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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Sommertheater statt Sommermärchen
Datum: 30. April 2012 um 14:24 Uhr
Rubrik: Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Länderberichte, Lobbyismus und politische Korruption
Verantwortlich: Jens Berger
Politiker der vier etablierten Parteien und Kommentatoren der etablierten Medien übertreffen sich an diesem Wochenende gegenseitig darin, dem EM-Ko-Gastgeber Ukraine mit „ernsthaften Konsequenzen“ zu drohen, wenn dieser die beliebte Politikerin Juliya Tymoschenko nicht nach Deutschland ausreisen lässt. Wir befinden uns nun einmal im Wahlkampf und da scheint es hierzulande zur Normalität zu gehören, lautstark gegen andere Länder zu poltern und diplomatische Gepflogenheiten zu ignorieren. Doch die Empörung ist bei näherer Betrachtung nur Theaterdonner. Das Stück vom ukrainischen Schurken, seinem schönen Opfer und dem edlen Ritter aus Deutschland, ist einfach zu „schön“ um es unerzählt zu lassen. Und da die Medien die schönsten politischen Theaterstücke ohnehin nicht hinterfragen, wird uns die absurde Tragödie vom bösen Ukrainer wohl noch mehrere Wochen begleiten – so lange bis die EM vorbei ist und die nächste Sau durchs Dorf getrieben wird. Von Jens Berger
Zum Thema siehe auch: Albrecht Müller – Betr.: Ukraine. Es riecht nach PR-Kampagne – u.a. mit dem Ziel der Selbstbeweihräucherung
Dass es weitaus angenehmere Orte auf der Welt gibt als ukrainische Haftanstalten, steht außer Frage. Amnesty International zählte in einem Jahr 165 Folter- und Misshandlungsvorwürfe gegen ukrainische Haftanstalten und beklagte die „Untätigkeit der Behörden“, die keine adäquaten Ermittlungen durchführten. Amnesty International spricht auch davon, dass ukrainischen Häftlingen überlebenswichtige Medikamente vorenthalten würden – dies sei eine Folge der dramatischen Unterfinanzierung der Vollzugseinrichtungen und Gefängniskrankenhäuser. Alle diese Vorwürfe stammen aus dem AI-Jahresbericht 2009, die Ministerpräsidentin, die damals für diese desolate Situation verantwortlich zeichnete, hieß Julia Timoschenko. Den Westen störte dies damals nicht sonderlich. Weder von Angela Merkel noch von Guido Westerwelle sind kritische Statements überliefert, die Frau Timoschenko auffordern, die Haftbedingungen in ihrem Land im Namen der Menschenrechte zu verbessern.
Es ist auch nicht überliefert, dass deutsche Politiker auch nur einen Hauch von Empörung äußerten, als Polen und die Ukraine im April 2007 von den UEFA-Delegierten den Zuschlag für die Ausrichtung der Fußball-EM im Jahre 2012 erhielten. 2007 war die Menschenrechtslage in der Ukraine kein Jota besser als heute und auch damals war das Land vor allem für sein durch und durch korruptes politisches System bekannt. Aber Korruption war und ist ja bekanntlich weder für die UEFA, die FIFA, noch westliche Regierungen ein ernsthaftes Hindernis, wenn es um sportliche Großveranstaltungen geht. Wenn es die empörten deutschen Politiker mit ihrer Verquickung von Sport und Menschenrechten ernst nehmen würden, hätten sie in diesen Wochen eine wunderbare Gelegenheit dazu. Momentan laufen die Vorbereitungen für die EM-Vergabe 2020 und die Türkei gilt nicht nur als aussichtsreichster Kandidat, sondern ist bis dato auch der einzige Bewerber – schon in zwei Wochen läuft die Bewerbungsfrist ab. Deutschland hat kein Interesse, als Konkurrent in den Ring zu steigen. Das ist freilich „erstaunlich“, ist es doch bekannt, dass die Haftbedingungen in türkischen Gefängnissen ebenfalls desaströs sind und sich dort mehrere hundert kurdische politische Häftlinge im unbefristeten Hungerstreik befinden. Aber die inhaftierten Kurden haben sicher einen Schnurbart und ein orientalisches Äußeres und eignen sich allein deshalb nicht so gut für eine PR-Kampagne wie die blonde Jeanne d’Arc der orangenen Revolution in der Ukraine.
Die Gasprinzessin
Wenn ein Hollywood-Drehbuchautor ein herzzerreißendes Plot für eine Schmonzette über eine Politikerin schreiben würde, die in einem Schurkenstaat gegen das böse System kämpft, so hätte dieses Plot sicher große Ähnlichkeiten zur medialen Berichterstattung im Fall „Julia Timoschenko“. Die ehemalige Ministerpräsidentin genießt hierzulande das Image der demokratischen Ikone, die der ehemaligen Sowjetrepublik den Weg in den freiheitlichen Westen weisen will. Der Prozess gegen Timoschenko sei, so wissen es deutsche Medien zu berichten, ganz eindeutig politisch motiviert, ihre Haft sei mit Folter gleichzusetzen. Doch diese Mischung aus einer Gauck-Rede und einem Hollywood-Blockbuster basiert, ebenso wie die Schilderungen über Timoschenkos Haftbedingungen, nahezu ausschließlich auf den Aussagen von Timoschenkos Anwälten und ihrem familiären Umfeld. Es ist natürlich deren gutes Recht, eine sehr subjektive Sichtweise zu haben – es ist jedoch die Pflicht der Medien, darauf hinzuweisen, dass die subjektiven Schilderungen einer Konfliktpartei kein objektives Bild liefern, dies auch gar nicht liefern sollen. So werden beispielsweise die Schilderungen des Timoschenko-Anwaltes Sergej Wlasenko in der ansonsten so auf journalistische Akkuratesse bedachten FAZ zwischen den Zeilen als Fakt dargestellt – ganz ohne Konjunktiv und indirekter Rede, die Schilderungen des Anwalts gehen vielmehr nahtlos in den redaktionellen Teil des Artikels über. Dabei gäbe es auch alternative Erklärungen [*], die man zumindest in Betracht ziehen könnte.
Ob Frau Timoschenko sich der Verbrechen, für die sie verurteilt wurde und für solche, für die sie sich noch vor Gericht verantworten muss, schuldig gemacht hat, kann kein deutscher Journalist wissen. Fest steht jedoch, dass die Anschuldigen keinesfalls aus der Luft gegriffen sind und die einseitige Interpretation, nach der Julia Timoschenko eine politische Gefangene sei, weder belegbar, noch zielführend ist. Während der Periode des Zusammenbruchs der Sowjetunion war Julia Timoschenko einer der jungen und skrupellosen Geschäftsleute, die binnen weniger Monate zu steinreichen Oligarchen emporstiegen. Es ist hinlänglich bekannt, dass es im damaligen „Wilden Osten“ nur selten gesetzeskonform zuging und Korruption und Steuerhinterziehung, sowie diverse Kapitalverbrechen, nicht die Ausnahme, sondern die Regel waren. Es wäre somit zumindest unwahrscheinlich, wenn Frau Timoschenko bei ihrem sagenhaften Aufstieg vom vaterlosen Kind aus einfachen Verhältnissen zur reichsten Frau der Ukraine und Direktorin des nationalen Energiemonopolisten keine Gesetze gebrochen hätte.
Freilich ist jeder Mensch so lange als unschuldig anzusehen, bis ihm konkret eine Schuld bewiesen wurde – der in Deutschland vorherrschende Medientenor, der alle Vorwürfe als „politisch motiviert“ abtut, ist jedoch nicht haltbar. Die Klage gegen Timoschenko ist keine „Willkürjustiz“ (Zitat Kanzleramtsminister Ronald Pofalla). Sie basiert auf Ermittlung amerikanischer Anwaltskanzleien, wird parallel zum ukrainischen Verfahren auch in den USA geführt [PDF – 230 KB] und ein Gericht in New York hat im Februar eine Subpoena (Erzwingung zur Herausgabe von prozessrelevanten Informationen mit Strafandrohung) gegen die ehemalige Ministerpräsidentin erwirkt. Die Vorwürfe gegen Timoschenko sind auch Gegenstand eines amerikanischen Verfahrens gegen die Schweizer Bank Credit Suisse, die Timoschenko bei der Geldwäsche der unterschlagenen Geldern geholfen haben soll. Pawel Lasarenko, der nicht nur Timoschenkos politischer Ziehvater, sondern auch ihr Geschäftspartner und von 1996 bis 1997 ebenfalls Ministerpräsident der Ukraine war, wurde wegen ähnlicher Vorwürfe bereits 2004 in den USA zu einer neunjährigen Haftstrafe verurteilt. Wer das Verfahren gegen Julia Timoschenko als „rein politisch motiviert“ betrachtet, unterschlägt sehr viele Indizien, die klar gegen das Bild der unschuldigen Jeanne d´Arc sprechen.
Es ist jedoch Einerlei, ob man Julia Timoschenko für eine Verbrecherin oder eine Märtyrerin hält – die Haftbedingungen in der Ukraine sind desaströs und es gibt viele gute Gründe, diesbezüglich diplomatisch auf Kiew einzuwirken. Wenn die versammelte politische Prominenz dem ukrainischen Präsidenten Janukowitsch jedoch über die Medien ein Ultimatum stellt, das der internationalen Rechtspraxis zuwider verläuft (kein Land der Welt würde einen verurteilten Straftäter, gegen den weitere Verfahren anhängig sind, in ein Land ausreisen lassen, das die eigene Gerichtsbarkeit nicht anerkennt), so ist dies im höchsten Maße kontraproduktiv. Nun kann Janukowitsch, der schon öfters mit dem Gedanken spielte, die EU durch eine Ausweisung Timoschenkos zu besänftigen, die inhaftierte Politikerin nicht nach Deutschland überstellen, ohne dabei sein Gesicht zu verlieren.
Wie Albrecht Müller bereits korrekt angemerkt hat, geht es weder den deutschen Politikern, noch den deutschen Medien, um Frau Timoschenko, sondern vor allem um Selbstbeweihräucherung. In nicht einmal zwei Wochen wird in Nordrhein-Westfalen gewählt. Daher überrascht es auch nicht sonderlich, wenn CDU-Spitzenkandidat Norbert Röttgen sich besonders weit aus dem Fenster hängt und die Ukraine als Diktatur bezeichnet. In der Ukraine ist vieles im Argen, das Land ist sicher alles andere als eine lupenreine Demokratie, aber der Vorwurf einer Diktatur, ist für ein Land, in dem es zumindest halbwegs freie Wahlen gibt und das nach Willen der EU ein enger Partner werden soll, doch reichlich kindisch. Ebenso kindisch ist die Forderung der FDP-Politikerin Gudrun Kopp, die allen Ernstes die EM wenige Wochen vor dem Eröffnungsspiel in „ein anderes Land“ verlegen will. Offenbar hat die Hitze an diesem Wochenende einige Kollateralschäden in den Köpfen angerichtet. Da kann natürlich Sigmar Gabriel nicht außen vor bleiben und ermahnt seine Kollegen via BILD am Sonntag nicht „zu Claqueren des Regimes zu werden“ und in den Stadien „neben Gefängnisdirektoren und Geheimpolizisten“ zu sitzen. Da fragt man sich unwillkürlich, was Sigmar Gabriel seinem Parteifreund Walter Steinmeier zugeflüstert hat, als dieser die beiden Diktatoren Saparmyrat Nyýazow (Turkmenistan/ließ sogar einen Monat nach sich benennen) und Islam Karimow (Usbekistan/Spitzname „Schlächter von Taschkent“) im Rahmen seiner „Zentralasienoffensive“ zu bevorzugten Partnern ernannte und freundschaftlich zum Händeschütteln besuchte?
[*] unser Leser D.S. schrieb uns: “Es wird ein Bild in den Medien verbreitet, dass die Frau Timoschenko im Gefängnis zeigt und Misshandlungen beweisen soll. Kann so sein. Könnte aber auch beweisen, dass Frau Timoschenko nach medizinischen Standards qualifiziert behandelt wird. Sollte es so sein, dass sie bettlägerig ist, aufgrund einer wie auch immer gearteten Rückenproblematik, so gehört eine Thromboseprophylaxe mittels Heparin oder niedermolukelare Heparine zwingend dazu. Alles andere wäre eine Verletzung medizinischer Standards. Dies o.g. Medikamente werden durch eine tägliche Injektion subkutan üblicherweise in die Bauchdecke verabreicht und verursachen in den meisten Fällen lokale Hämatome, wie sie in diesem gezeigten Bild dargestellt, hervorgerufen sein können. Glaubwürdiges Bild oder Beweis für stattgefundene Misshandlung soll jeder für sich selber entscheiden.”
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