildern, Lügen, Manpower und Geld. Ist das vorhanden, schert sich die Propaganda einen Dreck um solide Grundlagen, um Logik, gute Argumente und die Wahrheit.
„Russland könnte bald die NATO angreifen“ – das ist so ein Satz, der von vorne bis hinten von Propaganda durchdrungen ist und den Verstand eines jeden vernünftigen Menschen beleidigt. Und dennoch ist die politische Macht, die hinter ihm steht, gerade dabei, großes Unheil anzurichten.
Ist die Propaganda in die Köpfe der Bevölkerung gepflanzt, lebt sie davon, dass ihre verqueren Grundprämissen nicht hinterfragt und als Realität betrachtet werden. Deshalb ist es höchste Zeit, der Propaganda mit einem Akt der Dekonstruktion entgegenzutreten.
Warum sollte Russland die NATO angreifen? Und: Was wäre das Ziel eines solchen Angriffs?
Gehen wir diesen Fragen nach, steht die Propaganda nackt vor uns. Es heißt, die NATO sei Russland in einem konventionellen Krieg aufgrund ihrer militärischen Stärke weit überlegen. Dass dem so ist, davon kann ausgegangen werden. Folglich bliebe Russland nur die Möglichkeit eines Nuklearschlages. Doch die Annahme, dass Russland – quasi „einfach so“ – zu einem atomaren Angriff gegen Europa ausholt, würde bedeuten, der russischen Führung jede Form der Menschlichkeit abzusprechen. Sie müsste von geradezu abartiger Skrupellosigkeit besessen und bereit sein, Millionen unschuldige Menschen – Männer, Frauen, Kinder, Babys – auf einen Schlag zu töten. Auch wenn Politiker in allen Ländern bisweilen ohne mit der Wimper zu zucken über Leichen gehen und Skrupellosigkeit in der Politik oft genug ihre liebste Heimat hat: Die Annahme eines nuklear angreifenden Russlands mag im Kopf der ewigen Russlandhasser verankert sein, realistisch ist sie nicht.
Selbst unter der Annahme, dass „die Russen“ tatsächlich so eiskalt wären: Die Realität hat oft genug gezeigt, dass auch eiskalte Akteure plötzlich sehr zurückhaltend sind, wenn sie befürchten müssen, dass es ihnen selbst an den Kragen geht.
Anders gesagt: Bei einem Atomschlag Russlands würden – davon ist auszugehen – auch Atomraketen nach Russland fliegen. Das Ergebnis wäre: totale Zerstörung hier und totale Zerstörung dort. Im Hinblick auf die zu erwartenden Schäden ergibt – nüchtern, strategisch betrachtet – ein solches Vorgehen schlicht keinen Sinn. Selbst unter der unrealistischen Annahme, dass Russland – wie auch immer – mit einem schnellen Schlag Europa zerstören und einen Gegenschlag verhindern könnte: Von den massiven nuklearen Auswirkungen wäre auch Russland betroffen.
Also gehen wir einen Schritt zurück. Folgen wir für einen Moment der Kriegstüchtigkeitserzählung und nehmen an, dass Russland zwar jetzt noch nicht so weit ist, dass es die NATO auf konventionellem Wege angreifen könnte, aber bald zu dem Schritt fähig wäre.
Zuvor ein paar Zahlen. Derzeit verhält es sich laut Statista wie folgt: Zählt man alle aktiven Soldaten, die Reserveeinheiten und paramilitärischen Verbände zusammen, kommt die NATO auf eine Soldatenstärke von 8,7 Millionen Mann. Auf russischer Seite sind es 3,5 Millionen. Die NATO verfügt über rund 3.300 Jagdflugzeuge, Russland über 830. So könnten nun alle möglichen Vergleiche auf militärischer Ebene durchgegangen werden, und nahezu immer käme ein Vorteil für die NATO zum Vorschein.
Selbst unter der unrealistischen Annahme, dass Russland in ein paar Jahren mit der NATO annähernd gleichziehen sollte: Um zu verstehen, dass bei diesen Kräfteverhältnissen ein Angriffskrieg auf die NATO nicht einem gemütlichen Durchmarsch bis an den Atlantik gleichkäme, braucht man kein General zu sein. Ein Angriff Russlands auf die NATO würde in einem furchtbaren Blutbad für alle Beteiligten enden – selbst ohne Atomwaffeneinsatz.
Aber gut, gehen wir für einen Moment weiter davon aus, dass Russland trotzdem diesen Schritt vollzöge.
Und dann? Selbst unter der völlig unrealistischen Annahme, dass es Russland gelänge, Europa mit konventionellen militärischen Mitteln zu besiegen: Was wäre nach einem „Sieg“? Was wollte Russland, dessen Bevölkerungszahl rund 140 Millionen beträgt, mit der Eroberung einer Europäischen Union, deren Industrie vermutlich völlig zerstört wäre und die rund 450 Millionen Menschen umfasst, anfangen?
In der EU gibt es allein 24 Amtssprachen – hinzu kommen dann auch noch Minderheitensprachen wie etwa Baskisch oder Katalanisch. Wie viele Bürger in der EU sprechen wohl Russisch? Wie viele Russen sprechen Dänisch, Französisch, Italienisch?
Selbst unter der unrealistischen Annahme, dass in allen Ländern nach einer Eroberung zwischen Besatzern und Unterworfenen auf Englisch kommuniziert werden könnte: Wie sollte allein unter sprachlichen Gesichtspunkten eine neue Verwaltung und all das, was eine totale Übernahme von Ländern nach Eroberung erforderlich machte, erfolgen?
Hinzu kommt: Selbst unter der unrealistischen Annahme, dass es Russland gelänge, eine Verwaltungsordnung usw. zu etablieren: 450 Millionen Bürger aus 27 Ländern lassen sich, auch wenn ihre Länder militärisch besiegt wären, nicht so einfach unterwerfen. Und ein Eroberungsfeldzug Russlands gegen die EU, gegen die NATO, würde dann ja nicht nur einen Angriff auf 27 EU-Länder bedingen, sondern vermutlich auf alle 44 Länder Europas bedeuten.
Also: Unter der unrealistischen Annahme, dass Russland Europa militärisch besiegen würde, wäre davon auszugehen, dass danach noch ein ganz anderer Krieg folgen würde – nämlich der Krieg nach dem Krieg, ein Krieg aus dem Innern der Länder, von Partisanen, die immer wieder gegen die Besatzungsmacht vorgehen würden.
Die sich anschließenden Szenarien könnten immer weiter durchgespielt werden, aber wie wir es auch drehen und wenden: Das ginge für Russland niemals gut aus. Allein die gigantischen menschlichen Verluste, die Russland zu beklagen hätte, würden das Land aller Voraussicht nach schon innenpolitisch zum Kollabieren bringen.
Bleibt noch ein Szenario in einem kleineren Maßstab: Von politischer Seite heißt es immer wieder, Russland könnte irgendwann ein Land an der NATO-Ostflanke angreifen.
Gut, nehmen wir an, Russland hätte nicht vor, in ganz Europa einzumarschieren, sondern vielleicht nur ein, zwei, drei Länder an der „NATO-Grenze“ zu erobern, um einen größeren militärischen Puffer zur NATO aufzubauen.
Das wäre, würde sich die NATO aus – sagen wir – Eskalationsgründen zurückhalten, militärisch möglich. Doch auch hier gibt es ein Logikproblem.
Wenn Russland aus strategischen Gründen so vorgehen wollte: Warum macht es das Land dann nicht sofort? Oder: Warum hat Russland nicht schon vor Jahren diese Länder erobert? Warum sollten die „eiskalten“ russischen Strategen warten, bis die NATO weiter hochgerüstet und mit einer immer größeren Militärstärke an der russischen Grenze steht?
Schnell wird deutlich: Auch ein solches Szenario ergibt keinen Sinn. So wie alle anderen Szenarien ergibt ein solches Szenario nur Sinn in der Welt der Propaganda.
Der Vollständigkeit halber denken wir an dieser Stelle noch in eine andere Richtung. Stellen wir uns vor, die NATO würde selbst einen Angriff auf Russland in Betracht ziehen. Nehmen wir an, die NATO würde, nachdem sie noch weiter hochgerüstet ist, Russland angreifen, um einem herbeifantasierten Angriff Russlands zuvorzukommen, im Sinne von ‘Angriff ist die beste Verteidigung‘.
Wie sähe dann die Realität aus?
Es ginge dabei nicht um den Angriff auf 27 oder 44 Länder, es ginge um den Angriff auf ein Land. Besatzer müssten sich nicht mit 24 und mehr Sprachen herumärgern, sondern nur mit einer. Der Angriff ginge dann von einem Militärbündnis aus, das dem Angegriffenen auf konventioneller militärischer Ebene überlegen wäre.
Ein solcher Angriff wäre – zumindest hypothetisch – realistischer als umgekehrt. Doch, um das Hypothetische hinter uns zu lassen: Auch ein solches Szenario zerschellt an der Realität. Russland würde bei einem Angriff der NATO mit einer hohen anzunehmenden Wahrscheinlichkeit sehr früh, sehr hart nuklear zuschlagen – was wiederum zu einem atomaren Gegenschlag der NATO und der bereits angesprochenen gegenseitigen Zerstörung führen würde.
Kurzum: Auch an dieser Stelle ergibt ein Krieg keinen Sinn.
Das gesamte Unternehmen „Kriegstüchtigkeit“ baut auf unrealistische, zusammenfantasierte Kriegsszenarien, die von vorne bis hinten mit der Realität brechen. Weder wird Russland die NATO angreifen noch wird die NATO es wagen, Russland anzugreifen. Aber, und das ist die Stelle, wo es dennoch gefährlich wird: Wenn so große militärische Mächte sich immer unversöhnlicher, zunehmend feindseliger gegenüberstehen, ihre Bürger auf Kriegstüchtigkeit trimmen wollen und immer weiter aufrüsten, dann kann es sein, dass irgendwann ein Funke genügt, um eine Eigendynamik in Gang zu setzen, die aus rationaler Sicht niemand haben möchte.
Und noch etwas: Hier ist von „Rationalität“ die Rede. Die angestellten Überlegungen beruhen darauf, dass am Ende des Tages die Rationalität in allen verantwortlichen politischen Lagern überwiegen wird. Doch ist diese Rationalität tatsächlich noch vorhanden?
Lesetipp: Marcus Klöckner: Kriegstüchtig – Deutschlands Mobilmachung an der Heimatfront. Neu-Isenburg 2025, Fiftyfifty Verlag, broschiert, 160 Seiten, ISBN 978-3946778431, 16 Euro.
Titelbild: Juergen Nowak/shutterstock.com
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