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Titel: Soziale Orte vor dem Aus – derweil schwadronieren die verantwortlichen Politiker in ihren Neujahrsreden von Zusammenhalt …

Datum: 11. Januar 2025 um 10:00 Uhr
Rubrik: Finanzpolitik, Schulden - Sparen
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Geht es Ihnen nicht auch so in diesen unsäglichen Zeiten des andauernden Vertrauensverlusts gegenüber Politikern, Entscheidungsträgern, Medien, Experten usw., dass Sie denken, dass es immer noch ein bisschen schlimmer geht? Gerade erlebte ich dieses Gefühl durch eine besondere Art von Schizophrenie politischer Schwafelei in diversen Neujahresreden, deren Inhalt sofort von der Realität einkassiert wurde. Im Freistaat Sachsen säuselte der alte und neue Landesvater seinem Volk etwas von Zusammenhalt zu. In Berlin legte der Bundeskanzler ähnlich nach. Ja, 2025, alles werde gut. Daheim in der sächsischen Heimat machen sie (die Politiker) jedoch soziale Treffpunkte zu, kündigen Mitarbeiter, stellen Theater infrage. Die Großkopferten zucken nach der Festrede zum Neujahr mit den Schultern und reden falsches Zeug: Tja, liebe Mitbürger, Sie wissen ja, das liebe Geld. Doch wenn wir zusammenhalten … Ein Zwischenruf von Frank Blenz.

Soziale Villa mitten in einer vogtländischen Stadt macht dicht

Was ich in der hiesigen Lokalzeitung Freie Presse zwischen den Jahren und vor allem nach der Lektüre der optimistischen, vor Hoffnung triefenden Neujahrsrede des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) las, rief bei mir ein Kopfschütteln heftiger Ausprägung hervor, weil ich einen berechtigten und plausiblen Zusammenhang zwischen Rede und Vorkommnis herstellte. Das Vorkommnis: In meiner Heimatstadt Plauen wurde 2024 mit der „Sozialen Villa” mitten im Zentrum ein soziokultureller Anlaufpunkt für junge Menschen geschaffen. Das geschieht in einer Zeit, in der in vielen Städten soziale Brennpunkte Alltag sind, in der die Kriminalität steigt, das Sicherheitsgefühl der Bürger abnimmt, die Konflikte aber nicht. Diese Villa, genauer ein schlichter, halbwegs sanierter Flachbau aus den 1960er-Jahren (gleich hinter dem Theater) als Treffpunkt für ein Miteinander, für Zusammenhalt wird dennoch nun wohl wieder geschlossen.

In der Zeitung sagte dazu der für das Ressort Kultur und Soziales zuständige Mann im Rathaus: „Es gibt hier leider keine gute Entwicklung“, so Sozialbürgermeister Tobias Kämpf (CDU). Der Grund: Im sogenannten vorläufigen sächsischen Landeshaushalt sei die Förderung „Soziale Orte“, mit deren Hilfe auch das Projekt „Soziale Villa“ bislang gestemmt wurde, nicht (mehr) berücksichtigt worden. Dabei seien eigentlich drei Jahre in Aussicht gestellt worden, so Kämpf weiter. Der CDU-Kommunalpolitiker aus der sächsischen Provinz legte in der Presse nach, indem der davon erzählte, dass er vergangenes Jahr 2024 der damals noch amtierenden Ministerin Petra Köpping (SPD) schrieb, wohl ahnend, dass die Finanzierung „wackelt“. Und tatsächlich: Im Juli 2024 war die emsige Frau dann zwar in Plauen, auf ihrer Wahlkampftour. In der Stadt standen überall große Plakate mit ihrem Bild und der Unterschrift: Die Richtige. Zu ihrem Gefallen.

Genutzt hat Kämpfs Brief nix. Köpping handelte nicht. Das große Plakat für Petra hat wohl aber doch etwas genutzt – der Politikerin. Denn Köpping ist wieder Ministerin und dazu jetzt sogar Vizeministerpräsidentin. Derweil ist die Villa wohl Geschichte, die Personalkosten für zwei Mitarbeiter brauchen nicht aufgebracht zu werden, die ohnehin fragile berufliche Perspektive der sicher sehr engagierten Mitarbeiter vorerst futsch. Was bleibt anderes übrig, als dass der ideelle Träger des Projekts, die evangelische Kirche, überlegt – wie so oft in unserem reichen Land –, die Geschichte irgendwie ehrenamtlich fortzusetzen? Hier kommt mir Herr Kretschmer wieder in den Sinn, der in seiner Rede für 2025 auch von ebensolchen kostenlosen Kräften, von den Menschen an der Basis, in den Familien usw. schwärmt. Die werden ja zahlreich gebraucht, so mein Gedanke, denn die Lokalpresse erwähnte dazu passend noch, dass 60 soziale Orte in Sachsen betroffen seien.
(Quelle: Freie Presse)

Der sächsische Landesvater überschlägt sich beim Phrasendreschen

Wenn ein Politiker nichts anzubieten hat, weil die Ausrichtung seiner Politik allein dem Sparen, dem realen Rückschritt, dem sturen Durchsetzen von Interessen einiger Weniger dient, müssen halt Pathos und die versuchte Vereinnahmung der vielen her. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer hat in seiner Neujahrsansprache also aus Mangel an eigenen echten Angeboten Werte angesprochen, die in der Basisgesellschaft auch ganz ohne Spitzenpolitiker beschriebener Ausprägung daheim sind: Offenheit und Zusammenhalt. Kretschmer formuliert kalkuliert und billig Dinge, die nichts kosten, zusammengefasst in der Zeitung Merkur zu lesen:

„Gehen wir aufeinander zu, helfen wir einander, in der Familie, der Nachbarschaft, im Kollegenkreis, im Sportverein“, sagt der CDU-Politiker in seiner Ansprache aus Chemnitz, der Kulturhauptstadt Europas 2025, die am 1. Januar im Mitteldeutschen Rundfunk ausgestrahlt werden soll.

Und ohne große Mühe verweist er halt auf Herausforderungen und Einschränkungen, die genau betrachtet (Ursache-Wirkung) ihren Ausgangspunkt in der Politik haben bzw. deren Folge sind:

Gleichzeitig verwies Kretschmer auf die aktuellen Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft und die finanziellen Einschränkungen des Freistaates im neuen Jahr. „Die wirtschaftliche Situation unseres Landes ist aber nicht schicksalsgegeben“, betonte er. Sachsen habe schon mehrfach einen wirtschaftlichen Aufschwung geschafft.

Schließlich packt Kretschmer die Phrasen-Bazooka aus:

Die Staatsregierung werde alles tun, um eine Trendwende zu erreichen. „Wir stehen für ein freundliches, strahlendes, ein optimistisches Sachsen“, sagte Kretschmer. Die Generation der friedlichen Revolution von 1989 sei heute die Elterngeneration. „Sie können den Aufbruchgeist von damals weitergeben. Die Offenheit, das Anpacken, das Machen.“ Dabei komme es auf die Haltung jeder und jedes Einzelnen an. dpa
(Quelle: Merkur)

Weit und breit keine Rede des Aufbruchs, der echten Investitionen in die Zukunft

Ja, wortreich sind sie stets, diese Reden aktueller Führungspolitiker wie Kretschmer zum Jahreswechsel. Dabei vermeiden die Vortragenden stets, sich rechenschaftsfähig aus dem Fenster zu lehnen und dem Publikum wirklich Hoffnung zu machen mit sachlichen, inhaltsreichen, substanziellen Aussagen. Mit einem gestelzten Wortreichtum bauen sie eine Illusion in all der Feierlaune auf, die sich in Wahrheit als dreiste Inhaltsarmut erweist. Sich verpflichten tun sie nicht. Diese Redner machen es sich sehr einfach, so wie sie es dazu auch hinterlistig anstellen: indem sie die einfachen Leute vor ihren Karren spannen, sich dazugesellen und behaupten, man müsse nur zusammenstehen, dann schaffen wir das schon. Nur was? Kein Wort ist dagegen von ihrem möglichen, nötigen, geforderten eigenen professionellen Engagement, von ihren Investitionen, von ihren immensen Machtmöglichkeiten zu vernehmen. Kein Wort darüber ist zu hören, dass der politische Wille von politischen Entscheidungsträgern durchaus der Schlüssel für gute (!) Entscheidungen sein kann, also für die Menschen, uns, die wir ja Gemeinschaft sind und nebenbei auch ohne all die Politiker zusammenhalten können.

Wo bleiben die Forderungen dieser Politprofis nach ordentlichen, ausreichenden Finanzen (statt Fördermittel-Willkür) für all die Menschen, die Kretschmer so väterlich aufzählt: Familie, Nachbarschaft, Kollegenkreis, in den Vereinen? Und für viele weitere Menschen, die er anspricht.

Ich lese kein Wort von einer handfesten Forderung Richtung Berlin nach einem echten sozialen Wechsel in der Politik, einer festen, klaren Forderung nach Frieden. Schuldenbremse weg, einen großen Investitionsplan, keine Kürzungen in den Bereichen Soziales, Kultur, Sport, Kommunen usw. Im Gegenteil: Kretschmer und Co. nehmen Worte wie Schuldenbremse, Kürzungen, Umverteilung, Hochrüstung in ihren Reden erst gar nicht in den Mund.

Warum aber findet kein Gegenteil statt? Warum wird den Bürgern verkauft, dass sie all diese völlig unnötigen „finanziellen Einschränkungen“ hinnehmen sollen, die sie selbst nicht einmal verursachen? Wir leben in einem reichen Land, in einem Land, in dem einige Menschen sogar noch reicher und noch reicher werden, nicht wenige andere indes … Wir schließen am Ende lieber Theater, so wie in meiner Heimatstadt.

Noch ein paar Worte vom scheidenden Bundeskanzler Scholz

Kanzler Olaf Scholz sagte Worte, die für mich ähnlich wie bei Michael Kretschmer klangen und die so opportunistisch wie folgenlos dahergeredet kommen: „Wir sind ein Land, das zusammenhält. Unser Zusammenhalt macht uns stark.“ Dass es nicht so gut laufe, da hat Scholz etwas parat, er weist auf die schwache Wirtschaftslage, auf – unser Pech – hohe Preise und auf den anhaltenden Krieg in der Ukraine hin. Was dagegen zu tun ist, sagt er nicht. Moment. Doch: Zusammenhalten sollen wir. Da kommt mir seine Vorgängerin in den Sinn und ihr Spruch „Wir schaffen das“. Darüber habe ich in diesem Beitrag auf den NachDenkSeiten geschrieben.

Wir Sachsen, wir sind helle …, doch …

Es könnte sein, dass Ministerpräsident Michael Kretschmer beim Aufsetzen seiner Rede zum Jahresende den umwerfenden Spruch von Schauspieler Wolfgang Stumph über die Sachsen im Ohr hatte: „Mir Sachsen, mir sin helle, das wees de ganze Weld, und simmor ma ni helle, dann hammor uns verschdelld.“ Ich will ihm gern glauben, wenn er formulierte:

„Wir stehen für ein freundliches, strahlendes, ein optimistisches Sachsen.“

Eine pessimistische Frage: Doch woher sollen die Sachsen, wie alle anderen Bundesbürger auch, diesen Optimismus nehmen bei der gegenwärtigen Politik?

Nachtrag: Im vergangenen September stürzte die Dresdner Carolabrücke ein. Der Sanierungsbedarf war Jahre vorher bekannt. Die Stadt Dresden hatte den Freistaat mehrfach um Fördermittel für die dringend notwendigen Arbeiten gebeten. Das Verkehrsministerium winkte ab. Nun erfährt die Öffentlichkeit Folgendes:

Demnach wandte sich Dresdens Oberbürgermeister Dirk Hilbert im Februar 2019 in einem Brief an Minister Dulig, um Landesfördermittel für dringend benötigte Brückensanierungen zu erbitten, nachdem das Landesamt für Straßenbau und Verkehr aus Geldgründen allen Vorhaben eine Absage erteilt hatte. „Auch die Genehmigung des förderunschädlichen vorzeitigen Baubeginns wird ausgeschlossen”, schilderte Hilbert dem Minister.
(Quelle: n-tv)

Wie war das gleich nochmal, Herr Ministerpräsident? Ach so: „Wir stehen für ein freundliches, strahlendes, ein optimistisches Sachsen.“

Titelbild: PeopleImages.com – Yuri A/shutterstock.com


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