Startseite - Zurück - Drucken
NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: BGH-Entscheidung: Ukrainischer Kriegsdienstverweigerer darf abgeschoben werden
Datum: 19. Februar 2025 um 12:19 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Militäreinsätze/Kriege, Wertedebatte
Verantwortlich: Redaktion
Du sollst nicht töten – dieses uralte, universelle Gebot dürfte weiten Teilen der Menschheit bekannt sein. Du sollst nicht töten – daran kann sich aber nicht halten, wer gegen seinen Willen in den Krieg geschickt wird. Es sei denn, er lässt sich ohne Gegenwehr selbst töten. Ein aktueller Beschluss des Bundesgerichtshofs zur Rücksendung ukrainischer Kriegsdienstverweigerer ist ein furchtbarer Rückschritt für menschlich-zivilisatorische Errungenschaften. Der BGH hat entschieden: Ein Kriegsdienstverweigerer darf an die Ukraine ausgeliefert werden. Ein Recht, bei dem die Menschlichkeit unter die Räder kommt, ist barbarisches Recht. Ein Kommentar von Marcus Klöckner.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Das Recht, den Kriegsdienst zu verweigern, besteht – solange es keinen Krieg gibt. Zu dieser Erkenntnis lässt sich gelangen, wenn man einen aktuellen Beschluss des Bundesgerichtshofs zugespitzt zusammenfassen will. Das Hohe Gericht hat entschieden, dass ein ukrainischer Kriegsdienstverweigerer in sein Heimatland zurückgeschickt werden darf. Die Richter des 4. Strafsenats vertreten nämlich folgende Auffassung: Wenn ein „Verfolgter im Auslieferungsverfahren“ aus Gewissensgründen den Kriegsdienst verweigert, hat er trotzdem ausgeliefert zu werden, „wenn sein um Auslieferung ersuchendes Heimatland völkerrechtswidrig mit Waffengewalt angegriffen wird“. Ein Recht zur Kriegsdienstverweigerung sei „deshalb nicht gewährleistet“, auch wenn der Verfolgte „nach seiner Auslieferung“ „zum Kriegsdienst im ersuchenden Staat herangezogen“ werde.
Das ist: Unmenschlich! Die durchschnittliche Überlebenserwartung eines ukrainischen Soldaten an der Front im Osten des Landes soll vier Stunden betragen. Von Richtern, die mit ihrer Entscheidung letztlich über das Leben eines Menschen entscheiden, kann erwartet werden, dass sie über die Verhältnisse in diesem Krieg gut Bescheid wissen. Von den Richtern des BGH darf auch Kenntnis davon erwartet werden, was mit Ukrainern passiert, die sich weigern, ihrer Aufforderung zum Militärdienst nachzukommen. Die vielen Berichte und Videos von Zwangsrekrutierungen auf offener Straße lassen sich nicht mehr übersehen.
Auszugehen ist auch davon, dass den BGH-Richtern bewusst ist, dass in der Ukraine sowohl von russischer als auch ukrainischer Seite der Einsatz von Streumunition erfolgen soll. Die Verwendung dieser Munition ist per internationalem Abkommen, das auch Deutschland unterzeichnet hat, geächtet. Insbesondere sollte davon ausgegangen werden, dass bei der Beschlussfindung die Richter auch die Vorwürfe Russlands in Erwägung ziehen, wonach die Ukraine sich Kriegsverbrechen schuldig gemacht habe. Von den Richtern des BGH darf ferner erwartet werden, dass ihnen der Begriff „Fleischwolf“ im Hinblick auf einen Krieg bekannt ist. Als Fleischwolf wird ein Ort an der Front verstanden, der um jeden Preis zu halten ist. Während vorne an der direkten Front ein furchtbares Gemetzel und Sterben stattfindet, drücken Militärs von hinten neue Soldaten weiter nach vorne. Auch diese Soldaten werden durch den „Fleischwolf gedreht“. Das ist die Realität.
Trotz dieser furchtbaren Verhältnisse kommen die Richter zu dem Ergebnis, dass eine Auslieferung rechtens sei. Auf 54 Seiten wälzen die BGH-Richter die Rechtsprechung aus und verweisen gar darauf, dass es sich bei dem Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht um einen „integralen Bestandteil der Gewissensfreiheit und damit der Menschenwürde“ handele.
Wer den Beschluss liest, kommt zu einer erschreckenden Erkenntnis. Die Richter zitieren den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, das Bundesverfassungsgericht, das Grundgesetz, sie sprechen immer wieder von „Menschenwürde“, von „Gewissensfreiheit“ und doch steht am Ende eine Entscheidung, die ein Rückschritt menschlich-zivilisatorischer Errungenschaft ist. All die hehren Institutionen, all die schwerwiegenden Begriffe dienen in der konkreten Auslegung des Rechts nicht dazu, das zu verhindern, wozu sie eigentlich da sein sollten.
Am Ende setzt sich der Beschluss – und ja, so darf man das verstehen! – über das Wertefundament unserer christlich geprägten Zivilisation hinweg. Ja, das uralte Gebot: Du sollst nicht töten!, kommt bei dieser Rechtsprechung unter die Räder einer Justiz, die vor lauter Paragraphen und Gerichtsentscheidungen den Wesensgehalt des zivilisierten Rechts aus dem Auge zu verloren haben scheint: Menschlichkeit. Recht ohne Menschlichkeit ist barbarisches Recht. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ukrainer, der vor seiner Einberufung zum Kriegsdienst geflüchtet ist und nun ausgeliefert wird, Repressalien unterzogen wird, ist gegeben.
Der Umgang mit Kriegsdienstverweigerern auf offener Straße durch Rekrutierungsbeamte ist bekannt. Und das ist, was öffentlich zu sehen ist. Wie es aussieht, wenn keine Öffentlichkeit dabei ist, mag man sich nicht ausmalen. Am langen Ende kann die BGH-Entscheidung bedeuten: Ein Mitmensch wird gegen seinen Willen gezwungen, aufs Schlachtfeld zu ziehen und dort, obwohl es fundamental seinem Gewissen widerspricht, sein Gewehr anzulegen und zu töten – oder aber, er muss sich wehrlos selbst töten lassen. Das Monströse wird sichtbar.
Dass der BGH hier ernsthaft die Notsituation der Ukraine anführt, hinterlässt den Eindruck, als ginge es darum, das Unmenschliche durch eine falsche Fokussierung unsichtbar zu machen. Auch wenn ein Land überfallen wird: Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Was ist daran nicht zu verstehen? Wer aufgrund einer Gewissensentscheidung nicht in den Krieg ziehen will, will nicht in den Krieg: Egal, ob sein Land angreift oder angegriffen wird. Unterm Strich veranschlagt der BGH hier eine Rechtsprechung, die ein Menschenleben zur Verfügungsmasse eines Staates degradiert. Auch unter einer Notsituation kann und darf ein Staat einen Bürger nicht gegen sein Gewissen zum Töten zwingen – Rechtsauslegung hin, Rechtauslegung her.
Die Verteidigungshandlung eines Bürgers gegen einen Aggressor kann ein Staat erbitten – aber die Entscheidung darüber hat jeder Bürger selbst für sich zu treffen. Wenn eine Vielzahl von Bürgern im Verteidigungsfalle bereit ist, zu den Waffen zu greifen, dann mag das für den Staat und das Land sprechen. Dann sei es so. Wenn sie es aber nicht tun, dann, ja: mag der Staat vielleicht sogar untergehen. Das kann tragisch sein oder auch nicht. Aber der Staat hat nicht das Recht, sich über die Menschenwürde zu stellen. Und einen Staatsbürger gegen seinen Willen zum Kampf und zum Töten zu instrumentalisieren – das ist ein Akt der Barbarei. Der ukrainische Soldat, der gegen seine Auslieferung geklagt hat, sitzt übrigens in „Auslieferungshaft“.
In Deutschland, so glauben viele, sei das Recht auf Kriegsdienstverweigerung tief verankert. Im Grundgesetz Artikel 4 Absatz 3 heißt es: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“ Das ist – eigentlich – klar und deutlich. Doch so langsam schleichen sich Zweifel ein.
Titelbild: Chris Redan/shutterstock.com
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=128940