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Titel: Die Piraten: Sie machen alles anders, sie wissen nur noch nicht, was sie machen wollen

Datum: 30. April 2012 um 8:49 Uhr
Rubrik: Piraten, Wahlen
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Mit den Piraten stellt sich eine Partei zur Wahl, die eigentlich (noch) gar keine Partei ist. Denn es ist völlig offen welchen „Pars“, also welchen Teil der Gesellschaft oder welche Richtung diese Bewegung vertritt. Die Piraten sind eine Denkzettelpartei für die etablierten Parteien. Ihre inhaltlichen Leerstellen werden von vielen nicht als Mangel betrachtet, sondern das fehlende Programm ist eher eine Projektionsfläche für viele Politikverdrossene, für die es letztlich keinen großen Unterschied macht, ob nun Schwarz-Gelb, Rot-Grün oder eine große Koalition regiert. Die Hochstimmung für die Piraten erklärt sich aus einer eher fatalen Stimmungslage: Egal was, Hauptsache es ändert sich etwas. Die Piraten streben nach politischer Macht, ohne sagen zu können, was sie mit dieser Macht anstellen würden. Von Wolfgang Lieb

Zwei Tage lang haben sich etwa 1.500 der inzwischen auf die 30.000 Mitlieder zustrebenden Piraten in der tristen Holstenhalle in Neumünster zusammengefunden. Delegierte gibt es bei den Piraten nicht, jedes Mitglied konnte kommen und mitentscheiden, maximal 5 % der Mitglieder wollten das. Angeblich lagen dem Parteitag 169 Programmanträge, 50 Satzungsänderungs- und 20 sonstige Anträge vor. Und natürlich sollte ein neuer und erweiterter Bundesvorstand gewählt werden.

Wer, wie ich als interessierter, zwar skeptischer, aber durchaus wohlwollender Beobachter den Live Stream über Stunden nebenher verfolgte und erwartet hatte, er könnte mehr über die inhaltlichen Positionen erfahren, als auf der Website der Piraten schon bisher nachzulesen ist, der wurde ziemlich enttäuscht.

Um meine Haltung klarzustellen: Ich gehöre nicht zu denjenigen, die den Piraten eine unvollständige oder unausgegorene Programmatik vorhalten oder die sich daran aufhalten, dass sich dort schräg gestylte Leute tummeln. Ich gestehe einer neuen Partei eine Selbstfindungsphase zu, wie ich das auch bei der Linkspartei getan habe. Ich will mich (zunächst) auch nicht an der angeblichen Frauenfeindlichkeit oder an unbedachten, ja sogar schlimmen Äußerungen einzelner Mitglieder dieser Partei reiben. Eine Zustandsbeschreibung gerade auch aufgrund dieses Parteitags muss jedoch erlaubt sein.

Das Ergebnis dieses Parteitags lässt sich relativ knapp zusammenfassen: Der bisherige Vorsitzende Sebastian Nerz und sein Stellvertreter Bernd Schlömer bleiben an der Spitze, sie tauschen lediglich ihre Ämter. Das Vorstandsteam wurde um einen zweiten stellvertretenden und einen dritten Beisitzer erweitert. Es wurde eine Schatzmeisterin gewählt, ein Generalsekretär und ein „politischer Geschäftsführer“ und schließlich wurde noch über die Mitglieder des Bundesschiedsgerichts abgestimmt. Satzungsmäßig wurde entschieden, dass die Führungsspitze weiter ehrenamtlich arbeiten und dass deren Amtszeit auf ein Jahr beschränkt bleiben soll, dass es keine organisatorischen Zwischenebenen zwischen Basis und Spitze geben soll. Die am meisten umkämpfte Entscheidung war, dass die Mitgliedsbeiträge von 36 auf 48 Euro erhöht werden sollen. Wie kommentierte doch der gerade amtierende Versammlungsleiter diese Kampfabstimmung ums Geld so typischerweise: „Damit ist irgendein Antrag, angenommen, ich weiß nicht welcher, aber ich meine, wir müssen künftig mehr Beiträge zahlen.“

(Ob diese Erhöhung der Partei eine finanzielle Basis schaffen wird, ist allerdings eine offene Frage, denn derzeit bezahlt angeblich nur die Hälfte der Parteimitglieder Beiträge.)

Die spektakulärste und auch von fast allen Medien hochgelobte inhaltliche Entscheidung war eine Abstimmung mit den Füßen. Während der Vorstellung der 8 Vorstandskandidaten, verließ ein Großteil der anwesenden Mitglieder mit roten Nein-Karten in den Händen den Saal als einer der Kandidaten, der auf YouTube vom „Weltjudentum“ geredet hatte, sich vorstellen wollte. Schon vorher war verbreitet worden, dass ein Mitglied am Rande des Parteitags vor einigen der massenhaft anwesenden Journalisten erklärt habe, man könne über den Holocaust diskutieren. Als sich diese Nachricht verbreitete, wurde der Parteitag unterbrochen und anschließend ohne erkennbare Gegenstimme eine Erklärung angenommen: “Die Piratenpartei Deutschland erklärt, dass der Holocaust unbestreitbar Teil der Geschichte ist. Ihn unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit zu leugnen oder zu relativieren widerspricht den Grundsätzen unserer Partei.”

Auf ihrer Website feiern die Piraten diese Erklärung als „überwältigendes „Nein“ zu Holocaustleugnung und –relativierung“ (Interessant und teilweise beängstigend sind allerdings die 147 Kommentare zu dieser Abstimmung. Aus der Partei ausgeschlossen wurden Mitglieder, die den Holocaust leugnen, im Übrigen nicht.)

Die Annahme dieser Erklärung war der inhaltliche Höhepunkt dieses Parteitags, denn zu den übrigen Sachanträgen kam man vor lauter Wahlen und Satzungsänderungen gar nicht mehr. Sie wurden auf einen nächsten Parteitag vertagt. Diese Erklärung gegen Holocaustleugner genügte aber offenbar, um dem Parteitag in den meisten Medien eine überwiegend positive und freundliche Berichterstattung einzutragen. So ungreifbar, ja unbegreiflich muss die Piratenpartei also sein, dass eine derart banale Erklärung schon mit Erleichterung, ja sogar als Erfolg aufgegriffen wird.
Das belegt eigentlich nur, wie oberflächlich dieses „Phänomen“ Piratenpartei in der veröffentlichten Meinung betrachtet wird und wie wenig man in der Lage ist, tiefer nachzufragen, welches (sicherlich noch diffuses) Selbstverständnis diese Bewegung zusammenhält (Siehe dazu „Funktioniert Politik wie Wikipedia?“)

Bei ihrer Öffentlichkeitsarbeit haben die Piraten aber offenbar schon einiges dazu gelernt, sonst könnten sie nach Neumünster nicht voller Stolz verkünden, dass die Partei eine „neue Dimension erreicht“ hätten.

Nun will ich auch da nicht vorschnell urteilen. Ich will einfach einmal einräumen, dass sämtliche Mitglieder auf diesem Parteitag ihre Laptops und Tablet PCs nicht ohne Grund ständig bearbeitet haben und ich will unterstellen, dass die Anwesenden ständig über die anstehenden Abstimmungen mit ihrem Netzwerk getwittert haben und parallel zum offiziellen Parteitag in irgendwelchen Foren online diskutiert haben. Sonst wäre es auch kaum nachvollziehbar, dass es offline – also im Saal selbst – so viele Missverständnisse über Abstimmungen und deshalb so viele Wiederholungen von Wahlgängen gegeben hat. Selbst bei der Internetgeneration schein die Multitasking-Fähigkeit noch nicht überall so entwickelt zu sein, dass man im Internet surfen und gleichzeitig auch noch konzentriert zuhören kann, was über das Saalmikrofon gesagt wird.

Diese Ablenkung durch – um nicht zu sagen – diese Aufmerksamkeit für das Internet ist für mich auch die einzig mögliche Erklärung, wie engagierte und sicherlich durchaus intelligente Menschen so viel Disziplin und Geduld aufbringen konnten, um nicht gegen die teils dilettantischen, teils autoritären Verhandlungsleitungen aufzubegehren, die jedem, der einen etwas grundsätzlicheren Diskussionsbeitrag liefern wollte, das Wort abschnitten. Selbst wenn man diesen Parteitag nur am Bildschirm verfolgt hat, musste man gute Nerven haben. Gefühlte dreiviertel der Zeit wurden Stimmen ausgezählt. Die auf elektronische Information setzende Internetpartei produzierte Berge von papiernen Anträgen. Alle paar Minuten musste über einen Geschäftsordnungsantrag abgestimmt werden. Nach wenigen Wortmeldungen wurde die Begrenzung der Redezeit oder der Schluss der Rednerliste beschlossen. Die Antragsteller waren zumeist nicht im Saal und konnten ihren eigenen Antrag nicht begründen. Oft wurden die Verhandlungsleitungen (trotz Red Bull-Stärkung) geradezu zur Verzweiflung getrieben, sei es weil es im Saal zu laut war, sei es weil keiner zuhörte, sei es weil ständig bezweifelt wurde, worüber eigentlich abgestimmt worden war. In der Partei, die nach eigener Aussage für Transparenz steht, wurde merkwürdigerweise häufig geheim abgestimmt. Es mussten Urnen vor den Abstimmungen vorgezeigt werden, wohl damit keine Wahlmanipulation möglich sein sollte. Das unterhaltsamste war noch das schräge Outfit der ganz überwiegend männlichen Delegierten. Zwischendurch wurde dann noch ein bisschen „Pressegehampel“ gemacht, was sich dann allerding wieder verzögerte, weil einige Vorstandsmitglieder gerade beim Foto-Shooting im Foyer waren. Ständig musste zu irgendeinem Thema ein Meinungsbild eingeholt werden, etwa: Stimmt die Versammlung der Meinung zu, der Islam gehöre zu Deutschland? Das Meinungsbild ging positiv aus. Oder: Unterstützt die Partei die Occupy Bewegung? Der Versammlungsleiter teilte dem Antragsteller mit, die Meinungsbildung sei eher gespalten. Wohlgemerkt um Beschlüsse handelte es sich dabei nicht, ein paar Anwesende wollten einfach mal ein Meinungsbild einholen.

Ich war – beruflich bedingt – in meinem politischen Leben auf sehr vielen Parteitagen unterschiedlichster Parteien, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Delegierten dort so viel Geduld und Disziplin aufgebracht hätten, um klaglos über immer neue Änderungsanträge zu Satzungen oder Geschäftsordnungen abzustimmen. Und ich habe selten Parteitage erlebt, wo so wenig inhaltlich und so undifferenziert gestritten wurde. Wenn das, was man in Neumünster miterleben konnte, „eine neue Dimension“, ja sogar ein „Paradigmenwechsel“ (Marina Weisband) der Parteiarbeit gewesen sein sollte, dann habe ich das Neue nur als noch formaler und noch ermüdender erlebt als in allen etablierten Parteien. Selbst die meisten Studentenparlamente dürften effizienter arbeiten. Allein die Tatsache, dass vielleicht noch nie so viele Mitglieder einer Partei auf einem Parteitag anwesend waren, kann man doch wohl kaum als „geschichtliches Ereignis“ feiern.

Nicht nur was die politischen Inhalte sondern auch was den formalen Ablauf dieses Parteitags anbetrifft, staune ich darüber, dass die meisten Medien sich mit einem Lob über das ausgebliebene Chaos und die Disziplin zufrieden geben: „So war Neumünster, im Kontrast zu dem aufgeregt herumwuselnden Journalistenpulk, ein Parteitag der Ruhe und Kontinuität“, kommentiert heute die Frankfurter Allgemeine.

Der neue Vorsitzende der Piratenpartei, der Diplom-Kriminologe und Regierungsdirektor im Bundesverteidigungsministerium, Bernd Schlömer (Twitter-Name „BuBernd“), der sich gegen den bisherigen Amtsinhaber Sebastian Nerz und weitere sechs Gegenkandidaten mit 66,6 Prozent der Stimmen durchsetzte, gibt sich als ausgleichende Integrationsfigur: „Ich bin nicht derjenige, der als Denker und Lenker der Piratenpartei auftreten wird. Aber natürlich gibt es für uns in der nächsten Zeit konkrete Ziele: erstens ein Wahlprogramm zu entwickeln, zweitens unser parteiinternes Meinungsbildungstool Liquid Feedback weiter zu entwickeln und für eine stärkere Akzeptanz zu sorgen und drittens müssen wir unsere Landesverbände, die Fraktionen und die Basis besser vernetzen.“

Schlömer will seine neue Aufgabe „ehrenamtlich“ ausfüllen und auch künftig seinen Beruf ausüben, weil er seine wirtschaftliche Existenz nicht aufs Spiel setzen möchte.

Der neu gewählte „geile Vorstand“ – so die sich vorübergehend zurückziehende politische Geschäftsführerin Marina Weisband – soll nun die Piraten in die Landtage von Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen führen und wie selbstverständlich gehen eigentlich alle davon aus, dass diese Partei in den nächsten Bundestag einziehen wird. Das scheint sogar, wenn man die Entwicklung der Stimmungslage nimmt, als ziemlich wahrscheinlich. Noch vor drei Jahren, als die 2006 gegründeten Piraten zum zweiten Mal bei der hessischen Landtagswahl antraten, erzielten sie gerade einmal 0,5% der Wählerstimmen. Zwischenzeitlich dümpelte ihr Schiff bei maximal um die 2%. Mit der Wahl zum Berliner Abgeordneten Haus schossen die Piraten plötzlich auf 8,9% und selbst im ländlichen Saarland auf 7,4%. Die meisten Umfragen sehen die Piratenpartei derzeit bei zweistelligen Werten. Nach aktuellen Umfragewerten dürften bei einem Einzug der Piraten die rot-grünen Hoffnungen auf einen Regierungswechsel in Schleswig-Holstein platzen und auch in Nordrhein-Westfalen könnte es am Ende auf eine Große Koalition hinauslaufen.

Ein solches Ergebnis kann man sicherlich nicht den Piraten vorwerfen, denn laut ZDF Politbarometer geben 72 Prozent der Befragten an, dass sie dieses Partei aufgrund ihrer „Unzufriedenheit mit den anderen Parteien“ ihre Stimme geben wollen. Die Piratenpartei hat sich offenbar zur Denkzettelpartei für die großen Parteien etabliert. Weil es vielen Wählern oder Nichtwählern doch zu peinlich ist, ihrem Unmut durch die Wahl einer rechtsradikalen Partei Ausdruck zu verleihen und aufgrund von Berührungsängsten mit der ausgegrenzten und geradezu verteufelten Linkspartei machen offensichtlich viele Menschen ihrer Unzufriedenheit durch ein Kreuz auf dem Stimmzettel für die Piratenpartei Luft. Gerade die Leerstellen im Programm der Piraten liefern offenbar eine Projektionsfläche, dass hier eine neue politische Kraft gegen das Parteienkartell von Schwarz, Gelb, Rot und Grün heranwachsen könnte. Wie bei den meisten Denkzettel-Wahlen könnte jedoch an den Wahlabenden das Gegenteil eintreten, was durch den Protest erreicht werden sollte, nämlich der Zwang zur Bildung von Großen Koalitionen von CDU und SPD unter welcher Führung auch immer.

Zwar hält der neue Vorsitzende der Piratenpartei eine Regierungsbeteiligung nach der Bundestagswahl nicht grundsätzlich für abwegig: “Wenn uns der Einzug in den Bundestag 2013 tatsächlich gelingt, werden wir uns mit dem Thema Koalitionsfähigkeit ernsthaft beschäftigen.” So, wie es nach diesem Parteitag der Piraten aussieht, befolgt diese Partei folgende Strategie: Erst einmal Wahlen gewinnen und danach können die Mitglieder ja immer noch entscheiden, wofür oder wogegen sie sind. Die Piraten wollen alles anders machen, sie wissen nur noch nicht, was sie machen wollen.

Dieses Paradox ist in der Tat ein Paradigmenwechsel in der Parteiendemokratie. Es bedeutet nämlich, dass sich eine Partei zur Wahl stellt, die eigentlich gar keine Partei ist.

Da ja die Piraten ihr Wissen aus dem Netz beziehen, ist es wohl erlaubt Wikipedia zu zitieren. Dort wird der Begriff Partei wie folgt definiert: „Eine politische Partei (lateinisch pars, Genitiv partis ‚Teil‘, ‚Richtung‘) ist ein auf unterschiedliche Weise organisierter Zusammenschluss von Menschen, die innerhalb eines umfassenderen politischen Verbandes (eines Staates o. Ä.) danach streben, politische Macht und die entsprechenden Positionen zu besetzen, um ihre eigenen sachlichen oder ideellen Ziele zu verwirklichen und/oder persönliche Vorteile zu erlangen.“

Welchen Teil der Gesellschaft oder welche Richtung die Piraten vertreten, für wen und wofür sie „Partei“ ergreifen, ist (noch) völlig offen.

Über die ideellen Ziele weiß man bisher nur, dass sich die Piraten vielleicht als die „bessere liberale Partei“ (Schlömer) und als diejenigen verstehen, die in der Wissensgesellschaft angekommen seien bzw. dass sie auf dem Boden des Grundgesetzes stehen.

Bei den sachlichen Zielen bleibt alles noch ziemlich diffus. Man schwärmt von der „digitalen Gesellschaft“, man lehnt Patente auf Lebewesen und Gene, auf Geschäftsideen und auf Software ab, man träumt den „uralten Traum, alles Wissen und alle Kultur der Menschheit zusammenzutragen, zu speichern und heute und in der Zukunft verfügbar zu machen“, man will den „freien Zugang zu Information und Bildung“, man tritt für eine „selbstbestimmtes Leben“, für Datenschutz und ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ oder für eine „lebenswerte Umwelt“ und für regenerative Energiequellen ein. Wer wäre nicht für eine schöne heile Welt.

Wie und mit welcher Wirtschafts- und Finanzpolitik die Piratenpartei ihre Ziele erreichen will, darüber schweigt sie sich (noch) vollständig aus. Sie strebt nach politischer Macht und entsprechenden Positionen, ohne sagen zu können, was sie mit der Macht und den Machtpositionen anstellen würde. Das würden die Mitglieder dann schon jeweils übers Internet entscheiden.


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