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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Hinweise des Tages
Datum: 10. April 2012 um 8:45 Uhr
Rubrik: Hinweise des Tages
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
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Vorbemerkung: Wir kommentieren, wenn wir das für nötig halten. Selbstverständlich bedeutet die Aufnahme in unsere Übersicht nicht in jedem Fall, dass wir mit allen Aussagen der jeweiligen Texte einverstanden sind. Wenn Sie diese Übersicht für hilfreich halten, dann weisen Sie doch bitte Ihre Bekannten auf diese Möglichkeit der schnellen Information hin.
Anmerkung: Unser engagierter Freund der NachDenkSeien, Kai Ruhsert, kritisiert Günter Grass scharf [PDF – 106 KB].
Zur Kritik von Kai Ruhsert: „Ein ehemaliger SS-Mann will die Seite wechseln.“
WL: Im Zweiten Weltkrieg meldete sich Günter Grass mit 15 Jahren (!) – nach eigenen Angaben, um aus der familiären Enge zu entkommen – freiwillig zur Wehrmacht. Nach dem Einsatz als Luftwaffenhelfer und der Ableistung des Reichsarbeitsdienstes wurde er am 10. November 1944 im Alter von 17 Jahren (!) zur 10. SS-Panzer-Division „Frundsberg“ der Waffen-SS einberufen.
passend dazu: “Das Ökonomie-Studium heute gleicht einer Gehirnwäsche”
Wirtschaftsethiker fordert Neubegründung der Wirtschaftswissenschaften
Es ist eine Generalabrechnung: Über Jahrzehnte haben sich die Wirtschaftswissenschaften in ihrer Disziplin eingekapselt und so die Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse vorangetrieben, glaubt der Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann. Ökonomen aller Lager hätten das Kapital stets hofiert – stattdessen gehöre es gebändigt.
Thielemann: Also dieser Aufruf ist eigentlich ein sehr sparsamer und er zielt auf die mangelnde Wissenschaftlichkeit der ökonomischen Disziplin, und wir sagen, eine Disziplin, eine Wissenschaft ist eben unwissenschaftlich, wenn sie sich paradigmatisch verkapselt hat, wenn sie nur noch eine Meinung zulässt und Gegenmeinungen gar nicht mehr beachtet.
Im Besonderen, würde ich aber sagen, würde ich zwei Dinge hervorheben. Die Ökonomen sehen sich ja selber zu guten Teilen als die konsequentesten Befürworter des Marktes, der Marktlogik, und das ist eben ethisch hoch fragwürdig. Ich sage mal zwei Stichworte, nämlich das Stichwort der Rationalität und der Effizienz. Da ist etwas ganz Spezifisches mit gemeint, und das ist ethisch, das ist normativ, was da verbreitet wird, aber eben ethisch hoch fragwürdig. Rationalität heißt bei den Ökonomen das eigene Interessestreben. Das ist rational, dafür steht der Name Homo oeconomicus und das wird eben als rational klassiert und wer seine Eigeninteressen nicht konsequent verfolgt, der gilt eben dann als irrational, und das ist die falsche Botschaft. Manche sagen ja, das Ökonomie-Studium heute gleicht einer Gehirnwäsche…
Quelle: Deutschlandfunk
Anmerkung unseres Lesers M.W.: Sehr interessant auch die aktuellen Kommentare!
Anmerkung AM: Unterstützen Sie die Unterschriftenaktion für die Rücknahme der Privatisierung, Näheres hier.
Anmerkung WL: Ansonsten erzählt der Spiegel in dem Artikel in der Printfassung mal wieder das Märchen von der Sozialdemokratisierung von Angela Merkel: „Aus Schwarz wird Rot“. Da wird sogar gesagt, dass von Ursula von der Leyen das Arbeitsministerium „zur sozialen Wärmestube der schwarz-gelben Koalition“ ausgebaut habe.
dazu: Linke gegen Paketverkauf von Ost-Wohnungen
„Futter für die Heuschrecken“: Die Linke-Bundestagsabgeordnete Heidrun Bluhm kritisiert den geplanten Paketverkauf aller ostdeutscher Wohnungen im Bundesbesitz.
Quelle: Handelsblatt
Anmerkung MB: Es lohnt sich durchaus, diese 15-minütige Sondersendung anzusehen. Neben diversen Kurzreportagen und Pressekonferenzen gab es eine Live-Diskussionsrunde mit dem hessischen Verkehrsminister Dieter Posch, dem Bürgermeister der Fluglärm-geplagten Stadt Raunheim (zwischen Flughafen und Mainz) Thomas und dem Frankfurter Musterkläger Adolf Herrlein. Hier wurde Minister Posch vom Bürgermeister mit dem Vorwurf konfrontiert, 2009 in einer Arbeitsgruppe zur Vorbereitung der Koalitionsverhandlung der neuen Bundesregierung an einem Gesetzesentwurf gearbeitet zu haben, der sich für bessere Wettbewerbsbedingungen im Flugverkehr und damit für höhere Hürden bei Nachtflugverboten arbeitete.
Anmerkung Orlando Pascheit: Der Mitherausgeber der Zeit beantwortet allmontäglich vier Fragen zum Zeitgeschehen. Generell sollte man solche relativ spontanen Antworten nicht auf die Goldwaage legen. Diesmal schon, denn es schon bedeutsam, wenn ein über die Landesgrenzen hinaus bekannter, einflussreicher (Bilderberg 2006) Journalist anfängt, eine Gruppe von Menschen auszugrenzen – die ‚uninsured‘ in den USA. Und er macht das sehr systematisch. Indem er zunächst einmal den Angriff der Republikaner auf Obamas Gesundheitsreform euphemistisch als Verfassungsfrage undefiniert. Er vermeint uns belehren zu müssen, dass es vor dem Obersten Gericht um den uralten Konflikt, Bundes- vs. Länderrechte, ginge. Er weiß es doch besser. Die “Commerce Clause” ist doch nur das Vehikel der Republikaner, über eine Verfassungsklage die Position des politischen Gegners zu schwächen. Die sogenannte “Handelsklausel” regelt ursprünglich den Handel zwischen den einzelnen Bundesstaaten und bestimmt in der Tat heute das Zusammenwirken zwischen Bundesregierung und einzelstaatlichen. Nur, wo blieben die verfassungsrechtlichen Einwände der Republikaner, als sie selbst eine Gesundheitsreform planten – sie wurde von der konservativen Heritage Foundation entwickelt – auf deren Grundlage Obama seine Reform entwickelte? Joffe verschweigt, dass nicht irgendwelche Staaten klagen, sondern 14 republikanische Staaten. Ebenso wie er versäumt, den zum Glaubenskampf hochstilisierten Angriff der von der Wall Street, der Pharma- und Versicherungsindustrie gesponserten vorgestrigen Rechten zu thematisieren. Vor allem aber, welches “land of the free” bereist Josef Joffe, wenn er in den USA 45 Millionen “unversicherte Trittbrettfahrer” des Gesundheitssytems ausmacht, für die “die Versicherten und die Privatzahler … aufkommen”? Wahrscheinlich das Land seiner bildungsbürgerlichen US-Kollegen, die republikanisch wählen. Jan-Werner Müller hat in einem lesenswerten Artikel darauf hingewiesen.
„So ist denn die Vorstellung von den Arbeitern, die sich im fanatischen Kampf gegen Schwulenehe aufreiben und darüber ganz ihre wirtschaftlichen Nöte vergessen, wohl ein Mythos. Im Gegenteil: Je besser man verdient, desto wahrscheinlicher, dass man die Republikaner wählt.“ Es ist wohl dieses Milieu, in dem ignoriert wird, dass die ‚Unversicherten‘ eben keine adäquate Gesundheitsversorgung erhalten. Zigtausende starben deshalb noch vor drei Jahren (Harvard-Studie). Bis 2010 durften US-Versicherungsfirmen Klienten mit Vorerkrankungen abweisen. Diese Menschen mussten ihre Therapien bis hin zu aufwendigen Chemotherapien selbst finanzieren und wer es nicht konnte, krepierte, wenn er nicht eine helfende Non-Profit-Einrichtung fand, aufgrund seines Alters Anspruch auf Medicare hatte oder die rigorosen Bedingungen von Medicaid erfüllte.
Es tut mir leid, aber Joffes Rede von 45 Millionen Trittbrettfahrern ist ein Zeugnis von „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“. Er betreibt: „Die Aufrechterhaltung oder gar Verstärkung der Ungleichwertigkeit von Gruppen und ihrer Mitglieder sowie die Auflösung von Grenzen zur Sicherung ihrer physischen und psychischen Integrität, die ihnen ein Leben in Anerkennung und möglichst frei von Angst ermöglichen.“ (Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, Heitmeyer)
45 Millionen Trittbrettfahrer, das ist die ausgrenzende Sprache, wie wir sie von Sarrazin, Clement und Konsorten kennen. Irgendwann sind die ‚Unversicherten‘ dann die Überflüssigen, die Wertlosen, die, welche den “schwarzen Winkel” verdienen – und Geschichte wiederholt sich. Sie meinen, das wäre zu weit gegriffen? Betrachtet man das jüngste, zivilisatorisches Fiasko in Europa, den Jugoslawienkrieg, so muss man sich vor Augen halten, dass parallel zum wirtschaftliche Niedergang Jugoslawiens in den 80ern ein Medienkrieg stattfand, der bald nicht mehr tatsächliche wirtschaftliche Probleme thematisierte, sondern das Heil in völkischer Abgrenzung gesucht wurde. Unter geschickter demagogischer Anleitung wurde Identität in mittelalterlichen Mythen gesucht bzw. die Gegnerschaften des II. Weltkrieges wiederbelebt: Hier kroatische Ustascha, dort serbische Tschetniks.
Nun, man könnte Josef Joffe einfach in die Reihe anderer Meinungsführer eben wie Koch, Clement, Sarrazin, Westerwelle einreihen, die eine zynische Distanz zu den niederen Ständen pflegen, aber erst jüngst zeigte sich Joffe von einer ganz anderen Seite, als er über das antisemitische ES bei Günter Grass sinnierte: „Der neue (oder abgeleitete) A., wie er aus dem Grass-Gedicht quillt, das von mächtigen Tabus – Scham und Schuldgefühle – eingezwängt wird. … Es geht um Schuldverschiebung und Selbstentlastung. Wie in dem legendären Spruch, der dem israelischen Psychiater Zvi Rex zugeschrieben wird: “Die Deutschen werden den Juden nie Auschwitz verzeihen.” Denn allein deren Existenz ist die ewige Anklage gegen Grass und die schuldlosen Nachgeborenen. Der “Jud” ist von Tabus umgeben, Israel ist es nicht. Dieser staatgewordene “Jud” verhält sich jetzt wie Nazi-Deutschland; deshalb soll er uns nicht andauernd “zur Rede stellen”, um uns zu erniedrigen und uns U-Boote abzuluchsen. Die Juden wollen, was wir getan haben. Gaza ist das Warschauer Ghetto, die israelische Bombe die neue Endlösung, diesmal Made by Israel und reserviert für Muslime.“
Ein beachtlicher interpretatorischer Aufwand, um Grass des Antisemitismus zu überführen. Nur jenseits von Grass, was hat den Joffe denn mit den amerikanischen „unversicherten Trittbrettfahrern getan? Josef Joffe hat leider noch nicht begriffen oder will nicht begreifen, wie “antisemitisch” ES letztlich in ihm selbst aussieht. Natürlich ist Joffe kein Antisemit, aber welchen Sinn macht die Auseinandersetzung mit dem Judenhass, wenn sie nicht in universale Fragen mündet, beim Jud stehen bleibt, und nicht nach der Ausgrenzung des Niggers, des Zigeuners, des Christen, des Moslems, der Türken, des Homosexuellen, der Frau, des “arbeitsunwilligen” Hartz-IV-Beziehers oder hier – der „insured“ (Unversicherte) fragt. Es geht doch um das Syndrom „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, unter das die Forscher um Heitmeyer Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie, Islamophobie, Etabliertenvorrechte, Klassischer Sexismus, Abwertung von Menschen mit Behinderung, Abwertung von Obdachlosen und Abwertung von Langzeitarbeitslosen subsummieren. Antisemitismus ist in ein Syndrom einzuordnen, das dem Wesen nach Ausgrenzung ist und es bedarf nicht des Judenhasses, um Ausgrenzung bis hin zur Forderung nach Ausrottung zu betreiben. Insofern, Joffe: “Aber was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, doch den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr?” (Matthäus 7,3; Lukas 6,41).
Zugegeben, Günter Grass nervt, er gibt gern den Moralapostel und ist dabei oft recht undifferenziert, die Recherche lässt zu wünschen übrig usw., aber ein Antisemit? Traurig auch seine Selbstkorrektur, dass er nicht Israel, sondern seine Regierung meine – dabei ist Israel eine Demokratie. Das klingt schon fast wie sein „Maulheld“, Ahmadinejad, der vorsichtigerweise auch immer vom zionistische Besatzungsregime spricht (Vergleiche hierzu den Artikel von Joshua Teitelbaum zu Absichten hinter der Sprache Ahmadinejads)
Das Grass-Gedicht gibt nicht den Antisemiten her und wer sind wir, dass wir uns im ES von Grass auskennen. Ob er recht hat, ist eine ganz andere Frage und kann diskutiert werden. Worauf Grass letztlich zielt, die Auseinandersetzung mit dem Iran, wird in Israel oder den USA schon längst längt diskutiert. – Und Ja, das Gedicht selbst ist nicht gerade eine lyrische Glanztat, erreicht nie einen Erich Fried geschweige denn Bert Brecht.
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