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Titel: Schwierigkeiten mit der Wahrheit: Die „verschluckte Drahtbürste“ der NATO
Datum: 14. Januar 2025 um 9:03 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Europapolitik, Militäreinsätze/Kriege
Verantwortlich: Redaktion
Die Aussage des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Interview mit dem US-Podcaster Lex Fridman am 5. Januar hat mich zu diesem Thema inspiriert: „Jeder, der die Ukraine gezwungen hat, das sogenannte Budapester Memorandum zu unterzeichnen, gehört ins Gefängnis.“ Am 5. Dezember 1994 war ich bei der Unterzeichnung des Memorandums über die nukleare Abrüstung in der Ukraine anwesend. Da ich mich seit Jahrzehnten mit den Prozessen im postsowjetischen Raum beschäftige und mein sicherheitspolitisches Wissen nicht an einer Theaterhochschule erworben habe, halte ich es nicht für fair, den Krieg in der Ukraine vor drei Jahren denen in die Schuhe zu schieben, die damals überhaupt etwas getan haben, um Europa sicherer zu machen, um die Welt zu einer atomwaffenfreien Welt zu machen. Die Verbindung zwischen dem Budapester Memorandum, dem Krieg und der Frage nach der Verantwortung ist sehr offensichtlich, wenn wir das Thema unter dem Aspekt der Fakten und nicht der „Bekämpfung der russischen Desinformation“ betrachten. Ein Kommentar von Botschafter a. D. György Varga, aus dem Ungarischen übersetzt von Éva Péli.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Warum habe ich meinem Artikel den oben genannten Titel gegeben?
Der Krieg in der Ukraine hat die wissenschaftlich-theoretischen Zusammenhänge und Prinzipien, die einem Arzt, Ingenieur, Historiker, Politikwissenschaftler, der gerade sein Doktorat begonnen hat, in den ersten Wochen des Doktoratsstudiums beigebracht werden, nur noch verstärkt: Es gibt exakte und nicht exakte Wissenschaften. Grob gesagt sind die exakten Wissenschaften die Naturwissenschaften wie Physik, Mathematik und allgemein die Wissenschaften, die auf beweisbaren Thesen beruhen. Zu den nicht exakten Wissenschaften gehören die Sozialwissenschaften, in denen die subjektive Bewertung, die selektive Erfassung und die Berücksichtigung von Zusammenhängen eine sehr wichtige Rolle spielen. Diese subjektive und sehr selektive Erfassung von Fakten und Zusammenhängen können wir bei der internationalen Bewältigung des Ukraine-Konflikts ab 2014 und des Krieges ab 2022 beobachten.
Stellen Sie sich vor, ein Mann wird ins Krankenhaus gebracht, weil er große Schmerzen hat. Die Behandlung wird eingeleitet, Medikamente werden verabreicht, aber die Angehörigen verschweigen das eigentliche Problem: die Person hat eine kleine Drahtbürste verschluckt. Sie tun es aus moralischem Selbstschutz, da es solche Idioten in ihrer Familie nicht geben kann.
Ich denke, es ist klar: Solange die Ärzte nicht mit den Instrumenten der exakten Wissenschaften zur Erkenntnis der Grundsituation kommen, hat der Patient keine Chance auf Überleben oder Genesung, während er selbst und seine Angehörigen aus moralischen Gründen die Grundsituation nicht beleuchten wollen. Wir sehen diese Situation heute in der Ukraine, wo die Wurzeln des Problems schon seit vielen Jahren nicht behandelt werden.
Was ist das Grundproblem der Ukraine?
Es ist einfach so, dass die NATO im Jahr 2008 die staatliche Souveränität und die immerwährende Neutralität der Ukraine verletzt hat. Jeder falsche Schachzug, der seitdem gemacht wurde, basiert auf diesem strategischen Fehler. Die NATO ist „ein kranker Mann“ (er hat eine Drahtbürste verschluckt), der die Europäische Union mit sich in den Abgrund reißt; sie führt einen Krieg um die Ukraine in mehreren Dimensionen, indem sie jeden Monat in Ramstein (Deutschland) neue „Behandlungen“ beschließt, sich aber weigert, sich der grundlegenden Situation zu stellen.
Natürlich erfordert es ein verantwortungsbewusstes Urteilsvermögen, solche Behauptungen niederzuschreiben. Denn die gesamte NATO-Kommunikationsmaschinerie sowie Hunderte von Forschungsinstituten und Zehntausende von Journalisten aus 32 NATO-Mitgliedstaaten arbeiten daran, dass niemand zu Schlussfolgerungen kommt, die dem vom kollektiven Westen seit Jahren erzählten Narrativ „Russlands unprovozierte Aggression gegen die Ukraine“ nicht nur widersprechen, sondern es auch im Kern widerlegen.
Der ukrainische Präsident hält die Unterzeichnung des Budapester Memorandums für einen Fehler und nimmt eine ähnliche Haltung gegenüber der Unterzeichnung der Minsker Vereinbarungen ein, deren Umsetzung er während seiner Präsidentschaft ab 2019 ignoriert und dann offen abgelehnt hat, obwohl der UN-Sicherheitsrat dies – die friedliche Wiedereingliederung der Separatistengebiete – im Jahr 2015 einstimmig beschlossen hatte.
Mit anderen Worten: Die Ukraine kämpft heute mit Unterstützung der NATO-Länder um die Rücknahme von Gebieten, deren friedliche Wiedereingliederung sie im Zeitraum von 2014 bis 2022 abgelehnt hat. Damit hielt Kiew Zustände für Millionen seiner ethnisch russischen Bürger aufrecht, die Russland als Mutterland nicht länger dulden wollte. (Wir kennen solche Beispiele: Die NATO drückte auch ihre Unzufriedenheit mit dem Schicksal der Kosovo-Albaner in Serbien aus, indem sie das Land 1999 ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrats bombardierte).
Welche Argumente sprechen für die Verletzung der Souveränität und Neutralität der Ukraine durch die NATO 2008?
Schauen wir uns die konkrete, nachweisbare Vorgeschichte des Ukraine-Krieges an, die mit den Mitteln der (nicht exakten) Sozialwissenschaften untersucht werden.
Die formale Logik der Leser reicht aus, um die Ursachen und Folgen zu klären, um die Fragen zu beantworten:
Was hat die NATO ignoriert?
Ist es vor diesem Hintergrund verständlich, dass die NATO mit ihrer am 3. April 2008 in Bukarest verabschiedeten Erklärung (Punkt 23), wonach die Ukraine (und Georgien) NATO-Mitglieder werden sollen, die souveräne Staatlichkeit der Ukraine verletzt hat? Denn:
„Es ist bezeichnend, dass Anfang 2008 nur ein Viertel bis höchstens ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung die Mitgliedschaft des Landes in der NATO unterstützte. […] Diese Zurückhaltung gegenüber einer NATO-Mitgliedschaft in der Ukraine ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Mehrheit der ukrainischen Gesellschaft befürchtet, dass der Beitritt zur militärischen Organisation der westlichen Welt die russisch-ukrainischen Beziehungen stark belasten wird. So schwerwiegend, dass die Folgen direkte Auswirkungen auf das tägliche Leben eines bedeutenden Teils der politischen Gemeinschaft haben werden.“
Die Zeit hat Zoltan Sz. Bíró recht gegeben: Der Krieg in der Ukraine dauert nun schon drei Jahre an und sein Ende ist nicht abzusehen, aber der denkende Mensch kann seine Ursachen entdecken, auch wenn die Mainstream-Medien davon ablenken.
Wie hat die NATO die Eskalation weiter vorangetrieben?
In der auf dem NATO-Gipfel in Washington im Juli 2024 verabschiedeten Erklärung wurde bekräftigt, dass der euro-atlantische Integrationsprozess der Ukraine, einschließlich der NATO-Mitgliedschaft, unumkehrbar ist. (Sprich: Wir sagen dem Arzt immer noch nicht, dass wir die Drahtbürste verschluckt haben.)
Ähnlich wie bei der Bukarester NATO-Erklärung von 2008 geht es auch bei der Washingtoner NATO-Erklärung von 2024 nicht um die europäische Stabilität und die Beendigung des europäischen Krieges, der die globale Sicherheit bedroht. Die NATO hat mit dem ersten Beschluss 2008 einen Fehler begangen und ihn mit dem zweiten 2024 noch übertroffen.
Am 22. Februar 2014 fand ein verfassungswidriger Machtwechsel in der Ukraine statt, der vom Westen unterstützt, koordiniert und niemals sanktioniert wurde. (Der Grund ist klar: Die Führungsmacht der NATO hatte kein Interesse an einem Staatsoberhaupt, einer Regierung und einem Parlament, die die Neutralität der Ukraine unterstützten.) Wenn wir die Fakten zusammentragen und sie systematisch darstellen, können wir zu dem Schluss kommen, dass die NATO zu dem Zeitpunkt, als Russland die Krim nach dem Referendum vom 16. März 2014 als russisches Hoheitsgebiet anerkannte (und damit gegen das Budapester Memorandum über die Achtung der ukrainischen Staatsgrenzen verstieß), die Souveränität der Ukraine bereits in zwei Fällen nicht respektiert hatte.
Die NATO hat die Souveränität der Ukraine 2008 nicht respektiert, als sie die Ukraine als künftiges NATO-Mitglied trotz aller gegenteiligen Argumente als neutrales und bündnisfreies Land bezeichnete, und sie hat sie 2014 nicht respektiert, als NATO-Länder an der verfassungswidrigen Übernahme eines demokratisch gewählten Staatsoberhaupts, einer Regierung und eines Parlaments beteiligt waren.
Präsident Wolodymyr Selenskyj beschimpfte die Verfasser und Unterzeichner des Budapester Memorandums in einem am 5. Januar veröffentlichten Interview, das erhebliche Gegenreaktionen hervorrief. Es waren jedoch die Dokumente und Rechtsnormen vorhanden, die es der Ukraine ermöglichten, als souveränes, neutrales und nichtmilitärisches Land ihre Rolle als Brücke zwischen Ost und West effektiv zu nutzen, und zwar nach einem Entwicklungsmodell, das die Väter der ukrainischen Staatlichkeit in Unabhängigkeitserklärungen und eine Verfassung verankerten und das vom ukrainischen Volk in einem Referendum im Jahr 1991 mit einer Mehrheit von über 90 Prozent bestätigt wurde.
Sind die Gründe für den Krieg im Budapester Memorandum zu finden?
Die Ursachen des Krieges liegen nicht in der ukrainischen Unabhängigkeitserklärung, der ukrainischen Verfassung, dem Budapester Memorandum oder den Minsker Vereinbarungen, die vom UN-Sicherheitsrat gebilligt wurden, sondern bei den Politikern, die diese Dokumente und die wiederholt geäußerte Meinung des ukrainischen Volkes ignorieren. Diese Politiker leben in NATO-Ländern und in der Ukraine.
Um den Krieg in der Ukraine zu beenden und die europäische Sicherheitsarchitektur wieder aufzubauen, wäre es ratsam, zu den Grundlagen zurückzukehren (dem Arzt gestehen, dass wir eine Drahtbürste verschluckt haben). Dies ist für viele eine schwierige oder unmögliche Aufgabe, da es erfordern würde, Fehler zuzugeben, die die Kräfte des sektiererischen Atlantizismus in der westlichen Welt schwächen würden. Diese Politiker und Experten können nicht akzeptieren, dass die buchstäbliche Kernfunktion der NATO die kollektive Verteidigung ist und nicht die kollektive Provokation anderer geopolitischer Akteure oder ein kontinuierlicher militärischer Vormarsch gegen andere, egal wie tränenreich die moralischen Argumente sind, die wir um das Ziel herum führen.
Europäische Stabilität, die von allen europäischen Akteuren gefordert wird und nur kollektiv aufrechterhalten werden kann, und die geopolitische Expansion eines ausschließlich globalen Akteurs durch die permanente Erweiterung der NATO sind unvereinbar und können nicht als parallele Ziele ohne Krieg erreicht werden.
Titelbild: Shutterstock / Rokas Tenys
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