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Titel: Der Kampf um Syrien geht weiter – Die Syrer bleiben im Ungewissen

Datum: 4. März 2025 um 14:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Länderberichte, Militäreinsätze/Kriege
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Knapp drei Monate nach dem Sturz des alten syrischen Systems bringen sich die Staaten, die den „Regime Change“ in Syrien direkt oder indirekt herbeiführten, in Stellung. Die Türkei, USA, Israel und europäische Staaten versuchen, das Land nach ihren territorialen und wirtschaftlichen Interessen aufzuteilen. Die arabischen Golfstaaten positionieren sich gegen Israel und betonen die Unterstützung der Interimsführung von Ahmed al-Sharaa (Hayat Tahrir al-Sham, HTS). Iran und Russland intensivieren direkt und indirekt diplomatische Kontakte mit der HTS-Interimsführung. Russland will die Präsenz von zwei Stützpunkten in Syrien (Latakia, Tartus) sichern. Iran will diplomatisch Spannungen gegen Verbündete in der Region (Hisbollah im Libanon, Volksmobilisierungskräfte im Irak) entgegenwirken. Von Karin Leukefeld.

Territoriale Neuordnung?

Die Türkei könnte – nach einem Vorschlag von Parteigründer Abdullah Öcalan – über die Entwaffnung und Auflösung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhandeln. Der Vorstoß wird von den USA und EU-Staaten wie Deutschland unterstützt. Vorschlag und Verhandlungen könnten sich direkt auf die Lage im Nordosten Syriens auswirken. Dort haben von der PKK ausgebildete und geführte bewaffnete Einheiten im Syrienkrieg den Einsatz vor Ort für die US-geführte Allianz gegen den Islamischen Staat erbracht. Im Gegenzug konnten die kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) die ressourcenreichen Gebiete nördlich des Euphrat kontrollieren.

Ob und wie ein Rückzug der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in dem Gebiet stattfinden wird, bleibt abzuwarten. Die USA haben im Verlauf des Syrienkrieges wiederholt einen Zusammenschluss der Kurden aus dem Nordosten Syriens mit den Kurden im Norden des Iraks thematisiert, was im Laufe des Syrienkrieges zu einer stärkeren Zusammenarbeit der sehr verschiedenen kurdischen Organisationen geführt hat. Auf Dauer aber dürfte ein Erstarken kurdischer Autonomie über ein vergrößertes Territorium weder vom Irak noch von Syrien, nicht von der Türkei und auch nicht vom Iran unterstützt werden.

Deutschland unterstützt die Entwaffnung und Auflösung der Arbeiterpartei Kurdistans, wie Kanzleramt und Auswärtiges Amt in Berlin erklärten.

Mit Frankreich hat Deutschland im Auftrag der EU maßgeblich dazu beigetragen, dass die langjährigen einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen gegen Syrien zumindest teilweise aufgehoben wurden.

Beide Staaten hatten seit 2011 jede Lockerung der Sanktionen ebenso abgelehnt wie den Dialog mit der amtierenden syrischen Regierung von Bashar al-Assad. Mit der Unterstützung syrischer Menschenrechtsorganisationen (im Ausland) hat Deutschland sich die Strafverfolgung syrischer Gewaltverbrechen und Folter auf die Fahnen geschrieben. Eine in Damaskus geplante Konferenz zum Thema „Staatsfolter“ (unter der alten Regierung von Bashar al-Assad) wurde ohne Angabe von Gründen kurzfristig abgesagt.

Unter Missachtung des internationalen Rechts rückt die israelische Armee seit dem HTS-Einmarsch in Damaskus (8. Dezember 2023) immer weiter auf syrisches Territorium vor. Mit einer massiven Angriffswelle – mehr als 400 Luftangriffe innerhalb von zwei Tagen – zerstörte Israel sämtliche Militäranlagen der ehemaligen syrischen Streitkräfte. Vor wenigen Tagen bombardierte die israelische Luftwaffe erneut Ziele südlich von Damaskus und forderte eine entmilitarisierte Pufferzone für die südlichen syrischen Provinzen Qunaitra, Deraa und Sweida.

Sämtliche arabischen Golfstaaten sowie Jordanien, Ägypten und die Türkei verurteilen das Vorgehen Israels in Syrien und fordern den Abzug der israelischen Besatzungstruppen sowie die Wahrung der territorialen Integrität und Souveränität Syriens. Katar weist darauf hin, dass die USA nicht bereit seien, die finanziellen Sanktionen gegen Syrien und die HTS-Interimsregierung aufzuheben. Das verhindere ein finanzielles Engagement Katars in dem Land. Der Emir von Katar, Tamim bin Hamid al Thani, hatte Ende Januar Damaskus besucht und finanzielle Unterstützung speziell für die Angestellten und Beamten im Staatsdienst Syriens zugesagt.

Offen für Geschäfte“

Die selbst ernannte HTS-Interimsregierung in Damaskus hat das Verhalten Israels in Syrien wiederholt verurteilt und fordert den Rückzug der Besatzungstruppen. Ansonsten zeigt sich die HTS-Führung in alle Richtungen „offen für Geschäfte“ (open for business) und hat die Privatisierung bisheriger Staatsbetriebe in Aussicht gestellt, so Interims-Außenminister Al-Shibani im Gespräch mit dem ehemaligen britischen Premierminister Tony Blair auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos.

Der von Hayat Tahrir al-Sham (HTS) eingesetzte Interimsminister für Öl und Ressourcen Ghiath Diab hat die Entscheidung der Außenminister der Europäischen Union (24. Februar 2025) begrüßt, die Sanktionen gegen den syrischen Energiesektor zunächst befristet aufzuheben. Die Entscheidung sei „ein positiver Schritt für den Wiederaufbau der nationalen Wirtschaft“, hieß es in einer Erklärung, die von der syrischen Tageszeitung Al Watan (26. Februar 2025) auszugsweise veröffentlicht wurde. Damit werde die Stabilität in Syrien gestärkt, denn „der Energiesektor ist eine der wichtigsten Säulen“ der syrischen Wirtschaft. Diab rief „die Unternehmen, die früher im Ölsektor tätig waren, auf, nach Syrien zurückzukehren und mit ihrem Know-how und ihren Investitionen zur Entwicklung dieses wichtigen Sektors beizutragen“.

Bereits am 19. Februar 2025 hatte der Europäische Rat beschlossen, „hinsichtlich der Lage in Syrien einen Teil der Strafmaßnahmen auszusetzen, um die Zusammenarbeit mit dem Land, seiner Bevölkerung und Unternehmen in den Bereichen Energie, Verkehr und Wiederaufbau sowie die damit verbundenen Finanz- und Bankgeschäfte zu ermöglichen“.

Der „Sturz des Assad-Regimes“ markiere „den Beginn einer neuen Ära der Hoffnung für das syrische Volk“, heißt es in der Erklärung. „Alle Syrer, im Land und in der Diaspora“ sollten die Möglichkeit haben, sich „am Wiederaufbau ihres Landes zu beteiligen“. Die EU stehe in diesem Moment des Übergangs an der Seite des syrischen Volkes.

Zur Erinnerung an 2011

Die EU hatte im Frühjahr 2011 die Öl- und Gasförderung und Export Syriens mit einseitigen Sanktionen blockiert, um „das syrische Regime“ dafür zu bestrafen, „Gewalt gegen das eigene Volk“ auszuüben. Es folgten weitere, jährlich verlängerte Strafmaßnahmen gegen staatliche und private Unternehmen, Regierungsmitglieder und Geschäftsleute.

Ergänzt wurden die von der EU verhängten Straf- oder Beugemaßnahmen (restrictive measures) durch Finanzsanktionen der USA („Cäsar-Gesetz“), die private, staatliche und jede Art von Investitionen in Syrien blockierten.

Einseitig von Staaten oder Staatengemeinschaften verhängte wirtschaftliche Straf- oder Beugemaßnahmen (Sanktionen) sind nach dem internationalen Recht illegal. Wegen der schwerwiegenden Folgen solcher Maßnahmen für die Bevölkerung, die wirtschaftlichen Möglichkeiten und die Entwicklung eines Landes ist nur der Weltsicherheitsrat befugt, diese Art von Sanktionen zu verhängen.

Zuletzt hatte der Europäische Rat am 25. November 2024 – nur wenige Tage vor dem „Sturz des Regimes“ in Damaskus, drei neu ernannte Minister der syrischen Regierung (Handel und Verbraucherschutz, Öl und Ressourcen und einen Staatsminister) auf die EU-Sanktionsliste gesetzt. Damit standen 318 Personen und 86 Unternehmen auf der EU-Sanktionsliste.

Nationaler Dialog

Am 25./26. Februar 2025 fand in Damaskus ein „Nationaler Dialog“ statt. Eingeladen hatte ein Vorbereitungskomitee, das von der selbst ernannten HTS-Interimsregierung beauftragt worden war. Berichten zufolge nahmen rund 600 eingeladene Personen von Stämmen, aus der Religion und der Zivilgesellschaft teil, rund 10.000 sollen sich per Internet zugeschaltet haben. Politische Parteien waren nicht zu dem Treffen eingeladen. Bewaffnete Gruppen, die ihre Waffen erst abgeben wollen, wenn es eine Verfassung, Wahlen, ein Parlament und eine frei gewählte neue Regierung gibt, waren ebenfalls ausgeschlossen. Betroffen von dem Ausschluss waren Alawiten, Kurden und Drusen sowie einige Gruppen, die der HTS-Allianz angehören.

As-Sharaa hatte bei seiner Ernennung zum Interimspräsidenten (29. Januar 2025) Parlament und politische Parteien verboten und die Verfassung außer Kraft gesetzt. Es werde fünf Jahre bis zu den nächsten Wahlen dauern, sagte er. Eine Verfassung werde frühestens in drei Jahren ausgearbeitet werden.

Das Treffen fand im Präsidentenpalast statt und wurde vom HTS-ernannten Interimspräsidenten Ahmed al-Sharaa eröffnet. Eine vorbereitete Abschlusserklärung umfasste 18 Punkte, die nach Auskunft des Vorbereitungskomitees als Grundlage für staatliche Reformen der Institutionen dienen und das politische Leben, Wirtschaft, Verteidigung und die Gesetze Syriens betreffen sollen. Gefordert wurde auch der Abzug der israelischen Truppen.

Israel fordert entmilitarisierte Pufferzone im Süden Syriens

Begleitet wurde der „Dialog“ von massiven Bombenangriffen der israelischen Luftwaffe auf Ziele südlich von Damaskus (Al Kisweh) und in der Provinz Deraa. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte am 23. Februar 2025 erklärt, Israel werde „weder den HTS-Kräften noch der neuen Syrischen Armee erlauben, das Gebiet südlich von Damaskus“ zu betreten. Er forderte eine „komplette Demilitarisierung Südsyriens in den Provinzen Qunaitra, Deraa und Suwaida“. Netanjahu warnte vor Angriffen auf die „Drusengemeinschaft“ im Süden Syriens und bot den Drusen an, auf den (von Israel besetzten) syrischen Golanhöhen zu arbeiten.

Verteidigungsminister Israel Katz ergänzte, die israelische Armee werde auf der Spitze des Hermon Berges (Jbeil Scheich) bleiben, die eigentlich zu Syrien gehört. Man werde dort, in der UN-kontrollierten Pufferzone auf den syrischen Golanhöhen sowie im Süden Syriens unbefristet bleiben, „um unsere Bevölkerung vor Drohungen zu beschützen“. Katz bestätigte, dass Israel auf dem Berg Hermon (Jbeil Scheich) zwei und in der UN-Pufferzone sieben Militärbasen errichtet habe. Israel werde mit „freundlichen Bevölkerungsgruppen in der Region“, speziell mit den Drusen seine Beziehungen vertiefen. Gegen jede Bedrohung aber werde man hart reagieren.

Wir wissen nicht, was geschieht

Für die Bevölkerung des Landes herrscht vor allem Ungewissheit. Die neuen Machthaber verbreiten ausgewählte Informationen über einen Telegram-Kanal, der über ein Handy empfangen werden kann. Informationen über den Nationalen Dialog oder internationale Absprachen gebe es nur „spärlich“, sagt eine Gesprächspartnerin. Sie wusste zwar, dass es einen „Nationen Dialog“ geben sollte, hatte von dem eintägigen Treffen im Präsidentenpalast am 25. Februar aber nichts gehört. Es habe sich herumgesprochen, dass in vielen Teilen des Landes gegen die Besatzung und gegen Israel protestiert werde, das sei beruhigend.

Der Alltag gestaltet sich weiter schwierig. In zahlreichen Telefongesprächen beschreiben Gesprächspartner (aus Damaskus) der Autorin ihren Alltag. Hunderttausende wurden entlassen und stehen ohne Arbeit und ohne Einkommen da. Es habe Proteste gegeben, aber keine Lösung. Rentner, Pensionäre erhielten kein oder zu wenig Geld. Die Banken zahlten weiterhin nur geringe Summen aus, der Stand des US-Dollar gegenüber dem Syrischen Pfund bestimme die Preise. Nur wenige in Syrien verfügen allerdings über US-Dollar-Reserven. Brot und Transportkosten seien weiterhin sehr teuer, andere Preise auf dem Markt schwankten mit einer Tendenz nach unten. Positiv sei, dass die Stromversorgung sich verbessert habe. Die Ölfelder von Deir Ez Zor seien der HTS-Interimsregierung übergeben worden, das sei wohl der Grund dafür, dass sich die Stromversorgung langsam stabilisiere, sagt eine Gesprächspartnerin. Bisher habe es lediglich eine oder zwei Stunden Strom aus dem staatlichen Netz gegeben, jetzt seien es vier oder fünf Stunden. „Wir sind bescheiden geworden“, fügt sie hinzu.

Viele sind mit bürokratischen Dingen beschäftigt. Abgelaufene Ausweise und Aufenthaltsgenehmigungen werden seit drei Monaten nicht bearbeitet. Der Grund bleibt unklar. Die Ankündigung, monatliche Gehälter um das 400-Fache anzuheben, erwies sich als „Märchen aus 1001 Nacht“, sagt ein Gesprächspartner. Er selbst habe ein kleines Unternehmen und seit Monaten keine Aufträge bekommen. Die meisten Leute, die er kenne, seien ohne Arbeit. „Die Menschen sind arbeitslos und haben kein Geld auszugeben, so ist das“, fügt er hinzu. „Wir warten, wir warten.“

Der am Wochenende beginnende Fastenmonat Ramadan zeigt bereits drastische Veränderungen für die Bevölkerung. Bisher gab es in Syrien – wo es viele verschiedene Glaubensgemeinschaften gibt – diesbezüglich keine staatlichen Anordnungen. Die religiöse Vorgabe ist, dass Muslime im Fastenmonat zwischen Sonnenauf- und -untergang nicht essen und auch nicht trinken sollen. Nun müssen Restaurants und Imbisse tagsüber geschlossen bleiben. Unklar ist, ob Hotels Essen servieren dürfen, zumal Kranke und Reisende von der Fastenpflicht befreit sind.

Auf die Frage, ob es wieder Polizei gebe, heißt es, „schwarze vermummte Männer“ seien in den Straßen unterwegs, meist in Vierergruppen. Sie gehörten zum Innenministerium. Ehemalige Polizisten konnten sich bewerben, wurden überprüft und erhielten eine kurze Ausbildung. Die „schwarzen Männer“ bezeichneten sich selbst nicht als Polizei, sondern als „Sicherheitskräfte“. Er sei nicht der Einzige, der sich darüber aufregt, dass diese Männer vermummt seien, berichtet ein Gesprächspartner. „Wir wissen gar nicht, mit wem wir es zu tun haben. Sie zeigen ihr Gesicht nicht.“

Titelbild: © Karin Leukefeld


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