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Titel: Amok in Erfurt

Datum: 24. April 2012 um 9:39 Uhr
Rubrik: Bildungspolitik, Gedenktage/Jahrestage, Innere Sicherheit
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Am 26. April 2002 tötete der 19-jährige Robert S. am Erfurter Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen und sich selbst. Kurz darauf gründete sich die Schülerinitiative „Schrei nach Veränderung“, die dazu aufrief, sich „verstärkt mit den gesellschaftlichen Ursachen dieser Tat auseinander zu setzen“, weil nur deren Kenntnis es ermögliche, weiteren Taten vorzubeugen. Aus dem Abstand von zehn Jahren blickt Götz Eisenberg auf die damaligen Ereignisse zurück und fragt, was aus dem Massaker von Erfurt wirklich gelernt wurde. Wir präsentieren seinen Text von heute an bis zum 26. April in drei Teilen. Beschließen wird ihn eine kommentierte Chronik der Schulamokläufe.

Amok in Erfurt
Vor zehn Jahren ereignete sich das Massaker am Gutenberg-Gymnasium

Teil 1

„Ja, dann ist Schluss!“

Als Robert S. sich am Morgen des 26. April 2002 anschickt, das Haus zu verlassen, drückt ihn der Vater an der Tür an die Brust und sagt: „Jetzt geht’s um die Wurst!“ Die Mutter wundert sich, dass Robert eine uralte Hose mit großen Seitentaschen trägt. Kann man in einer schäbigen Cargo-Hose zur letzten schriftlichen Abiturprüfung erscheinen? „Lass den Jungen in Ruhe“, denkt sie und sagt zu ihm: „Heute ist endlich Schluss.“ Im Gehen erwidert er: „Ja, dann ist Schluss.“

Kurz vor 11 Uhr betritt Robert S. mit Rucksack und Sporttasche die Schule und sucht eine Toilette auf. Ganz in Schwarz gekleidet und maskiert kommt er wenig später heraus. Es ist, als hätte er sich durch diese Metamorphose in eine Figur aus einem seiner Ego-Shooter verwandelt. Dieser liefert ihm nun auch die Choreographie für sein weiteres Vorgehen: Mit Pistole und Pumpgun bewaffnet, durchkämmt er systematisch das ganze Gebäude, geht von Klassenzimmer zu Klassenzimmer, von Stockwerk zu Stockwerk. Sobald eine Lehrerin oder ein Lehrer in sein Blickfeld gerät, feuert er gezielt auf deren Kopf. Zwei Mitschüler tötet er eher zufällig beim Durchschießen einer geschlossenen Tür. Gegen 11:15 trifft er im ersten Stock auf seinen ehemaligen Geschichtslehrer Rainer Heise. Inzwischen hat Robert S. angesichts chaotischer Zustände im Schulgebäude, fliehender und schreiender Schüler, leerer Räume und nahender Polizeisirenen die Kontrolle über die Situation verloren. Er ist nicht mehr Herr der Lage und am Ende mit seinem mörderischen Latein. Der Amoklauf implodiert, die Metamorphose ist beendet, er verwandelt sich aus einer Ninja-Figur in Robert S. zurück. Das ist Rainer Heises Rettung. Robert S. zieht die Maske vom schwitzenden Gesicht und steht ihm, mit der Waffe in der Hand, direkt gegenüber. „Du, Robert!“, sagt Lehrer Heise, „na dann erschieß mich auch!“ Robert erwidert: „Für heute reicht’s!“ Der Lehrer stößt ihn in ein Zimmer und schließt von außen ab. Innen schießt Robert S. sich eine Kugel in den Kopf.

Seinem Amoklauf fielen zwölf Lehrerinnen und Lehrer, ein Mitschüler und eine Mitschülerin, eine Sekretärin und ein Polizist zum Opfer. Ihre Namen sind:
Peter Wolff, Hans-Joachim Schwertfeger, Dr. Birgit Dettke, Helmut Schwarzer, Hans Lippe, Monika Burghardt, Gabriele Klement, Susann Hartung, Ronny Möckel, Ivonne-Sofia Fulsche-Baer, Heidemarie Sicker, Carla Pott, Heidrun Baumbach, Anneliese Schwertner, Rosemarie Hajna, Andreas Gorski.

Das folgende Bild hat der österreichische Künstler und Karikaturist Otto Fuchs zur Illustration meiner Thesen gezeichnet. Es heißt: Ein Ninja-Krieger entsteigt dem Bildschirm und wendet sich dem Erfurter Gutenberg-Gymnasium zu.

Die Sache war die: Robert S. ging seit einem halben Jahr gar nicht mehr zur Schule. Das Gutenberg-Gymnasium hatte sich seiner Anfang Oktober 2001 durch einen Akt bürokratischer Exklusion entledigt, nachdem er geschwänzt und Atteste gefälscht hatte. Da Robert S. volljährig war, brauchte die Schule seine Eltern nicht zu informieren. Der Schulverweis entzog seinem Lebensentwurf die Grundlagen und stürzte ihn wegen einer Besonderheit des damaligen thüringischen Schulgesetzes ins Nichts. Ohne jeden Bildungsnachweis drohte er zu dem zu werden, was man im sozialdarwinistischen Jargon der Gegenwart einen „Loser“ nennt. Am Abend des Schulverweises hob er Geld ab, zwei Wochen später kaufte er sich die Tatwaffe und wurde Mitglied des Schützenvereins „Domblick“.

Da er sich von der realen Welt zurückgewiesen fühlte, zog er sich mehr und mehr in die virtuelle Welt der Computerspiele zurück, die sein lädiertes Selbstwertgefühl aufpäppelte und ihm ein Gefühl von Macht und Stärke vermittelte, dem in der Realität immer weniger entsprach. Parallel dazu verstrickte er sich der Familie gegenüber in ein komplexes Lügengebilde. Das emotional kühle und leistungsfixierte Klima in der Familie S. hielt ihn davon ab, von seinem Schulverweis und seinem drohenden Absturz ins Bildungs-Nirwana zu berichten. Er verließ morgens das Haus und verbrachte den ganzen Vormittag in einem Café. „Wie war dein Tag?“, fragte die Mutter, wenn er nach Hause kam. „Ganz okay“, sagte er und erzählte von der Schule, von wachsendem Druck und dem bevorstehenden Abitur. Dann verschwand er in seinem Zimmer und seiner Computerwelt. Das Trainingsprogramm im Kinderzimmer: Wie man im Laufschritt und im Sekundentakt kaltblütig tötet, wie man Gebäude und Gelände strategisch sichert, wie man am schnellsten seine Waffe nachlädt. Alles per Mausklick, über Jahre, Level für Level. Er trainierte sich systematisch das Mitleid ab, schwelgte in Rachephantasien und begann, sich intensiv mit Eric Harris und Dylan Klebold zu beschäftigen, die 1999 an der Columbine-Highschool in Colorado zwölf Mitschüler und einen Lehrer erschossen hatten. Die Bilder der Überwachungskameras, die ihren mörderischen Auftritt in der Schulcafeteria festhielten, gelangten ebenso ins Internet wie die Handy-Notrufe der Opfer. So wurde Littleton zum Symbol für Schießereien an Schulen und Universitäten und liefert seither eine Art Blaupause für alle Nachfolger.

Indem Robert S. den Schulverweis zu Hause verschwieg und so tat, als wäre alles in Ordnung, begann er, wie Gerhard Mauz einmal gesagt hat, mit seiner Umgebung „Federball mit Dynamit“ zu spielen. Denn zwangsläufig musste der Tag kommen, an dem seine Lügen auffliegen würden und er seinen Eltern mit dem Geständnis seines Scheiterns unter die Augen treten müsste. Der letzte Tag der schriftlichen Abiturprüfungen wurde so zum Tag der Entscheidung, und er beschloss, die Widersprüche in der realen Welt, in die er sich heillos verstrickt hatte, nach dem eingeübten Modus der virtuellen Welt gewaltsam zu lösen.
In einem Gespräch mit dem Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL vom 28.4.2003 hat Roberts Mutter ein Jahr nach der Tat eigene Versäumnisse eingestanden. Sie habe damals aus Zeitmangel und wegen privater und beruflicher Belastungen Vieles übersehen oder nicht sehen wollen. Sie erinnert sich an eine bestimmte Szene: „Ein paar Monate vor der Tat saß Robert am Küchentisch und sagte: ‚Es hat alles keinen Sinn’. Ich habe nur geantwortet: ’Was redest du für einen Quatsch?’ Heute sage ich mir ständig, dass ich nur ein einziges Mal hätte reagieren müssen.“

Ich erinnere mich, dass mir in den Tagen nach dem Massaker von Erfurt in der Stadt ein junger Mann begegnet ist, der ein T-Shirt mit dem Aufdruck trug: “Erfurt – sind wir nicht alle ein bisschen Robert?” Der junge Mann wirkte so, als ginge es ihm nicht lediglich darum, durch die provokative Verfremdung eines dümmlichen Werbeslogans Aufsehen zu erregen und einen Unterscheidungsmehrwert einzuheimsen. Seine auf dem Leib getragene Frage forderte sich und uns auf, den Täter nicht zu isolieren und zur Inkarnation des Bösen zu erklären, sondern uns in ihm und seiner Tat wiederzuerkennen. Hätte unser junger Mann die Tagebücher von Max Frisch gekannt, hätte er auch – in leicht abgewandelter Form – die 22. Frage eines der dort formulierten Fragebögen auf sein T-Shirt drucken können: „Gesetzt den Fall, Sie sind noch nie Amok gelaufen: Wie erklären Sie es sich, dass es dazu nie gekommen ist?“ Oder einen Satz aus Jean-Paul Sartres Genet-Biographie: „Wenn jeder Mensch der ganze Mensch ist, muss dieser Abweichler entweder ein Kieselstein oder ich sein.“

In Gedanken sind wir alle schon einmal Amok gelaufen. Wer hat nicht gelegentlich ein Gefühl der Klaustrophobie und verspürt die Lust, das grausame Spiel zu beenden und die Figuren mit einer wütenden Handbewegung vom Brett zu fegen? Wer könnte nicht gelegentlich alles kurz und klein schlagen? Im Internet kann man T-Shirts mit dem Aufdruck bestellen: „Ich lauf hier gleich Amok“ – wohl einer der häufigsten stillen oder halblauten Stoßseufzer in Büros, Fabrikhallen und auf den Gängen von Behörden.

Die Halbwertszeit der öffentlichen Betroffenheit nach dem Massaker von Erfurt erwies sich als erstaunlich kurz. Vier Wochen befand sich die Republik in Aufregung und auf der hektischen Suche nach Erklärungen, dann legte sich der Sturm und es ging „normal“ weiter. Der damalige thüringische Ministerpräsident Bernhard Vogel eröffnete den Verdrängungsprozess und gab die Richtung vor, indem er unmittelbar nach der Tat von einem „Unheil“ sprach, „das vom Himmel gefallen ist.“ Das Massaker war ein Ereignis wie das Erdbeben von Lissabon und gegen so etwas kann man nichts tun, da hilft nur Beten.
Der Staat lebt vom Glauben seiner Bürger, durch ihn vor Unsicherheiten und Gefahren aller Art bewahrt zu werden. Da es gegen den Amoklauf so gut wie keine kurzfristig wirksamen Präventionsmöglichkeiten gibt, muss der Staat wenigstens so tun, als gäbe es sie. Um die durch die monströse Erfurter Tat erschütterte Innerlichkeit und Loyalität der Bürger zu restabilisieren, verabreichte man ihnen die üblichen Palliativa aus der sicherheitspolitischen Hausapotheke: Man verschärfte das Waffenrecht geringfügig, novellierte das Jugendschutzgesetz und änderte das Schulgesetz von Thüringen, das Robert S. ins Bodenlose hatte stürzen lassen.

Ein im Juni 2002 vorgelegter „vorläufiger Abschlussbericht“ erklärte die Tatmotive für geklärt. Dieter Althaus, Vogels Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten, verkündete noch Anfang 2004: „Zu Gutenberg ist alles gesagt. Der Fall ist geklärt und durch den vorläufigen Abschlussbericht des Innenministeriums ausreichend dargestellt.“ Althaus fuhr kurz und knapp fort: „Robert Steinhäuser ist ein Mörder, und das hat nichts mit der Schule oder dem Schulsystem zu tun.“ Für Althaus stand fest: Der „Böse“ ist der andere, er heißt Robert S. und ist tot. Damit konnte alles so bleiben, wie es war, und so weitergehen wie bisher.
Nach Protesten gegen die Inhaltslosigkeit und Vagheit des vorläufigen Abschlussberichts und wegen der vielen weiterhin offenen Fragen, setzte man dann doch eine „Kommission Gutenberg-Gymnasium“ ein, die im April 2004 einen voluminösen Bericht vorlegte. Er war mit seinen 371 Seiten vor einer breiteren Rezeption geschützt und begrub die Zweifel unter einer Unmenge sogenannter Fakten und Details.

„Gerechtigkeit gibt’s im Jenseits, hier auf Erden gibt’s das Recht“, schreibt William Gaddis zu Anfang seines Romans „Letzte Instanz“. Bei Friedrich Dürrenmatt heißt es lakonisch: „Die Gerechtigkeit wohnt auf einer Etage, zu der die Justiz keinen Zutritt hat.“ Auch wenn das so sein mag, erfüllen gerichtliche Verfahren dennoch eine wichtige Funktion im Kontext der sozialen Integration einer Gesellschaft. Das Strafrecht ist trotz all dieser Einschränkungen doch und immerhin ein „vergängliches Gebilde zur Erhaltung eines verworrenen Gefüges“, wie Gerhard Mauz es vorsichtig ausgedrückt hat. Das, was man pathetisch „Rechtsordnung“ nennt, ist bei Lichte besehen der Versuch, ein leidliches Zusammenleben der Gesellschaftsmitglieder zu ermöglichen. Auch wenn die forensisch gefundene Sprachregelung letztlich nur ein Konstrukt ist, bietet sie doch allen Beteiligten und der Gesellschaft Schutz vor der unendlichen Auslegbarkeit des menschlichen Lebens und Handelns. Das Urteil reduziert das komplexe Rauschen der Totalität auf eine Stimme und stellt eine wie immer problematische, für die Aufrechterhaltung des „verworrenen Gefüges“ aber unverzichtbare Eindeutigkeit her.

Einem Täter, der sich am Ende seines mörderischen Wütens selbst tötet, kann man keinen Prozess machen, eine forensische Auseinandersetzung mit Tat und Schuld findet nicht statt. Unsere Bedürfnisse nach Aufklärung der Hintergründe der Tat, einer Verantwortungsübernahme durch den Täter und seiner Bestrafung gehen ins Leere. Ein Amoktäter, der sich am Ende selbst tötet, bringt uns um die Erfahrung, der irdischen Form der Gerechtigkeit bei der Arbeit zusehen zu können und frustriert unsere Erklärungs-, Kausalitäts- und Vergeltungsbedürfnisse. „Aha, das ist es also!“ würden wir irgendwann gern sagen können, um dann erleichtert zur Tagesordnung zurückzukehren. An die Stelle einer forensischen Aufklärung treten in einem solchen Fall Phantasien, Spekulationen über „das Böse im Menschen“, simple mediale Konstrukte oder das Versprechen der Wissenschaft, demnächst „Muster“, „Patterns“ zu finden, die eine Früherkennung potenzieller Täter und damit eine wirksame Prävention ermöglichen sollen. Oder, können wir im Erfurter Fall hinzusetzen: regierungsamtliche Abschlussberichte.

Um die Aufklärung der Hintergründe des Erfurter Massakers hat Ines Geipel sich große Verdienste erworben, deren literarisch angelegtes Buch „Für heute reicht’s“ im Jahr 2004 für Diskussionen sorgte und auf viel Widerstand stieß. Da schluckten viele Menschen in Erfurt und um Erfurt herum doch lieber einen von oben verabreichten Tranquilizer und beruhigten sich damit, dass die Tat des Robert S. „ein vom Himmel gefallenes Unheil“ sei, als zu erfahren, dass sie und wir alle etwas damit zu tun haben. Dieser Tage hat Ines Geipel nach nochmaligen gründlichen Recherchen unter dem Titel „Der Amok-Komplex“ ein neues Buch vorgelegt, in dem sie fünf Amokläufen von Port Arthur bis Utoya, unter anderem auch dem von Erfurt, genauer auf den Grund geht.

Wie schwer sich eine Gesellschaft mit einem überlebenden Amokläufer und der juristischen Wahrheitsfindung tun kann, ist in diesen Tagen, da der Prozess gegen Anders Behring Breivik begonnen hat, in Norwegen zu beobachten. Ich habe mich am 16. April auf den Nachdenkseiten unter der Überschrift „Verrückt“ oder „böse“ dazu geäußert.

Morgen folgt Teil 2: „Schrei nach Veränderung“


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