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Titel: Andrej Hunko (MdB BSW): „Die Russische Föderation wird nicht nur in ihrer Gegenwart, sondern auch in ihrer Vergangenheit ausschließlich als Aggressor dargestellt“

Datum: 20. März 2025 um 9:00 Uhr
Rubrik: Interviews, Militäreinsätze/Kriege, Strategien der Meinungsmache
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Die Geschichte des Zweiten Weltkrieges rückt in den deutschen Medien und der Politik immer mehr in den Hintergrund. Die Geschichte dieses Krieges, der für Deutschland mit einer bedingungslosen Kapitulation endete, scheint bei den Plänen der Bundesregierung zu stören, Deutschland „kriegstüchtig“ zu machen und in einem Maße aufzurüsten, wie es das seit Bestehen der Bundesrepublik nicht gegeben hat. Geschichte lässt sich jedoch nicht einfach abschütteln. Am 8. Mai 2025 werden Russen, Ukrainer und andere ehemalige Völker der Sowjetunion, aber auch Deutsche, die noch ihren eigenen Kopf gebrauchen, der Befreiung vom Hitler-Faschismus gedenken. Warum ist es heute so schwierig, über die Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg zu sprechen? Darüber sprach Ulrich Heyden (Moskau) mit dem Bundestagsabgeordneten des BSW, Andrej Hunko.

Zunächst eine Vorbemerkung. Anfang Februar schickte das BSW – initiiert vom Abgeordneten Andrej Hunko – eine ihrer letzten Kleinen Anfragen an die Bundesregierung. In der Anfrage ging es um die Fragen, warum die Blockade von Leningrad durch die deutsche Wehrmacht selbst bei runden Jahrestagen, wie dem 80. Jahrestag der Befreiung Leningrads am 27. Januar 2024, von der Bundesregierung verschwiegen wird und warum von der Bundesregierung zugesagte Hilfe für die Überlebenden der Blockade von Leningrad und die mit Geld aus Deutschland finanzierte Arbeit des Begegnungszentrums „Humanitäre Geste“ in St. Petersburg gedrosselt wurde (siehe hier: Deutschland drosselt Hilfe für Überlebende der Blockade von Leningrad).

Die Bundesregierung hatte 2019 – noch während der Amtszeit von Außenminister Heiko Maas – angekündigt, man werde die Modernisierung eines Krankenhauses in St. Petersburg, welches sich speziell um Überlebende der Blockade kümmert, mit 12 Millionen Euro unterstützen. Nun sind bisher nur rund 4,6 Millionen Euro von Deutschland gezahlt worden. Die Zahlungen kommen nur tröpfelnd und stockend. In den Jahren 2021 und 2022 und 2023 wurde keinerlei Geld für das Krankenhaus überwiesen. Das hinderte das Auswärtige Amt zum 80. Jahrestag der Befreiung von Leningrad am 27. Januar 2024 nicht, zu behaupten, Deutschland sei sich seiner Verantwortung bewusst und unterstütze das Krankenhaus und zusätzlich noch eine Begegnungsstätte in St. Petersburg. Aber die Arbeit dieser Begegnungsstätte ist faktisch seit 2022 eingeschlafen, wie aus der Antwort der Bundesregierung auf Ihre Kleine Anfrage hervorgeht. Wie beurteilen Sie das Verhalten des Auswärtigen Amtes? Ist diese Unehrlichkeit – ja, man muss schon sagen: Heuchelei – nur der grünen Außenministerin Annalena Baerbock geschuldet oder ist diese Haltung des Wegschiebens und Verdrängens auch bei den anderen großen Parteien angesagt?

Schwer zu sagen, wie sich das unter einem anderen Außenminister gestaltet hätte. Vermutlich ähnlich unzufriedenstellend, schließlich haben auch Baerbocks Koalitionspartner SPD und FDP in dieser Sache nicht interveniert. Auch Noch-Kanzler Scholz (SPD) hätte ja im Rahmen seiner Richtlinienkompetenz eingreifen können. Ich erwarte also nach dem bevorstehenden Regierungswechsel leider ebenfalls keine Besserung – von einem CDU-Kanzler Merz erst recht nicht. Es ist allerdings besonders heuchlerisch, wenn ausgerechnet eine Außenministerin der Grünen, die sonst so gerne großspurig zum Kampf gegen Faschismus rufen, die Blockade-Opfer von Leningrad im Stich lässt.

Wie beurteilen Sie die Tatsache, dass Deutschland nur die jüdischen Überlebenden der zweieinhalb Jahre dauernden Blockade von Leningrad finanziell unterstützt, die große Masse der nichtjüdischen Überlebenden aber nicht?

Der durch die deutsche Wehrmacht organisierte Hungertod in Leningrad hat seine Opfer nicht nach Nationalität oder Religion ausgesucht. Deswegen müssen alle Überlebenden der Blockade unabhängig von ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund gleich tatkräftig unterstützt werden.

Als am 27. Januar 2024 in Russland des 80. Jahrestages der Befreiung Leningrads von der Belagerung durch die deutsche Wehrmacht gedacht wurde, schwieg das offizielle Deutschland, so als ob Deutschland mit dem Ereignis absolut nichts zu hat. Hat Sie das überrascht? Wie haben Sie und Ihre Bundestagsgruppe sich zu diesem 80. Jubiläum verhalten?

Das Schweigen der Bundesregierung war geradezu ohrenbetäubend. Es ist beschämend, dass aktuelle, selbstauferlegte geopolitische Rivalitäten der Bundesregierung wichtiger zu sein scheinen als die historische Verantwortung Deutschlands. Das Bündnis Sahra Wagenknecht setzt sich hingegen dafür ein, dass die Bundesregierung ihrer Verantwortung gerecht wird, die versprochenen Projekte in zuvor zugesagtem Maße fördert, alle Überlebenden der Leningrad-Blockade unterstützt und der Opfer würdig gedenkt. Genau deshalb haben wir ja kürzlich diese Anfrage an die Bundesregierung gestellt.

Seit dem Beginn des Konfliktes in der Ukraine 2014 geht die Bereitschaft der Medien, der Bundesregierung und des Parlaments immer mehr zurück, sich mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges zu beschäftigen. Was ist der Grund?

Offenbar passt eine intensivere Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion nicht in das aktuelle antirussische Narrativ der Bundesregierung. Das würde auch dem deutschen medialen Konstrukt des letzten Jahrzehnts um Russland herum widersprechen, in dem die Russische Föderation nicht nur in ihrer Gegenwart, sondern auch in ihrer Vergangenheit ausschließlich als Aggressor dargestellt wird. Umso auffälliger wird diese Entwicklung vor dem Hintergrund der wachsenden Toleranz der deutschen Seite gegenüber Rechtsextremen und Nationalisten in der Ukraine.

Der Leiter der Russischen historischen Gesellschaft, Sergej Narischkin, hat in einem Artikel zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz erklärt, dass 70 Millionen Sowjetbürger im Zweiten Weltkrieg unter deutscher Okkupation gelebt haben und 12 Millionen Sowjetbürger während dieser Okkupation getötet wurden. Russische Gerichte haben in den letzten Jahren Urteile gesprochen, nach denen Nazi-Deutschland in der Sowjetunion einen Genozid begangen hat. Wie beurteilen Sie diese Gerichts-Urteile? Wie hat die deutsche Politik auf den Vorwurf eines deutschen Genozids an der Sowjetbevölkerung reagiert?

Es besteht kein Zweifel, dass Hitler mit dem Überfall auf die Sowjetunion und dem „Unternehmen Barbarossa“ genozidale Absichten gegen die Slawen verfolgte. Es ging den Nazis in erster Linie darum, für die deutsche Bevölkerung „Lebensraum im Osten“ zu schaffen. Unmittelbar vor Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion äußerte Heinrich Himmler: „Zweck des Russlandfeldzuges ist die Dezimierung der slawischen Bevölkerung um 30 Millionen.“ Die Überlebenden sollten kolonialisiert und versklavt werden.

Zudem wollte Hitlerdeutschland die Kornkammern in der russischen und ukrainischen Schwarzerde-Zone in Beschlag nehmen, um den Weizen dauerhaft nach Deutschland und Westeuropa abzutransportieren. Den Hungertod von Millionen Sowjetbürgern nahm man dabei zumindest billigend in Kauf; Leningrad sollte sogar gezielt ausgehungert werden. Die Vernichtungsabsichten der Nazis erkennt man auch an der Behandlung von Kriegsgefangenen: Zum Ende des Krieges waren von rund fünf Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen mehr als 3,3 Millionen tot (66 Prozent). Zum Vergleich: Von den amerikanischen, britischen und kanadischen Kriegsgefangenen starben in deutschen Lagern 8.348 Gefangene, das war eine Todesrate von 3,5 Prozent.

Dass die Bundesregierung sich komplett zu den Genozid-Vorwürfen ausschweigt und lediglich die etwas euphemistische, mittlerweile inflationär gebrauchte Formulierung „Kriegsverbrechen“ verwendet, ist unseriös und geschichtsvergessen.

Gibt es in der deutschen Bevölkerung ein Interesse an der Geschichte des Zweiten Weltkrieges und der Verbrechen, welche die Wehrmacht verübt hat? Wenn Nein, muss man dieses Interesse wecken, und wenn Ja, wie?

Es ist festzustellen, dass das Interesse an der Geschichte des Zweiten Weltkriegs in der deutschen Gesellschaft insgesamt schwindet, jedoch muss die Aufarbeitung dieser Zeit unbedingt fortgesetzt werden. Dabei sollen die historischen Erkenntnisse vor allem für unser gegenwärtiges und künftiges politisches Handeln eine Mahnung sein. Die ältere Generation, die aus der eigenen Erfahrung wusste, welches Leid und welche Gefahr ein Krieg mit sich bringt, ist schon seit einigen Jahrzehnten in der deutschen Politik nicht mehr vorhanden. Politiker wie etwa Willy Brandt, Helmut Schmidt, aber auch Helmut Kohl wussten genau, dass ein Frieden viel Arbeit verlangt und das Mittel dazu Diplomatie ist.

Für die meisten politischen Entscheidungsträger von heute ist der Frieden so selbstverständlich geworden, dass sie mittlerweile glauben, folgenlos eskalieren zu können. Deswegen betrachte ich eine intensivere Beschäftigung mit dem deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion als Sensibilisierung der deutschen Bevölkerung für die Wichtigkeit eines Dialogs mit Russland und auch mit Belarus, wo während des Zweiten Weltkrieges jeder Dritte ums Leben gekommen ist. Die Blockade von Leningrad, die in Deutschland immer weniger thematisiert wird, zeigt uns das Ausmaß der Tragödie, die für Russland unvergesslich bleibt. Wenn wir mit der russischen Seite einen Dialog wieder aufnehmen wollen, müssen wir bei solchen Themen sensibel und kooperativ bleiben.

Wie argumentieren rechte Kräfte in Deutschland gegen die Verantwortung Deutschlands für das Wachhalten der Erinnerung? Gibt es in den Medien und Parteien noch Kräfte, die für ein Wachhalten der Erinnerung eintreten? Wenn Ja, wer sind diese Kräfte? Und wie muss man dem Verdrängen der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die während des Krieges von deutschen Soldaten begangenen Verbrechen Ihrer Meinung nach entgegentreten?

Die rechten Kräfte in Deutschland verfolgen bei diesem Themenkomplex vor allem zwei Strategien: Entweder sie schweigen dazu, also blenden in ihrem Diskurs das gänzlich aus, als hätte es den Krieg niemals gegeben, oder sie versuchen, Deutschlands Verantwortung explizit zu relativieren, indem sie die NS-Zeit zum Beispiel mit einem „Vogelschiss“ in der Geschichte vergleichen oder Hitler mit Stalin gleichsetzen.

In der linksgerichteten politischen Landschaft, insbesondere bei der älteren Generation, setzen sich viele Menschen nach wie vor für das Aufrechterhalten der Erinnerung an die deutschen Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg ein. Zudem sind sich in der DDR sozialisierte Menschen unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung der Wichtigkeit einer vollständigen Aussöhnung und Freundschaft mit allen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion stärker bewusst, auch aufgrund persönlicher Kontakte und Erfahrungen mit Sowjetbürgern, beispielsweise durch Brieffreundschaften und Studentenaustauschprogramme.

Auch die Friedensbewegung in Deutschland pflegt aktiv die Erinnerungskultur. Unter den Medien sind es vor allem Zeitungen wie etwa Junge Welt, Berliner Zeitung, Freitag, Neues Deutschland oder mediale Plattformen wie NachDenkSeiten, Telepolis und Overton-Magazin.

Was planen Ihre Partei, Ihre Bundestagsgruppe und Sie persönlich zum 80. Jahrestag der Befreiung am 8. Mai 2025?

Die Kleine Anfrage zur Blockade von Leningrad und zu dem Umsetzungsstand des Projektes „Humanitäre Geste“ ist eine der letzten parlamentarischen Initiativen der Gruppe BSW in der 20. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages. Im Augenblick müssen wir davon ausgehen, dass unsere Partei in der neuen Wahlperiode im Deutschen Bundestag nicht vertreten sein wird: Das Ergebnis von BSW beträgt 4,98 Prozent. Für den Einzug in das Parlament haben uns weniger als 10.000 Stimmen gefehlt. Auch wenn wir das Wahlergebnis aufgrund zahlreicher Unregelmäßigkeiten im Inland sowie aufgrund der Tatsache, dass sehr vielen im Ausland lebenden Deutschen die Möglichkeit, ihre Stimme abzugeben, verweigert wurde, anfechten werden, müssen wir uns darauf vorbereiten, dass wir in den nächsten Jahren keine Möglichkeit haben werden, sehr viele Themen, unter anderem auch Erinnerungskultur sowie den 80. Jahrestag der Befreiung, im Bundestag zu bearbeiten.

Jedoch sind wir im EU-Parlament sowie in drei Landtagen stark vertreten. Dort werden wird selbstverständlich auch dieses Thema aufgreifen. Im Brandenburger Landtag plant die BSW-Fraktion beispielsweise bereits Ende März, eine Aktuelle Stunde anlässlich des 80. Jahrestages der Befreiung durchzuführen, der Opfer würdig zu gedenken und den Befreiern, insbesondere den Soldaten der sowjetischen Roten Armee, zu danken.


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