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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Amok in Erfurt / Teil 3 – Schulen: Verlässliche Orte oder Zulieferbetriebe für Markt und Industrie?
Datum: 26. April 2012 um 9:15 Uhr
Rubrik: Bildungspolitik, Gedenktage/Jahrestage, Innere Sicherheit
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Am heutigen Tag vor 10 Jahren lief ein Schüler am Erfurter Gutenberg-Gymnasium Amok und tötete 16 Menschen und sich selbst. Götz Eisenberg hat auf die damaligen schrecklichen Ereignisse zurückgeblickt und danach gefragt, was aus diesem Massaker wirklich gelernt wurde. Lesen Sie heute den letzten Teil seiner Beobachtungen und seinen Schlussfolgerungen. Im Anhang finden Sie eine kommentierte Chronik der zurückliegenden Schulamokläufe.
Schulen: Verlässliche Orte oder Zulieferbetriebe für Markt und Industrie?
Von Götz Eisenberg
Im Zentrum des Appels der Erfurter Schüler und Studierenden stand die Forderung, über das Schul- und Bildungssystem und seine Orientierung am Leistungsprinzip nachzudenken. „Wer infolge der Pisa-Studie meint, es komme nur auf eine Steigerung der Leistung und nicht auf eine Verbesserung der Lernbedingungen an, der sollte Erfurt mitdenken“, hieß es in ihrem Aufruf. In den Wochen und Monaten nach dem Massaker gab es einen breiten Konsens darüber, dass ein Zusammenhang zwischen einem einseitig leistungsfixierten Schulklima und der wachsenden Gewaltbereitschaft von Schülern existiert und dass Schulen der sozialen und emotionalen Entwicklung der Schüler mehr Raum und Zeit zur Entfaltung gewähren sollten. Aber die Konsequenzen aus dem sogenannten Pisa-Schock haben schnell die Schlussfolgerungen aus dem Massaker von Erfurt überlagert und beiseite gedrängt.
Kaum waren die Aufrufe, man müsse „aufeinander zugehen“ und sich „mehr umeinander sorgen“, verklungen, gingen dieselben Leute daran, die Schulen und das ganze Bildungssystem nach Maßgabe betriebswirtschaftlicher Prinzipien zu reformieren. Die Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie und ihre Stellung auf dem Weltmarkt, heißt es unisono, seien mehr und mehr abhängig von der Produktion verwertbaren und marktfähigen Wissens. Nachdem Bergwerke und Hochöfen stillgelegt worden sind und der Übergang in die sogenannte „postindustrielle Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft“ vollzogen ist, gelten die Gehirne der nachwachsenden Generationen als wichtigste „Ressource“ – und Bildung ist die Art und Weise, sie zu erschließen und als Produktivkraft des Kapitals nutzbar zu machen. Alles und jedes soll sich im Rahmen einer betriebswirtschaftlichen Rationalität rechtfertigen und definieren und wird einem entsprechenden Kosten-Nutzen-Kalkül unterworfen. Der privatwirtschaftlich verfasste Betrieb ist das Bild, nach dem Kindergärten, Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Altenheime und Gefängnisse zu gestalten sind. Wer Schulen an Input-Output-Modellen misst, verwechselt die Produktion eines Autos mit der Förderung kindlicher Entwicklung. Ganze Sektoren der Gesellschaft, in denen es um Lernen, Heilen, die Entwicklung lebensgeschichtlicher Identität geht, müssen ihrer inneren Logik nach, die eine des Lebendigen ist, von der betriebswirtschaftlichen Logik, die eine des Maschinellen und Toten ist, ausgespart und verschont bleiben.
Seit die Bildungs-Ratingagentur Pisa das deutsche Schulsystem quasi auf Ramschniveau heruntergestuft hat, wird ständig an der Leistungsschraube gedreht. Oskar Negt hat angesichts der jüngsten Entwicklungen von der “reellen Subsumption” des Bildungssektors unter das Kapital gesprochen, was so viel bedeutet wie die Kapitalisierung des Lehrens und Lernens in seiner inneren Struktur. Managementmethoden dringen in den Bildungssektor ein, Begriffe wie Evaluation, Qualitätssicherung, Prozessorientierung, Ressourcenoptimierung, Monitoring beherrschen nicht nur die Sprache der Bildungsdiskurse, sondern beginnen, den Schulalltag und seine Zeitstruktur zu durchdringen. Die Schulzeit wird verkürzt, regelmäßig werden Lernstandserhebungen durchgeführt und Rankinglisten erstellt, die die Konkurrenz unter den Schulen und den Druck auf Lehrer und Schüler erhöhen. Schüler sind das „Humankapital von morgen“ und sollen fit gemacht werden für den Markt und „Verwertungsketten“.
Wer nicht mithalten kann, dem droht zeitig die soziale Exklusion. Schon Viertklässler werden, wie Gerhard Matzig unlängst in der Süddeutschen Zeitung schrieb, zu „delirierenden Post-Pisa-Schock-Insassen“ von Grundschulen gemacht, die nicht länger Bildungs- und Lehranstalten genannt werden könnten, sondern „Optimierungs- und Besserungs-Anstalten“. Bereits im zarten Alter von 10 Jahren wird ein ungeheurer Notenstress erzeugt, dessen Bewältigung darüber entscheidet, ob ein Schüler aufs Gymnasium oder wenigstens auf die Realschule wechseln darf, oder auf die Hauptschule und damit auf ein Abstellgleis abgeschoben wird. Eine boomende Nachhilfebranche hat inzwischen die Grundschulen erobert, ehrgeizige Eltern treiben ihre Kinder bereits in einem Alter, in dem wir früher noch gänzlich sorglos und zweckfrei spielen durften, zu Höchstleistungen an. Kein Wunder, dass der Psychopharmaka-Konsum von Kindern in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist. Sie stehen unter einem enormen familiären und schulischen Druck, den sie oft ohne Hilfsmittel nicht bewältigen können. Schon Kindern werden mehr und mehr Antidepressiva verabreicht. Der Gebrauch des Ritalin-Inhaltsstoffes Methylphenidat, das zu den Amphetaminen zählt und eine hochwirksame psychoaktive Substanz ist, hat sich in der letzten Dekade rund verzehnfacht. Wie der ins Milchglas gefallene Frosch so lange strampelt, bis aus der Milch Butter geworden ist und er das Glas verlassen kann, zappeln viele Kinder in der vagen Hoffnung, dass jemand kommen möge, der sie hält und beruhigt und so die Bedingungen dafür herstellt, dass sich in ihrem Innern eine angstmindernde und identitätsstiftende psychische Struktur herausbilden kann.
Viele Eltern wollen, dass ihre Kinder „brav“ sind und funktionieren, aber sie sind nicht bereit, durch Bereitstellung geschützter Räume und persönlichen Einsatz von Nerven und Lebenszeit dazu beizutragen. Sie überlassen die anstrengende Erziehungsarbeit Erzieherinnen und Lehrern und vertrauen ansonsten auf den großen „Bravmacher“ Ritalin, der den Kindern in Form einer zeitgenössischen Schulspeisung täglich verabreicht wird – wie uns seinerzeit Lebertran oder Rotbäckchen. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 12. Februar 2012 stellt uns Paul und seine Mutter vor. Diese arbeitet in der Werbe-Branche. Ihr Sohn Paul ist ein „anstrengendes Kind“. Die Mutter lässt ihm Ritalin verschreiben. Jetzt ist Paul kein anstrengendes Kind mehr, weder für die Mutter noch für die Lehrer. Und die Mutter fügt hinzu: „Wir leben in einer Leistungsgesellschaft und ich möchte, dass meine Kinder ganz vorne mitschwimmen.“
Auf die ihnen von oben und außen auferlegte Leistungskonkurrenz pfropfen die Schüler noch eine horizontale Anerkennungskonkurrenz und Konformitätszwänge auf und machen sich untereinander das Leben schwer – und manchmal unerträglich bis zum Suizid. Die unterdrückte Wut der um ihre Kindheit Betrogenen dreht sich im Kreis und richtet unter ihnen selbst Verheerungen an. Sie lernen, dass sie nur dann nicht zu den „Losern“ gehören, wenn sie bestimmte Konsumgüter vorweisen können und aktiv dazu beitragen, andere auszugrenzen und zu Verlierern zu stempeln. Wo harte Leistungskonkurrenz bis in die seelischen Innenräume eindringt, wo Denken und Verhalten der einzelnen bis ins Unbewusste hinein vom Überlebenskampf bestimmt wird, wo Unbehagen und Wut aber keine eindeutigen Adressaten finden, entsteht eine frei flottierende, diffuse Aggressivität, die in alle möglichen Richtungen geht und sich unter anderem in Mobbing- und Dissing-Attacken untereinander entlädt. Deren bevorzugtes Medium sind die sogenannten sozialen Netzwerke, in denen der Sozialdarwinismus sich austobt und die sich mehr und mehr zu einem digitalen Pranger entwickeln.
In dem Maße, wie Schulen sich als effiziente Zulieferbetriebe für Industrie und Markt begreifen, werden sie verschärft zu Orten der Konkurrenz, der Selektion und damit auch der Kränkung und Beschämung. Da gleichzeitig von den Heranwachsenden die Fähigkeit zur angemessenen Kränkungsverarbeitung immer weniger erworben wird, entsteht hier jede Menge schulischer Sprengstoff. Wenn wir solche Entwicklungen zulassen oder gar fördern, werden wir in Zukunft immer damit rechnen müssen, dass eines Tages ein bis dato stiller, unauffälliger Junge einen schwarzen Kampfanzug anzieht, die Waffe seines Vaters aus dem Schrank holt, ins Epizentrum seiner Kränkungen – die Schule – zurückkehrt und sich in aller Öffentlichkeit rächt für seine erlittenen Demütigungen und den Raub seiner Kindheit.
Gegenwärtig wächst eine Generation heran, die schon in der Wolle mit Sozialdarwinismus eingefärbt ist. Die hinter uns liegenden, von der Praxis des Neoliberalismus geprägten eisigen Jahre haben die Menschen selbst eisig werden lassen und ihre Innenwelt vergletschert. Sie können gar nicht anders, als diese Kälte weiterzugeben und auf ihre Umgebung abzustrahlen. Es macht einen nicht zu unterschätzenden Unterschied, ob man in einer Gesellschaft aufwächst und lebt, in der schwachen und nicht oder weniger leistungsfähigen Mitmenschen solidarisch beigesprungen und unter die Arme gegriffen wird, oder in einer, in der sie der Verelendung preisgegeben und als sogenannte „Loser“ zu Objekten von Hohn und Missachtung werden. Der Siegeszug des Neoliberalismus brachte die umfassende Durchsetzung jener Art von moralischem Darwinismus mit sich, „der mit dem Kult des winner … den Kampf eines jeden gegen jeden und den normativen Zynismus all seiner Praktiken ins Recht setzt“, heißt es in Pierre Bourdieus Schrift Gegenfeuer. Die vom Markt propagierten und für ein erfolgreiches Agieren auf dem ökonomischen Parkett erforderlichen Eigenschaften und Haltungen sind inzwischen in Gestalt von Rücksichtslosigkeit und Rohheit tief in die Poren des Alltagslebens vorgedrungen und haben sich in die Denk-, Affekt- und Wahrnehmungsgewohnheiten und Reaktionsmechanismen der Heranwachsenden eingegraben.
Wohin das führen kann und was für eine Mentalität da systematisch erzeugt wird, illustriert folgende Geschichte: Zwei Jungen begegnen irgendwo in den amerikanischen Wäldern einem aggressiven Grizzlybären. Während der eine in Panik gerät, setzt sich der andere seelenruhig hin und zieht sich seine Turnschuhe an. Da sagt der in Panik Geratene: „Bist du verrückt? Niemals werden wir schneller laufen können als der Grizzlybär.“ Und sein Freund entgegnet ihm: „Du hast Recht. Aber ich muss nur schneller laufen können als du.“
Um den Sozialdarwinismus unter Jugendlichen am Werk zu sehen, braucht es keine Ausflüge in amerikanische Wälder. Die Wildnis beginnt direkt vor unserer Haustür, man muss nur in die Stadt gehen und Augen und Ohren aufsperren.
Eine blinde Frau durchquert den Park vor meiner Haustür. Ihr Blindenhund geht neben ihr und ist nicht angeleint. Ein paar Halbwüchsige, die auf Bänken sitzen, rauchen und Bier trinken, locken den Hund zu sich und halten ihn fest. Die blinde Frau vermisst irgendwann ihren Hund und beginnt nach ihm zu rufen. Sie bleibt stehen und ruft immer lauter nach ihm. Schließlich gerät sie in Panik und schreit den Namen des Hundes. Jetzt erst lassen die Jugendlichen den Hund laufen und zu seiner Besitzerin zurückkehren. Sie weiden sich an der Hilflosigkeit und Angst der Frau und lachen sich halbtot über ihre niederträchtige Aktion.
Im selben Park sitzen ein paar Tage später Teenie-Mädchen auf einer Bank. Eine berichtet, sie habe ihre Oma besucht und 15 Euro von ihr bekommen. „Dafür musste ich mir eine Stunde ihr Geflenne anhören!“, sagte sie empört, so als sei das kein angemessener Stundenlohn für den Besuch einer Enkelin bei ihrer Großmutter.
In der Stadt werde ich Zeuge eines Dialogs zwischen 12/13-jährigen Jungen: „Ey Olly, deine Mutter ist in Preungesheim!“ – in diesem Frankfurter Stadtteil befindet sich das hessische Frauengefängnis. Der Beleidigte brüllt zurück: „Halt die Fresse, du Arschloch, sonst fick ich deine Mutter.“
Jugendliche gehen Bier trinkend durch die Fußgängerzone. Sie sehen einen Bettler am Boden sitzen, der auf einem Schild auf seine Notlage aufmerksam macht und um Spenden bittet. Sie beginnen, ihn zu beschimpfen und zu beleidigen. Schließlich treten sie seinen Hut weg, in dem sich ein paar Münzen angesammelt haben, und ziehen lachend und johlend weiter.
Dass „du Opfer“ und „Hey, du Spast“ zu den gängigen Beleidigungen zählen, mit denen heutige Jugendliche sich untereinander belegen, wirft ein schlagendes Licht auf die Perversion im Menschenbild, die sich in den letzten Jahren im Schatten eines vom Neoliberalismus geförderten Klimas der Glorifizierung des Starken und Siegreichen und der Verachtung alles Schwachen, Hilf- und Erfolglosen vollzogen hat. Mit schlechtem Beispiel gehen Sportler voran, die, kaum haben sie irgendeinen Sieg errungen oder eine Meisterschaft gewonnen, vor laufenden Kameras, Sektflaschen schüttelnd, grölen: „So seh’n Sieger aus – schalalalala“.
Die Schulen haben sich also unter dem Druck sogenannter Sachzwänge von Markt und Industrie unter Kuratel stellen lassen, statt „Erfurt mitzudenken“ und sich in Richtung einer menschlicheren Schule zu entwickeln. Dabei quittiert die Rede von den „Sachzwängen“ nur den Umstand, dass wir – die Bürger eines dem Anspruch nach demokratischen Gemeinwesens – es nicht mehr wagen, die „Sachen“, die ja in Wahrheit menschliche und von Menschen hervorgebrachte Verhältnisse sind, in eine andere, menschenförmige Richtung zu zwingen. Man will uns die Funktionsweisen der herrschenden Ökonomie und Gesellschaft als Naturgesetze verkaufen und Menschen, die das nicht akzeptieren wollen, in die Position desjenigen rücken, der so töricht ist, einem Erdbeben Vorwürfe zu machen. Mit großem medialem und propagandistischen Aufwand soll verhindert werden, dass jene angeblich ehernen Gesetze, deren perfekte Grausamkeit man uns gegenüber als ein Naturfaktum darstellt, den Menschen plötzlich gestehen würden, dass sie sie ja selbst gemacht haben und also auch verändern können. Wenn wir uns auf unsere Stärke und gestalterischen Möglichkeiten besännen, könnten wir also durchaus darauf bestehen, Schulen und Universitäten dem Zugriff des Kapitals zu entziehen und sie in der Tradition der Aufklärung an der regulativen Idee der Mündigkeit auszurichten. Das aufsteigende Bürgertum hatte Mündigkeit zu seinem Kampfbegriff gemacht und Bildung zu einem Instrument der Emanzipation. Freilich blieb der Anspruch, Bildung mit Mündigkeit zu verbinden, auf die bürgerliche Klasse beschränkt, die ihn, zu Reichtum und Macht gelangt, immer stärker einschränkte und schließlich wieder loszuwerden versuchte. Mündigkeit und ihre Strangulierung wachsen auf dem gleichen Holz, und es käme heute darauf an, den ursprünglichen Gehalt von Bildung wieder freizulegen, sie von ihren klassenspezifischen Beschränkungen zu befreien und als Instrument der Befreiung aller zu konzipieren. Wenn wir soweit wären, würden wir schnell feststellen, dass sich das Kapital seine kostenlosen Bildungszulieferbetriebe nicht kampflos entreißen lassen wird und wir nicht umhin kommen, den betriebswirtschaftlichen Imperialismus insgesamt zu bekämpfen und der Ökonomie vernünftige gesellschaftliche Ziele vorzugeben, denen sie zu dienen und sich unterzuordnen hat.
Zum Schluss zurück zu dem, was wir aus Erfurt hätten lernen können und was nach wie vor zu verändern wäre. Je mehr die Elternhäuser in ihren sozialisierenden, prägenden und Kinder und Jugendliche bergenden und haltenden Aufgaben und Funktionen ausfallen, desto mehr müssen Schulen zu Schutzräumen und „verlässlichen Orten“ (Oskar Negt) werden, in denen sie sich unter Bedingungen raum-zeitlicher Kontinuität und Verlässlichkeit zu Menschen entwickeln können. Es ist nicht länger hinzunehmen, dass in unseren Schulen Subjektivität und Innerlichkeit der Schüler (fast) nur als Störung vorkommen. Die Subjektivität der Schüler muss noch in ihren verqueren Ausdrucksformen ernst genommen und zum Gegenstand von Auseinandersetzungen zwischen leibhaftigen Menschen werden, die sich gerade in solchen Auseinandersetzungen als Menschen zu erkennen geben. Es kann nicht sein, dass Schüler, die leistungsschwach sind oder „stören“, bürokratisch entsorgt werden. Kinder und Jugendliche brauchen Zuwendung am meisten, wenn sie sie am wenigsten „verdienen“. Das einzige Antidot gegen die Gewalt sind emotionale Bindungen der Schüler untereinander, an ihre Schule und Lehrer und ein lebendiges, offenes Schulklima, das es möglich macht, über alles zu reden. Nur auf diese Weise kann verhindert werden, dass einzelne Schüler oder ganze Gruppen aus von der Schule gestifteten Bezügen herausfallen und dauerhaft an den Rand gedrängt werden.
„Es hätte nur jemand mit mir reden müssen“, hat ein amerikanischer School Shooter auf die Frage geantwortet, was hätte passieren müssen, um seinen Amoklauf zu verhindern. Schulen benötigen das, was bürokratischen Institutionen eigentlich wesensfremd ist, also widrigen Verhältnissen abgerungen werden muss: Einfühlungsvermögen und Sensibilität für besondere Umstände. Nur so sind Schulgemeinschaften imstande, die Folgen von Verletzungen wahrzunehmen, die die Schule einzelnen Schülern zufügt, und die Warnsignale aufzufangen, die die Verletzten und Gekränkten aussenden, bevor sie zur Gewalt greifen. Routine, Bequemlichkeit und Indifferenz sorgen im Schulalltag dafür, dass solche Vorzeichen übersehen werden: die Äußerung von Suizidabsichten oder tiefer Ausweg- und Hoffnungslosigkeit, dauerhafte Mobbing- und Dissing-Attacken gegenüber bestimmten Schülern, das Abdriften in gewaltgesättigte virtuelle Welten, apokryphe oder offene Andeutungen, dass „demnächst irgendetwas passieren wird“, das Erstellen von „Todeslisten“, die intensive heroisierende Beschäftigung mit anderen Amokläufern und die Übernahme von deren Zeichen- und Symbolsystemen.
Wenn sich Schwächen auf beiden oben beschriebenen Ebenen der Konkurrenz miteinander verfilzen, ist Gefahr im Verzug. Ein Versagen in der vertikalen schulischen Leistungskonkurrenz kann unter Umständen kompensiert werden durch hinreichende Anerkennung auf der horizontalen Ebene der Statuskonkurrenz untereinander. Umgekehrt kann sich ein Schüler für die mangelnde Akzeptanz bei seinesgleichen durch die narzisstischen Gratifikationen schadlos halten, die mit schulischen Erfolgen verbunden sind. Versagen beide Quellen der narzisstischen Zufuhr, mischt sich die Kritik an schwachen schulischen Leistungen mit Demütigungen, Schmähungen und Missachtung durch die anderen Schüler, kann ein Kollaps der inneren Selbstwertregulation die Folge sein. Gegen diesen drohenden narzisstischen Super-Gau ist Kampf mit allen Mitteln geboten. Die in diesem Kampf freigesetzten Aggressionen können in alle Richtungen gehen. Bei jungen Männern wenden sie sich häufig gegen die Außen- und Mitwelt, bei jungen Frauen immer noch eher gegen die eigene Person.
Bei all dem präventiven Eifer, den man seit Erfurt an Schulen betreibt, wird häufig übersehen, dass alle spektakulären Schulschießereien in Deutschland nicht von aktuellen, sondern von ehemaligen Schülern begangen wurden. Die Täter von Freising, Erfurt, Emsdetten und Winnenden kehrten nach mehr oder weniger großem zeitlichem Abstand an ihre ehemaligen Schulen zurück, um dort für vergangene und gegenwärtige Kränkungen Rache zu üben. Ein noch so ausgefuchstes „Bedrohungsmanagement“ an diesen Schulen hätte also gegen diese Taten nichts auszurichten vermocht. Es sei denn, man hätte in Erfurt die bürokratische Entsorgung eines Schülers verhindert oder fürsorglich aufgefangen. Ehemalige Schüler befinden sich häufig auf irgendwelchen Abstellgleisen im Niemandsland zwischen Schule und Beruf, Pubertät und Erwachsensein, und wissen nicht, gegen wen sie ihre ohnmächtige Wut wenden sollen. Diese sucht sich dann ein Ersatzopfer, einen Sündenbock, der die Wut auf sich zieht, weil er verletzlich und greifbar ist und/oder weil er mit vergangenen Kränkungen assoziiert wird, die sich mit den gegenwärtigen trübe verfilzen.
Die wirksamste Form der Prävention gegen eskalierende Gewalt ist und bleibt eine soziale:
ein von Empathie und Vertrauen getragenes Klima der Aufmerksamkeit und wechselseitigen Sorge. Jedes hysterische Agieren, das auffällige Schüler vorschnell verdächtigt, droht das informelle Frühwarnsystem, das eine halbwegs intakte Schulgemeinschaft hervorbringt, zu zerstören. Nicht jede Verhaltensauffälligkeit darf behördliche Nachstellungen und sozialarbeiterische oder psychotherapeutische Zwangszuwendung auslösen. Die Ausbreitung einer Fahndungsmentalität würde Gewaltphantasien in den Untergrund abdrängen, wo sie sich der kommunikativen Bearbeitung und Entschärfung entziehen.
„Ihr habt mich in eine Ecke getrieben …“
Eine kommentierte Chronik ausgewählter Schulamokläufe
Teile dieses Textes, insbesondere die aktualisierte Chronik sind meinem 2010 im Münchner Pattloch-Verlag erschienen Buch “… damit mich kein Mensch mehr vergisst! Warum Amok und Gewalt kein Zufall sind” entnommen.
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