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Titel: Chile in Aufruhr: Ist ein Großgrundbesitzer deutscher Herkunft für das Verschwinden einer Mapuche verantwortlich?
Datum: 15. März 2025 um 16:00 Uhr
Rubrik: Innere Sicherheit, Länderberichte
Verantwortlich: Redaktion
Julia Chuñil ist verschwunden. Sie hatte das Land eines Nachfahren deutscher Siedler besetzt. Der Fall öffnet unverheilte Wunden im Süden des Landes. Seit bald vier Monaten ist die Mapuche Julia Chuñil verschwunden. Die Frau lebte in einem einfachen Holzhaus, hütete ein paar Hühner, Kühe und Schweine und besetzte dabei das Land eines Großgrundbesitzers deutscher Herkunft. Letzteres sollte ihr zum Verhängnis werden, so klagen zumindest chilenische Menschenrechtsorganisationen an. Der Großgrundbesitzer bestreitet jeglichen Zusammenhang. Von Malte Seiwerth.
Weiterhin fassungslos sitzen drei ihrer Kinder nun vor dem Haus. Die 70-Jährige sei, so berichten sie, auf den nahen Berg gelaufen, um ausgerissene Kühe zu fangen – von da kam sie nie zurück. Hunderte Helfer und Helferinnen, Drohnen und selbst Scans durch spezielle Flugzeuge des Militärs konnten sie nicht finden. Was ist mit Chuñil passiert?
Das Verschwinden der Mapuche hält Chile seit Monaten in Atem. In mehreren Städten finden regelmäßig Demonstrationen statt, die ein schnelleres Handeln der Behörden einfordern. Auch zum 8. März rufen feministische Organisationen dazu auf, Chuñil nicht zu vergessen. Viele Demonstrierende verorten im Verschwinden einen Konflikt um das Land, auf dem Chuñil lebte. Es wäre eine weitere Eskalation des seit Jahrzehnten andauernden Landkonflikts zwischen europäischen Siedlern und indigenen Mapuche.
Plötzlich verschwunden
Pablo San Martín Chuñil zeigt den Ort auf dem Waldboden, an dem er und sein Schwager die letzten Spuren seiner Mutter gefunden haben. Es seien ein paar Schuhabdrücke im Schlamm und Radspuren gewesen, so San Martín. „Leider waren wir so in Eile, dass wir an dem Tag keine Fotos geschossen haben”, bedauert er. Am nächsten Tag hatte der Regen schon alle Spuren verwischt.
Es war am Sonntag, dem 10. November – zwei Tage, nachdem Julia Chuñil laut Erzählungen einer Bekannten in den Wald gelaufen war, um ein paar ausgelaufene Kühe zu suchen. Doch sie kam nie zurück. An dem Sonntag wollten die Kinder mit ihr Mittagessen, doch Chuñil tauchte nicht auf. Daraufhin machten sie sich auf die Suche und verständigten die Behörden. Es begannen mehrere Wochen der intensiven Suche – ohne Erfolg.
Chuñil lebte seit zehn [sic] auf dem Stück Land, dass sie damals gemeinsam mit einer Mapuche-Gemeinschaft besetzt hatte. Sie hatten gehört, dass die staatliche Indigenenbehörde Corporación Nacional de Desarrollo Indígena (Conadi) es zwecks Landverteilung gekauft hatte. Doch es gab Unstimmigkeiten im Kauf und die Verteilung kam nie zustande. Das Land wurde an den ursprünglichen Besitzer zurückgegeben, den deutschen Siedler Juan Carlos Morstadt. Die Gemeinschaft gab auf, aber Chuñil versuchte weiterhin hier zu leben, so der Sohn Pablo San Martín.
Drohungen gegen eine Umweltschützerin
„Für uns ist Julia Chuñil eine Umweltschützerin”, erklärt Sebastián Benfeld von der Menschenrechtsorganisation “Escazú Ahora”. Umweltschützer müssten nicht unbedingt Aktivsten sein, sondern können auch Menschen sein, die mit ihrem täglichen Handeln eine besondere natürliche Gegend schützen. Das sei im Fall von Chuñil so gewesen. Umgeben von Forstplantagen, sei der Berg aus 900 Hektar Land der letzte Rückzugsort für eine enorme Biodiversität gewesen, erklärt er.
“Escazú Ahora” kämpft für die Einhaltung des Abkommens von Escazú, dem Chile im Jahr 2022 beigetreten ist. Darin verpflichten sich die teilnehmenden Staaten dazu, besondere Maßnahmen zu ergreifen, um Umweltaktivisten und -aktivistinnen zu schützen. Das Abkommen wurde 2018 in Escazú in Costa Rica geschlossen. 24 Staaten in Lateinamerika und der Karibik haben es unterzeichnet.
Im Rahmen der Aktivitäten von “Escazú Ahora” haben die Menschenrechtler zusammen mit den Kindern von Chuñil eine Strafanzeige gegen die möglichen Verantwortlichen ihres Verschwindens eingereicht.
Benfeld ist überzeugt, dass das Verschwinden von Chuñil mit ihren Tätigkeiten zu tun hatte. „Sie wurde mehrmals von lokalen Unternehmern bedroht. Diese Drohungen eskalierten zunehmend, bis man einmal versucht hat, ihr Haus anzuzünden”, führt er aus. Die Unternehmer hätten zum Ziel gehabt, das Stück Wald, auf dem sie lebte, wirtschaftlich zu nutzen. Der Menschenrechtsaktivist kritisiert, dass der Staat sich nie darum gekümmert habe, Julia Chuñil zu schützen.
Kampf um die Mapuche-Ländereien.
In Máfil, dem nächsten Dorf von Chuñils Haus, demonstrieren derweil mehrere Angehörige. Sie wollen an Julia Chuñil erinnern. Mit anwesend ist Jaime Raipan. Der ältere Mann, bekleidet mit einem Wollponcho und mit einer traditionellen Fahne der Mapuche in der Hand, ist ein Freund von Chuñil und vertritt die örtlichen Mapuche gegenüber einem Programm für Kleinbauern des Landwirtschaftsministeriums. Raipan meint: „Das Grundproblem ist die Landfrage. Der Staat muss endlich für eine Rückgabe der Mapuche-Ländereien sorgen.”
Die Landfrage spaltet seit Jahrzehnten den Südens Chiles. Ende des Jahrhunderts siedelte der chilenische Staat europäische Siedler im Süden des Landes an und vergab ihnen dabei Ländereien, auf denen ursprünglich die indigenen Mapuche lebten. Seit 2008 erkennt Chile offiziell die Vertreibung von ihrem Land und den Einsatz von massiver Gewalt gegen Mapuche an und gibt dabei auch den Siedlern eine Mitschuld: Diese sollen ihre Ländereien durch Verschiebung der Grenzsteine, Zwang und Betrug erweitert haben.
Im Landstrich, in dem Chuñil lebte, waren es vor allem deutsche Siedler, die ab Ende des 19. Jahrhunderts ihre Landsitze aufbauten, erklärt der Historiker Manuel Lagos Miers.
Lagos, der an der pädagogischen Hochschule von Santiago lehrt, hat erst vor Kurzem ein Buch dazu veröffentlicht. „Deutsche Siedler, die zuerst in der Hafenstadt Valdivia eine kleine Industrie aufbauten, verspürten ab den 1890er-Jahren den Wunsch, auch Großgrundbesitzer zu werden”, so Lagos. In Archiven konnte er viele Hinweise auf illegale Landnahme finden – auch durch die Vorfahren von Juan Carlos Morstadt.
Obwohl der Staat längst die historische Schuld anerkennt, läuft die Rückgabe nur schleppend. Die damit beauftragte Conadi ist wiederholt mit dem Vorwurf konfrontiert, chaotisch vorzugehen. Eigentlich sollten durch Landkauf und spätere Übergabe die Mapuche-Gemeinschaften ihr Land zurückerhalten. Doch chilenische Medien zeigten in der Vergangenheit mehrfach auf, dass Gelder nicht genutzt oder zu hohe Preise für Land bezahlt werden. Viele Mapuche setzen daher auf Landbesetzungen. Teilweise eskaliert auch die Gewalt. Die Regierung setzt in einzelnen Gebieten der Mapuche das Militär zur Aufrechterhaltung der Sicherheit ein. Auch ultrarechte Gruppierungen aus Siedlerkreisen drohen regelmäßig mit Gewalt.
Zur Klärung der Landfrage setzte Präsident Gabriel Boric im Herbst 2023 eine Kommission aus Vertreter:innen der Mapuche und der Siedler ein, die bis Anfang 2025 einen Fahrplan zur Landrückgabe ausarbeiten sollte. Doch die Kommission ist zerstritten. Zu gegensätzlich sind die Positionen der Parteien, so erklärten es verschiedene Interviewpartner im Januar 2025 gegenüber der chilenischen Onlinezeitung El Mostrador.
Schneller Verdacht
Im Fall Chuñil deuten derweil Menschenrechtsorganisationen auf eine mögliche Täterschaft von Grundbesitzer Juan Carlos Morstadt hin. So etwa Mariela Santana von der Vereinigung für die Rechte des Volkes (Codepu). Santana meint, „einer der Verdächtigen ist ganz klar Herr Morstadt”. Er habe Chuñil mehrfach dazu gedrängt, das Land zu verlassen. Codepu brachte Anfang des Jahres den Fall Chuñil vor die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte und den UN-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen. Im Internet kursieren derweil Fotos und persönliche Daten von Morstadt. Auch verschiedene Medien nennen den Unternehmer namentlich.
Die öffentliche Brandmarkung habe dazu geführt, dass Morstadt selbst Opfer von Drohungen geworden sei, sagt Carole Montory, die Anwältin von Morstadt, am Telefon. Ihr Mandant habe natürlich keinerlei Verbindungen zum Verschwinden von Chuñil. Er habe lediglich auf rechtlichem Wege versucht, sein Land zurückzuerhalten – die Verfahren dazu stünden noch aus. Gleichzeitig gibt die Anwältin an, rechtlich gegen jene vorzugehen, die Morstadt ohne abgeschlossenes Verfahren für das Verschwinden verantwortlich machen. Morstadt selbst lässt derweil amerika21 eine Audioaufnahme zukommen, die die Familie Chuñil für das Verschwinden verantwortlich macht.
Politik verspricht Aufklärung
Bereits Anfang Dezember äußerte sich auch Präsident Boric zum Verschwinden von Julia Chuñil. Es sei im Interesse des Staates, schnell für Aufklärung im Fall Chuñil zu sorgen, so Boric. Er versprach, alles in der Macht des Staates Stehende zu tun, um dabei zu helfen.
Ein Staatsanwalt ist derweil ausschließlich mit dem Fall Julia Chuñil beauftragt. Die Ermittlungen dazu bleiben weiterhin geheim. Bekannt ist nur, dass mehrfach das Haus von Chuñil und das einer Tochter durchsucht wurde – bislang allerdings ohne konkrete Ergebnisse. Der Presseverantwortliche der Staatsanwaltschaft meint, bislang könne man keine Interviews zum Thema geben. Ursprünglich angekündigte Veröffentlichungen neuer Erkenntnisse werden verschoben. Es scheint, als ob die Ermittlungen nicht vorankommen.
Während der Demonstration in dem Dorf Máfil mahnt die sozialdemokratische Parlamentarierin Ana María Bravo indes zur Vorsicht: Während die Ermittlungen laufen, „sollten wir keine voreiligen Schlüsse ziehen”. Sie selbst ist Teil einer parlamentarischen Kommission, die sich speziell für das Verschwinden von Julia Chuñil gegründet hat, wobei es ihr darum gehe, über die aktuelle Situation informiert zu sein und dafür zu sorgen, dass die Aufklärung vorankomme.
Gleichzeitig will Bravo die Arbeit der Conadi verbessern. Sie selbst habe in der Vergangenheit in der Behörde gearbeitet und ihr sei bewusst, dass die Rückgabe zu langsam vonstatten gehe und häufig Ländereien vergeben werden, die nicht den Wünschen der Mapuche-Gemeinschaften entsprechen.
Wer im Süden Chiles gegen das Misstrauen vorgehen will, muss unbedingt den schwelenden Landkonflikt lösen.
Dieser Artikel erschien zuerst auf Amerika21.
Titelbild: Das Haus, in dem Julia Chuñil bis zu ihrem Verschwinden lebte – Quelle: GABRIELA CRUZ
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