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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Der russische Freund
Datum: 1. Februar 2025 um 15:00 Uhr
Rubrik: Friedenspolitik, Wertedebatte
Verantwortlich: Redaktion
Wir leben in unsicheren, beängstigenden Zeiten. Doch wer von Ängsten geplagt ist, hat oft das Gefühl, keinen klaren Gedanken mehr fassen zu können. Es tut gut, ab und zu aus der Angst auszusteigen und wie ein Kanarienvogel im Sommer ins Freie zu fliegen. Eine Kurzgeschichte von Ulrich Heyden.
Es war vor 60 Jahren. Klaus und Dmitri saßen in einer Sandkiste in Berlin-Mitte. Sie waren beide sechs Jahre alt und ganz in ihr Spiel vertieft. Es war ein schöner Sommertag. Plötzlich begann es zu regnen. Dicke Regentropfen klackerten auf die Sandburg, welche die beiden gebaut hatten. Einige der Türme aus Sand verwandelten sich in Brei.
Dmitri schaute sich suchend um. Er hatte eine Idee und rannte in eine Ecke des Spielplatzes. Dort lag auf einer Bank eine leere Plastiktüte. Er nahm die Tüte und rannte zurück zur Sandburg. „Wir halten die Tüte über die Burg“, sagte Dmitri und hielt Klaus einen Teil der Plastiktüte hin.
Es war anstrengend, die Tüte über der Burg zu halten. Die Luft hatte sich abgekühlt, die Arme der beiden Jungs zitterten. Aber die Ausdauer der beiden wurde belohnt. Der Regen hörte auf und die Sandburg war – bis auf ein paar Beschädigungen – noch intakt.
60 Jahre später passierte etwas Merkwürdiges. Beim Aufräumen fiel Dmitri eine alte Plastiktüte in die Hand. Irgendwas an dieser Plastiktüte erinnerte ihn an die Sandburg, die er vor vielen Jahren zusammen mit einem Freund mit einer Plastiktüte gerettet hatte. Vor Dmitris Augen war alles ganz deutlich zu sehen: der Spielplatz, die friedliche Atmosphäre und die Burg.
Eine innere Stimme sagte Dmitri: „Ruf ihn mal an. Er freut sich. Die Telefonnummer hast du doch noch.” Beim Nachdenken fiel Dmitri ein russisches Sprichwort ein: „Ein alter Freund ist besser als zwei neue.“
Aber ganz sicher war Dmitri sich nicht. Man sagte, in Deutschland liefen jetzt merkwürdige Sachen. Man wollte nichts mehr von Russland wissen und habe sogar Angst vor Russen. Selbst russische Opernsänger, die einmal sehr beliebt waren, wollte man nicht mehr auftreten lassen. Doch die Zweifel schob Dmitri beiseite. Es ging ja nicht um Politik, sondern um die gemeinsam verbrachte Kindheit.
In einer Wohnung in Berlin-Mitte klingelte das Telefon. Es klingelt so merkwürdig, dachte sich Klaus. So klingelten die Telefone früher, wenn jemand aus dem Ausland anrief. Er nahm den Hörer ab und verstand erst nicht, wer da war. Ein Dmitri sagte etwas von gemeinsamer Kindheit und einer Sandburg.
Die Stimme klang sehr freundlich, fast vertraut, hatte aber einen Akzent. Klaus war gleich klar, dass es ein russischer Akzent war. Was hatte das zu bedeuten? Warum gerade jetzt dieser Anruf, fragte sich Klaus. Liest man nicht viel über russische Trolle und Spione? Versuchte da etwa jemand, ihn auszuspähen, zu kontaktieren und für etwas Verbotenes anzuwerben?
Dmitri erzählte, dass er eine Plastiktüte gefunden habe, die ihn an ein Erlebnis aus der Kindheit erinnert habe. Langsam begann Klaus, sich an die Sandburg zu erinnern. Aber er fühlte sich unsicher, irgendwie hatte dieser Anruf etwas Unheimliches.
Klaus begann abzuwägen, was ein Telefongespräch mit einem Russen für Folgen haben könnte. Was werde er seiner Frau Ingrid und seinen Kindern erzählen? Dass er mit einem Russen telefoniert habe, den er seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hat? Oder sollte er den Anruf einfach für sich behalten? Möglicherweise wird mein Telefon abgehört, sagte sich Klaus, und man meldet auf meiner Arbeitsstelle, dass ich Anrufe aus Russland bekomme.
Dmitri spürte, wie Klaus angestrengt nachdachte. Er ahnte, was in seinem alten Freund vorging. Und er hatte sogar Verständnis für die Zurückhaltung seines alten Freundes. Immerhin waren die Zeiten angespannt. Es gab keine kurzen Regenschauer wie damals in der Kinderzeit – nein, es regnete unaufhörlich.
Aber Dmitri ließ sich nicht von seinem Plan abbringen. Er wollte sich mit Klaus an die Kindheit erinnern. War das nicht eine wundervolle Zeit gewesen? Und ist es nicht schön, das Wundervolle, Unbeschwerte wieder auferstehen zu lassen, wenn auch nur in der Erinnerung?
Das Gespräch zwischen Klaus und Dmitri kam nicht richtig in Gang. Plötzlich ging im Zimmer, wo Klaus telefonierte, die Tür auf. Auf der Türschwelle stand seine sechs Jahre alte Enkelin mit einer Plastiktüte in der Hand. Sie fragte: „Opa, darf ich die mitnehmen, auf den Spielplatz? Es regnet und wir wollen die Sandburg retten.“
In Klaus stieg eine merkwürdige Hitze auf. Seine Augen wurden feucht. Ihm war, als hätte ihn jemand für ein paar Sekunden aus einem Gefängnis befreit. Er nickte. Fröhlich lachend lief die Enkelin mit der Plastiktüte davon.
Klaus hatte es die Stimme verschlagen. Er schnäuzte sich in ein Taschentuch. Dmitri – er konnte etwas Deutsch – hatte den Dialog mitbekommen und schwieg.
Klaus sammelte alle seine Kräfte und sprach mit brüchiger Stimme in den Telefonhörer: „Sag mir bitte mal Deine Telefonnummer. Ich rufe Dich später zurück.“
Es vergingen ein paar Tage, als bei Dmitri in Moskau das Telefon klingelte. Klaus hatte sich ein Herz gefasst. Er erzählte Dmitri von seiner Familie und davon, dass er sich ganz genau an die Sandburg erinnere. Schon lange habe er darüber nachgedacht, mal mit seiner Frau nach Moskau oder St. Petersburg zu fahren. Die beiden Männer redeten noch länger miteinander. Später begannen sie, sich per E-Mail Briefe zu schreiben.
Nach ein paar Monaten kam Klaus mit seiner Frau Ingrid nach Moskau. Seine Enkelin hatte er mit auf die Reise genommen. Sie war der Schlüssel gewesen zu einer neuen Verständigung mit dem alten russischen Freund.
Ulrich Heyden, 28. Januar 2025
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