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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Dokumentation der Hölle, des Genozids an der palästinensischen Bevölkerung in Gaza
Datum: 6. Januar 2025 um 15:16 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Medienkritik, Militäreinsätze/Kriege, Strategien der Meinungsmache, Wertedebatte
Verantwortlich: Albrecht Müller
Selbst wenn Gaza jetzt in deutschen Medien so gut wie keine Rolle mehr spielt … Der israelische Historiker Lee Mordechai hat die Abgründe dieser Hölle in einer ausführlichen Dokumentation bis inkl. Ende 2024 zusammengestellt. Dieses Grauen ist nicht zu ertragen. Aber es ist notwendig, dies zu dokumentieren. Siehe hier. Zu Ihrer Information unter Teil A. die Zusammenfassung des Textes, übersetzt von Susanne Hofmann, und unter Teil B. eine Dokumentation von Haaretz. Albrecht Müller.
Teil A.:
Die Dokumentation von Lee Mordechai
Die Zusammenfassung, von Susanne Hofmann auf Bitten der Redaktion der NachDenkSeiten übersetzt. Danke vielmals:
Ich, Lee Mordechai, Historiker und israelischer Staatsbürger, äußere mich in diesem Dokument vom 29. November 2024 als Zeuge der Situation in Gaza, die weiterhin im Fluss ist.
Die Berge an Beweismaterial, die ich gesehen habe – Vieles davon findet sich im Anhang dieses Dokuments – reichen aus, um mich zu dem Schluss kommen zu lassen, dass Israel einen Genozid an der palästinensischen Bevölkerung in Gaza begeht. Ich erkläre weiter unten, weshalb ich diesen Begriff verwende. Israels Militäreinsatz ist angeblich seine Reaktion auf das Hamas-Massaker am 7. Oktober 2023, als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt wurden im Kontext des langjährigen Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern, der bis zum Jahr 1917 oder 1948 zurückreicht.
Keinesfalls rechtfertigen historische Missstände Grausamkeiten in der Gegenwart. Deshalb betrachte ich Israels Antwort auf die Hamas-Taten am 7. Oktober als vollkommen überzogen und verbrecherisch. Die Absätze dieser Kurzversion enthalten die Zusammenfassung der viel längeren Abschnitte unten, je ein Absatz für einen Abschnitt.
Jeder Abschnitt unten enthält Dutzende bis Hunderte Quellen, die die Grundlage meiner Bewertung bilden. Diese Version des Dokuments ist eine deutliche Erweiterung der vorigen Fassung vom 18. Juni 2024. (…)
Im Laufe des vergangenen Jahres hat Israel wiederholt Palästinenser in Gaza massakriert und mehr als 44.000 von ihnen getötet – mindestens 60 Prozent Frauen, Kinder und ältere Menschen.
Mindestens hunderttausend weitere wurden verletzt und mehr als 10.000 sind noch verschollen. Es liegen umfangreiche Belege für Israels willkürliche und unverhältnismäßige Attacken in diesem Krieg vor, ebenso wie viele Beispiele für Massaker und andere Tötungen. Viele internationale Institutionen haben Israels Kriegsführung scharf kritisiert. Israel hat aktiv versucht, den Tod der Zivilbevölkerung von Gaza herbeizuführen.
Israel hat eine Hungersnot in Gaza erzeugt und benutzt sie als Kriegswaffe. Dies führte zum bestätigten Hungertod dutzender Zivilisten, vor allem von Kindern. Israel verknappte Wasser, Medikamente und Strom. Israel zerstörte das Gesundheitssystem und die zivile Infrastruktur in Gaza. Deshalb sterben mehr Menschen an behandelbaren Erkrankungen, und schwierige medizinische Eingriffe wie Amputationen und Kaiserschnitte werden ohne Betäubung durchgeführt.
Die Gesamtsterblichkeit in Gaza liegt im Dunkeln, aber sie ist mit ziemlicher Sicherheit höher als die offizielle Zahl der Todesopfer. Der israelische Diskurs entmenschlicht die Palästinenser, so dass die große Mehrheit der israelischen Juden die eben genannten Maßnahmen befürwortet. Israels hochrangigste Staatsvertreter haben die Entmenschlichung betrieben, sie wird nach wie vor durch die staatliche Infrastruktur und das Militär unterstützt.
Die Entmenschlichung herrscht auch in der Zivilgesellschaft vor. Über Palästinenser in einer völkermörderischen Sprache zu sprechen, ist im israelischen Diskurs zulässig. Die Entmenschlichung führt dazu, dass es gang und gäbe ist, inhaftierte Palästinenser und die Zivilbevölkerung von Gaza zu misshandeln und ihr Eigentum zu zerstören – und das alles praktisch ohne Folgen für die Täter.
Die meisten entmenschlichenden Inhalte werden von den Israelis selbst geteilt und durch palästinensische Zeugenaussagen bestätigt. Das Beweismaterial, das ich gesehen habe, weist darauf hin, dass es eines von Israels wahrscheinlichen Zielen ist, den Gazastreifen ethnisch zu säubern, teilweise oder ganz, indem man möglichst viele Palästinenser von dort entfernt.
Wichtige Mitglieder der israelischen Regierung bestätigen diese Absicht in ihren Aussagen, und mehrere Ministerien arbeiten auf dieses Ziel hin, bisweilen indem sie auf andere Staaten Druck ausüben. Israel hat bereits weite Teile des Gazastreifens geräumt, indem es sie zerstört und mit Bulldozern plattgemacht hat. Dabei hat Israel auch versucht, die palästinensische Gesellschaft zu zerstören, indem es gezielt zivile Einrichtungen wie Universitäten, Bibliotheken, Archive, religiöse Gebäude, historische Stätten, Bauernhöfe, Schulen, Friedhöfe, Museen und Märkte beschossen hat.
Bisher sind mehr als 60 Prozent der Gebäude im Gazastreifen zerstört oder beschädigt worden. Eines der Kriegsziele ist laut israelischer Regierung die Befreiung der Geiseln – von denen noch rund hundert von der Hamas gefangen gehalten werden. Belege zeigen, dass dieses Ziel im Vergleich zur ethnischen Säuberung eine geringe Priorität für die israelische Regierung hat. Bis heute hat Israel mittels Militäroperationen sieben Geiseln befreit und viele andere Geiseln direkt oder indirekt durch seine Einsätze getötet.
Außerdem gibt es viele Belege dafür, dass Israel die Verhandlungen zur Befreiung der Geiseln mehrmals ins Stocken kommen ließ oder sie zu behindern versuchte. Mitglieder der israelischen Regierung haben auch die Familien der Geiseln angegriffen, und regierungsnahe Personen haben versucht, sie zum Schweigen zu bringen. Der weltweite Fokus auf Gaza, bisweilen auf den Libanon, den Iran und Syrien, hat die Aufmerksamkeit von der Westbank abgelenkt.
Dort haben Einsätze durch das israelische Militär oder Siedler seit dem Beginn des Krieges zur Tötung von mehr als 700 Palästinensern, zur ethnischen Säuberung von mindestens 20 lokalen Gemeinschaften und zu einem drastischen Anstieg der Gewalt sowie des Missbrauchs und der Demütigung von Palästinensern vonseiten des israelischen Staates und jüdischen Siedlern geführt. All dies wurde durch die starke Unterstützung der meisten Medien in Israel und im Westen, vor allem in den USA, Großbritannien und Deutschland, ermöglicht.
Vom Beginn des Krieges an hat Israel eine Informationskampagne geführt, welche die Gräuel der Angriffe des 7. Oktober hervorhob, mit zuverlässigen und unbelegten Behauptungen, mit der Einschränkung des Informationsflusses aus Gaza, der Diskreditierung kritischer Stimmen außerhalb Israels und der Einschränkung des innerisraelischen Diskurses, um die israelische Öffentlichkeit für den Krieg zu gewinnen.
Das resultiert darin, dass die israelischen Medien und der israelische Diskurs weiterhin überwiegend kritiklos für den Krieg sind und sich viele Institutionen und Individuen selbst zensieren. Mit den US-Mainstreammedien verhält es sich ähnlich. Gründliche Recherchen zur israelischen Hetzkampagne gegen UNRWA und das ständige Anzweifeln der palästinensischen Todeszahlen zeigen, dass wir es in beiden Fällen mit substanzloser Propaganda zu tun haben.
All dies führt dazu, dass israelische Gewalt und israelisches Handeln als normal und legitim dargestellt und die Aufmerksamkeit von der Realität in Gaza abgelenkt wird und trägt somit dazu bei, die Palästinenser zu entmenschlichen. Die nahezu bedingungslose Unterstützung der USA ist wesentlich für die israelische Kriegsführung. Diese Unterstützung erfolgte in Form von Militärhilfe, der Stationierung von US-Militär, eiserner diplomatischer Unterstützung, insbesondere bei den Vereinten Nationen, und indem man Israel von den Mechanismen der US-Aufsicht und ernstzunehmender Rechenschaftspflicht befreite.
Trotz bisweilen kritischer Rhetorik haben die USA Israel de facto beispiellos unterstützt. Andersdenkende in den USA – seien es Regierungsmitarbeiter oder auch große Gruppen in der US-Gesellschaft – hatten wenig bis gar keinen Einfluss auf die US-Politik. Ich untersuche insbesondere drei Ereignisse näher: Die zweite Razzia im al-Shifa-Krankenhaus Ende März 2024. Die Studentenproteste in den USA im April und Mai 2024. Die Militäroperation im nördlichen Gazastreifen im Oktober und November 2024, die noch immer im Gange ist. Die Belege, die ich gesehen und beschrieben habe, reichen für mich aus, zu dem Schluss zu kommen: Das, was Israel derzeit der palästinensischen Bevölkerung in Gaza antut, stimmt mit der Definition von Völkermord, wie ich sie verstehe, überein. In den beiden Anhängen des Dokuments erläutere ich meine Gründe für die Verwendung dieses Begriffs und diskutiere meine Methodik.
Teil B
A Massive Database of Evidence, Compiled by a Historian, Documents Israel’s War Crimes in Gaza
A woman with a child is shot while waving a white flag ■ Starving girls are crushed to death in line for bread ■ A cuffed 62-year-old man is run over, evidently by a tank ■ An aerial strike targets people trying to help a wounded boy ■ A database of thousands of videos, photos, testimonies, reports and investigations documents the horrors committed by Israel in Gaza
Nir Hasson
Dec 5, 2024
(…)
Ins Deutsche übertragen:
Eine von einem Historiker zusammengestellte umfangreiche Datenbank mit Beweisen dokumentiert Israels Kriegsverbrechen in Gaza
Eine Frau mit Kind wird erschossen, während sie eine weiße Fahne schwenkt ■ Hungernde Mädchen werden in der Schlange für Brot zu Tode gequetscht ■ Ein gefesselter 62-jähriger Mann wird überrollt, offensichtlich von einem Panzer ■ Ein Luftangriff zielt auf Menschen, die versuchen, einem verletzten Jungen zu helfen ■ Eine Datenbank mit Tausenden von Videos, Fotos, Zeugenaussagen, Berichten und Untersuchungen dokumentiert die von Israel in Gaza begangenen Gräueltaten
Nir Hasson, 5. Dezember 2024
Die Fußnote Nr. 379 des sorgfältig recherchierten, umfangreichen Dokuments, das der Historiker Lee Mordechai verfasst hat, enthält einen Link zu einem Videoclip. Das Filmmaterial zeigt einen großen Hund, der inmitten von Büschen an etwas nagt. “Wai, wai, er hat den Terroristen mitgenommen, der Terrorist ist weg – weg im doppelten Sinne”, sagt der Soldat, der gefilmt hat, wie der Hund einen Leichnam frisst. Nach ein paar Sekunden hebt der Soldat die Kamera und fügt hinzu: “Aber was für ein herrlicher Anblick, ein herrlicher Sonnenuntergang. Eine rote Sonne geht über dem Gaza-Streifen unter”. Auf jeden Fall ein schöner Sonnenuntergang.
Der Bericht, den Dr. Mordechai online zusammengestellt hat – “Bearing Witness to the Israel-Gaza War” – ist die methodischste und detaillierteste Dokumentation in hebräischer Sprache (es gibt auch eine englische Übersetzung) über die Kriegsverbrechen, die Israel in Gaza begeht. Es ist eine schockierende Anklageschrift mit Tausenden von Einträgen über den Krieg, die Handlungen der Regierung, der Medien, der israelischen Verteidigungskräfte und der israelischen Gesellschaft im Allgemeinen. Die englische Übersetzung der siebten und bisher letzten Fassung des Textes ist 124 Seiten lang und enthält über 1.400 Fußnoten, die sich auf Tausende von Quellen beziehen, darunter Augenzeugenberichte, Videomaterial, Untersuchungsmaterial, Artikel und Fotos.
So gibt es beispielsweise Links zu Texten und anderen Zeugnissen, in denen Handlungen beschrieben werden, die IDF-Soldaten zugeschrieben werden, die gesehen wurden, wie sie auf Zivilisten schossen, die weiße Fahnen schwenkten, wie sie Personen, Gefangene und Leichen misshandelten, wie sie fröhlich Häuser, verschiedene Strukturen und Einrichtungen, religiöse Stätten beschädigten oder zerstörten und persönliche Gegenstände plünderten, wie sie wahllos ihre Waffen abfeuerten, wie sie auf einheimische Tiere schossen, wie sie Privateigentum zerstörten, wie sie Bücher in Bibliotheken verbrannten, wie sie palästinensische und islamische Symbole verunstalteten (einschließlich der Verbrennung von Koranen und der Verwandlung von Moscheen in Speiseräume).
Ein Link führt die Leser zu einem Video, das einen Soldaten in Gaza zeigt, der ein großes Schild aus einem Friseursalon in der Stadt Yehud in Zentralisrael schwenkt, während um ihn herum Leichen verstreut sind. Andere Links führen zu Aufnahmen von Soldaten, die im Gazastreifen eingesetzt sind und das Buch Esther lesen, wie es am Purimfest üblich ist, aber jedes Mal, wenn der Name des bösen Haman fällt, schütteln sie nicht einfach die traditionellen Krachmacher, sondern feuern eine Mörsergranate ab. Ein Soldat ist zu sehen, wie er gefesselte Gefangene mit verbundenen Augen zwingt, seine Familie zu grüßen und zu sagen, dass sie seine Sklaven sein wollen. Soldaten werden mit Geldstapeln fotografiert, die sie aus Häusern in Gaza geplündert haben. Man sieht einen IDF-Bulldozer, der einen großen Haufen Lebensmittelpakete einer humanitären Hilfsorganisation zerstört. Ein Soldat singt das Kinderlied “Nächstes Jahr brennen wir die Schule ab” – während im Hintergrund eine Schule in Flammen steht. Und es gibt zahlreiche Clips, in denen Soldaten geplünderte Frauenunterwäsche vorführen.
Die Fußnote Nr. 379 erscheint in einem Unterabschnitt mit dem Titel “Entmenschlichung in den IDF”, der zu dem Kapitel “Israelischer Diskurs und Entmenschlichung der Palästinenser” gehört. Es enthält Hunderte von Beispielen für das grausame Verhalten der israelischen Gesellschaft und der staatlichen Institutionen gegenüber den leidenden Bewohnern des Gazastreifens – von einem Premierminister, der von Amalek spricht, über die Zahl von 18.000 Aufrufen von Israelis in den sozialen Medien, den Gazastreifen platt zu machen, bis hin zu israelischen Ärzten, die die Bombardierung von Krankenhäusern in Gaza unterstützen, bis hin zu einem Komiker, der Witze über den Tod von Palästinensern macht, und einem Kinderchor, der zur Melodie des kultigen Liedes “Shir Hare’ut” (Lied der Kameradschaft) aus der Zeit des Unabhängigkeitskrieges singt: “Innerhalb eines Jahres werden wir alle vernichten und dann werden wir zurückkehren, um unsere Felder zu pflügen”.
Die Links in “Bearing Witness to the Israel-Gaza War” führen auch zu grafischen Aufnahmen von Leichen, die in allen möglichen Zuständen verstreut sind, von Menschen, die unter Trümmern erdrückt wurden, von Blutlachen und von den Schreien von Menschen, die in einem Augenblick ihre ganze Familie verloren haben. Es gibt Belege für die Tötung von Behinderten, Demütigungen und sexuelle Übergriffe, das Abfackeln von Häusern, erzwungenen Hunger, willkürliche Erschießungen, Plünderungen, Missbrauch von Leichen und vieles mehr.
Auch wenn nicht jedes einzelne Zeugnis bestätigt werden kann, so ergibt sich doch das Bild einer Armee, die im besten Fall die Kontrolle über viele Einheiten verloren hat, deren Soldaten taten, was ihnen gerade in den Sinn kam, und die im schlimmsten Fall zulässt, dass ihr Personal die grausamsten Kriegsverbrechen begeht, die man sich vorstellen kann.
Mordechai führt Beweise für die entsetzlichen Zwangslagen an, in die der Krieg die Menschen im Gazastreifen gebracht hat. Ein Arzt, der seiner Nichte auf dem Küchentisch das Bein amputiert, ohne Betäubung, mit einem Küchenmesser. Menschen, die Pferdefleisch und Gras essen oder Meerwasser trinken, um ihren Hunger zu stillen. Frauen, die gezwungen werden, in einem überfüllten Klassenzimmer zu gebären. Ärzte, die hilflos zusehen, wie Verwundete sterben, weil es keine Möglichkeit gibt, ihnen zu helfen. Hungernde Frauen, die in einer chaotischen Schlange vor eine Bäckerei gedrängt werden; dem Bericht zufolge wurden zwei Mädchen, 13 und 17 Jahre alt, und eine 50-jährige Frau bei diesem Vorfall zu Tode gequetscht.
In den DP-Lagern im Gazastreifen gab es laut “Bearing Witness” im Januar durchschnittlich eine Toilettenkabine für 220 Menschen und eine Dusche für 4.500 Menschen. Zahlreiche Ärzte und Gesundheitsorganisationen berichteten, dass sich Infektionskrankheiten und Hautkrankheiten unter einer großen Zahl von Menschen im Gazastreifen ausbreiten.
Lee Mordechai, 42, ein ehemaliger Offizier des IDF Combat Engineering Corps, ist derzeit Dozent für Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem und spezialisiert auf menschliche und natürliche Katastrophen in der Antike und im Mittelalter. Er hat über die justinianische Pest im 6. Jahrhundert und den vulkanischen Winter, der 536 n. Chr. die nördliche Hemisphäre heimsuchte, geschrieben. Er hat sich dem Thema der Gaza-Katastrophe auf akademisch-historische Weise genähert, mit trockener Prosa und wenigen Adjektiven, wobei er sich der größtmöglichen Vielfalt von Primärquellen bediente; seine Schrift ist frei von Interpretationen und offen für Überprüfung und Revision. Gerade deshalb sind die Gesichter, die sich in seinem Text widerspiegeln, so entsetzlich.
“Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht mehr in meiner Blase leben kann, dass es hier um Kapitalverbrechen geht und dass das, was hier passiert, einfach zu groß ist und den Werten widerspricht, mit denen ich hier aufgewachsen bin”, sagt Mordechai. “Ich bin nicht darauf aus, Leute zu konfrontieren oder zu streiten. Ich habe das Dokument geschrieben, damit es veröffentlicht wird. Damit die Menschen in einem halben Jahr oder in einem Jahr oder in fünf Jahren oder in 10 oder in 100 Jahren zurückblicken und sehen können, dass dies bekannt war, dass es möglich war, dies bereits im Januar oder im März dieses Jahres zu wissen, und dass diejenigen unter uns, die es nicht wussten, sich entschieden, es nicht zu wissen.
“Meine Rolle als Historiker”, so fährt er fort, “besteht darin, denen eine Stimme zu geben, die ihre eigene Stimme nicht erheben können, ob es sich nun um Eunuchen im 11. Ich versuche bewusst, nicht an die Emotionen der Menschen zu appellieren, und verwende keine Worte, die umstritten oder unklar sein könnten. Ich spreche nicht über Terroristen oder über Zionismus oder Antisemitismus. Ich versuche, eine so kalte und trockene Sprache wie möglich zu verwenden und mich an die Fakten zu halten, wie ich sie verstehe.”
Mordechai befand sich auf einem Sabbatical in Princeton, als der Krieg ausbrach. Als er am 7. Oktober aufwachte, war es in Israel bereits Nachmittag. Innerhalb weniger Stunden erkannte er, dass es eine Diskrepanz zwischen dem, was die Öffentlichkeit in Israel sah, und der Realität gab. Dieses Verständnis stammte aus einem alternativen System für den Erhalt von Informationen, das er neun Jahre zuvor für sich selbst geschaffen hatte.
“2014, während der Operation Protective Edge [in Gaza], kehrte ich von meinem Promotionsstudium in den Vereinigten Staaten und von Forschungsarbeiten auf dem Balkan zurück. Damals hatte ich das Gefühl, dass es in Israel keinen offenen Diskurs gab; alle sagten das Gleiche. Also bemühte ich mich bewusst um den Zugang zu alternativen Informationsquellen – [auf der Grundlage von] ausländischen Medien, Blogs, sozialen Medien. Das ähnelt auch meiner Arbeit als Historiker, der Suche nach Primärquellen. So schuf ich für mich eine Art persönliches System, um zu verstehen, was in der Welt passiert. Am 7. Oktober aktivierte ich das System und merkte recht schnell, dass die Öffentlichkeit in Israel eine Verzögerung von Stunden erlebte – Ynet brachte eine Meldung über eine mögliche Geiselnahme, aber ich hatte bereits Clips von Entführungen gesehen. Es entsteht eine Dissonanz zwischen dem, was über die Realität der Situation gesagt wird, und der tatsächlichen Realität, und dieses Gefühl verstärkt sich.”
Der Bericht enthält über 1.400 Fußnoten, die sich auf Tausende von Quellen beziehen. Er beschreibt detailliert, wie israelische Truppen auf Zivilisten schießen, die weiße Fahnen schwenken, Personen, Gefangene und Leichen misshandeln, wahllos ihre Waffen abfeuern, fröhlich Häuser zerstören, Bücher verbrennen und islamische Symbole verunstalten.
Die Diskrepanz zwischen dem, was Mordechai entdeckt hat, und den Informationen, die in den israelischen und ausländischen Medien erscheinen, ist sogar noch größer geworden. “Die bekannteste Geschichte zu Beginn des Krieges war die über die Enthauptung von 40 israelischen Säuglingen am 7. Oktober. Diese Geschichte sorgte für viele Schlagzeilen in den internationalen Medien, aber wenn man sie mit der offiziellen Liste der Getöteten vergleicht, merkt man sehr schnell, dass das nicht passiert ist.”
Mordechai begann, die Berichte aus Gaza in den sozialen Medien und in den internationalen Medien zu verfolgen. “Von Anfang an bekam ich eine Flut von Bildern der Zerstörung und des Leids, und man begreift, dass es zwei getrennte Welten gibt, die nicht miteinander reden. Ich brauchte ein paar Monate, um herauszufinden, was meine Rolle hier war. Im Dezember reichte Südafrika seine formelle Anklage wegen Völkermordes gegen Israel auf 84 detaillierten Seiten mit zahlreichen Verweisen auf Quellen ein, die überprüft werden konnten.
“Ich glaube nicht, dass man alles als Beweis akzeptieren muss”, fügt er hinzu, “aber man muss sich damit auseinandersetzen, sehen, worauf es beruht, und die Implikationen bedenken. Zu Beginn des Krieges wollte ich nach Israel zurückkehren, um ehrenamtliche Arbeit für eine zivilgesellschaftliche Organisation zu leisten, aber aus familiären Gründen konnte ich das nicht. Ich beschloss, die freie Zeit, die ich während des Sabbaticals in Princeton hatte, zu nutzen, um zu versuchen, die Öffentlichkeit in Israel aufzuklären, die nur lokale Medien konsumiert.”
Die erste Version von “Bearing Witness”, gerade einmal acht Seiten lang, veröffentlichte er am 9. Januar. Die Zahl der im Gazastreifen Getöteten lag damals nach Angaben des Gesundheitsministeriums, das offiziell als palästinensisches Gesundheitsministerium Gaza bezeichnet wird, bei 23.210. “Ich glaube nicht, dass das hier Geschriebene zu einer Änderung der Politik führen oder viele Menschen überzeugen wird”, schrieb er zu Beginn des Dokuments. “Vielmehr schreibe ich dies öffentlich als Historiker und israelischer Staatsbürger, um meinen persönlichen Standpunkt zu der schrecklichen aktuellen Situation in Gaza zu Protokoll zu geben, so wie sich die Ereignisse entwickeln. Ich schreibe als Einzelperson, auch weil viele akademische Institutionen vor Ort zu diesem Thema enttäuschend schweigen, vor allem diejenigen, die gut positioniert sind, um sich dazu zu äußern, auch wenn einige meiner Kollegen mutig ihre Stimme erhoben haben.”
Seitdem hat Mordechai Hunderte von Stunden mit dem Sammeln von Informationen und dem Verfassen von Texten verbracht und das Dokument, das auf der von ihm eingerichteten Website erscheint, ständig aktualisiert. Seit er mit diesem Projekt begonnen hat, hat er seine Arbeitsweise verbessert: Er stellt Berichte aus verschiedenen Quellen akribisch in einer Excel-Tabelle zusammen, aus der er nach weiterer Prüfung die Punkte auswählt, die im Text erwähnt werden sollen. Er nutzt eine Vielzahl von Quellen: von Zivilisten gedrehtes Filmmaterial, Medienartikel, Berichte der Vereinten Nationen und anderer internationaler Organisationen, soziale Medien, Blogs und so weiter.
Er räumt zwar ein, dass einige der Quellen nicht den journalistischen oder anderen ethischen Standards entsprechen, doch Mordechai steht zur Glaubwürdigkeit seiner Dokumentation. “Es ist nicht so, dass ich alles kopiere, was sich jemand anderes ausgedacht hat. Andererseits ist klar, dass es eine Lücke gibt zwischen dem, was es gibt, und dem, was wir eigentlich gerne sehen würden: Wir würden uns wünschen, dass jeder Vorfall im Gazastreifen von zwei unabhängigen und nicht abhängigen internationalen Organisationen ordnungsgemäß untersucht wird, aber das wird nicht passieren.”
“Ich prüfe also, wer berichtet, ob er beim Lügen ertappt wurde, ob es einen gemeinnützigen Verein oder einen Blogger gibt, der Informationen verbreitet hat, die nachweislich falsch sind – und wenn das der Fall ist, verwende ich sie nicht mehr und lösche sie. Ich gebe neutralen Quellen wie Menschenrechtsorganisationen und der UNO mehr Gewicht und führe eine Art Synthese zwischen den Quellen durch, um zu sehen, ob sie [die Informationen] konsistent sind. Außerdem arbeite ich sehr offen und lade jeden ein, der mich überprüfen möchte. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich feststellen würde, dass ich mich in den Dingen, die ich geschrieben habe, geirrt habe, aber das ist nicht der Fall. Bis jetzt musste ich nur sehr wenige Korrekturen vornehmen.”
Die Lektüre von Mordechais Bericht hilft, den Nebel zu lichten, der die Israelis seit Ausbruch des Krieges umhüllt. Ein Beispiel dafür ist die Zahl der Todesopfer: Der Krieg vom 7. Oktober ist der erste Krieg, in dem Israel keinerlei Anstrengungen unternimmt, die Zahl der Toten auf der anderen Seite zu ermitteln. In Ermangelung anderer Quellen verlassen sich viele Menschen in der Welt – ausländische Regierungen, Medien, internationale Organisationen – auf die Berichte des palästinensischen Gesundheitsministeriums Gaza, die als sehr glaubwürdig gelten. Israel bemüht sich, die Zahlen des Ministeriums zu dementieren. In den lokalen Medien wird in der Regel darauf hingewiesen, dass die Quelle dieser Daten das “Gesundheitsministerium der Hamas” ist.
Die New York Times, ABC, CNN, die BBC, internationale Organisationen und die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem veröffentlichten die Ergebnisse ihrer eigenen Untersuchungen von Vorfällen von Folter, Misshandlung, Vergewaltigung und anderen Grausamkeiten gegen palästinensische Gefangene in der IDF-Basis Sde Teiman im Negev und anderen Einrichtungen. Amnesty International untersuchte vier Vorfälle, bei denen es weder ein militärisches Ziel noch eine Rechtfertigung für einen Angriff gab und bei denen IDF-Kräfte insgesamt 95 Zivilisten töteten.
Eine Ende März von Yaniv Kubovich in Haaretz veröffentlichte Untersuchung zeigte, dass die IDF “Tötungszonen” geschaffen haben, in denen viele Zivilisten erschossen wurden, nachdem sie eine von einem Feldkommandeur festgelegte imaginäre Linie überschritten hatten; die Opfer wurden nach ihrem Tod als Terroristen eingestuft. Die BBC hat die Schätzungen der IDF über die Zahl der von ihren Streitkräften getöteten Terroristen im Allgemeinen in Zweifel gezogen; CNN berichtete ausführlich über einen Vorfall, bei dem eine ganze Familie ausgelöscht wurde; NBC untersuchte einen Angriff auf Zivilisten in so genannten humanitären Zonen; das Wall Street Journal bestätigte, dass sich die IDF auf Berichte über Todesopfer im Gazastreifen stützte, die vom palästinensischen Gesundheitsministerium veröffentlicht wurden; AP behauptete in einem ausführlichen Bericht, dass die IDF nur ein einziges verlässliches Beweisstück vorgelegt hatte, das zeigte, dass die Hamas auf dem Gelände eines Krankenhauses operierte – den Tunnel, der im Hof des Shifa-Krankenhauses entdeckt wurde; The New Yorker und The Telegraph veröffentlichten die Ergebnisse umfangreicher Untersuchungen von Fällen, bei denen Kindern Gliedmaßen amputiert werden mussten, und es gibt noch viel mehr – all das wird in “Bearing Witness” erwähnt.
Nicht enthalten ist ein Bericht, der erst diese Woche vom palästinensischen Gesundheitsministerium Gaza veröffentlicht wurde und aus dem hervorgeht, dass seit dem 7. Oktober 1.140 Familien aus dem örtlichen Bevölkerungsregister ausgelöscht wurden – höchstwahrscheinlich Opfer von Luftangriffen.
Mordechai zitiert zahlreiche Artikel, die sich auf die laxen Einsatzregeln der IDF im Gazastreifen beziehen. Ein Clip zeigt eine Gruppe von Flüchtlingen mit einer Frau an der Spitze, die ihren Sohn in einer Hand und eine weiße Fahne in der anderen hält; man sieht, wie auf sie geschossen wird, wahrscheinlich von einem Scharfschützen, und sie zusammenbricht, während das Kind ihre Hand fallen lässt und um sein Leben flieht. Ein weiterer Vorfall, über den Ende Oktober viel berichtet wurde, zeigt den 13-jährigen Mohammed Salem, der um Hilfe schreit, nachdem er bei einem Angriff der Luftwaffe verwundet wurde; als sich Menschen nähern, um Hilfe zu leisten, werden sie von einem weiteren solchen Angriff getroffen. Salem und ein weiterer Jugendlicher wurden getötet, über 20 Menschen wurden verletzt.
Mordechai räumt ein, dass das Betrachten der visuellen Zeugnisse des Krieges sein Herz abgehärtet hat – heute kann er selbst die schrecklichsten Szenen sehen. “Als die ISIS-Videos [vor Jahren] veröffentlicht wurden, habe ich sie mir nicht angesehen. Aber hier habe ich gefühlt, dass es meine Pflicht ist, denn das wird in meinem Namen gemacht, also muss ich es sehen, um zu vermitteln, was ich gesehen habe. Was wichtig ist, ist die Menge; es sind Kinder und wieder Kinder und noch einmal Kinder.
Auf die Frage, welches der Tausenden von Bildern, ob Videos oder Standbilder, von toten, verwundeten oder leidenden Menschen ihn am meisten beeindruckt hat, denkt Mordechai nach und nennt das Foto der Leiche eines Mannes, der später als Jamal Hamdi Hassan Ashour identifiziert wurde. Ashour, 62, wurde Berichten zufolge im März von einem Panzer überrollt, sein Körper war bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Palästinensischen Quellen zufolge zeugte ein Kabelbinder an einer seiner Hände davon, dass er zuvor festgenommen worden war. Das Bild wurde auf einem israelischen Telegram-Kanal mit der Bildunterschrift “Das wird euch gefallen!” veröffentlicht.
“So etwas habe ich noch nie in meinem Leben gesehen”, sagt Mordechai gegenüber Haaretz. “Aber noch schlimmer war die Tatsache, dass das Bild von Soldaten in einer israelischen Telegram-Gruppe geteilt wurde und sehr wohlwollende Reaktionen erhielt.” Neben den Informationen über Ashour bietet “Bearing Witness” Links zu Bildern einer Reihe anderer Leichen, deren Zustand darauf schließen lässt, dass sie von gepanzerten Fahrzeugen überfahren wurden. In einem Fall handelte es sich laut einem palästinensischen Bericht um eine Mutter und ihren Sohn.
Ein Fall, der nur in einer Fußnote erwähnt wird, zeugt von Fragen im Zusammenhang mit Mordechais Methoden und den Dilemmata, mit denen er konfrontiert war. Ende März strahlte Al Jazeera ein Interview mit einer Frau aus, die in das Shifa-Krankenhaus in Gaza kam und sagte, dass IDF-Soldaten Frauen vergewaltigt hätten. Kurz darauf stritt die Familie der Frau die Anschuldigungen ab, und Al Jazeera löschte den Bericht, doch viele Menschen hegten weiterhin Zweifel.
“Nach meiner Methodik ist der Bericht nach der Löschung durch Al Jazeera nicht mehr glaubwürdig, und es ist nicht passiert”, sagt Mordechai. “Aber ich frage mich auch: Vielleicht trage ich dazu bei, dass diese Frau zum Schweigen gebracht wird? Und das Schweigen geschieht nicht aus Gründen der Wahrheitsfindung, sondern im Namen der Ehre der Frau und ihrer Familie. Ist es perfekt? Es ist nicht perfekt, aber letztendlich bin ich ein Mensch und muss mich entscheiden. Also habe ich in einer Fußnote erklärt, dass es sich um die Behauptung einer Frau handelt, und ich habe hinzugefügt, dass sie “mit ziemlicher Sicherheit falsch” ist, um meine Vorbehalte auszudrücken.
“Ich garantiere nicht, dass jede einzelne Zeugenaussage absolut zuverlässig ist. In der Tat weiß niemand genau, was in Gaza passiert – nicht die internationalen Medien, sicherlich nicht die Israelis und nicht einmal die IDF. In ‘Bearing Witness’ behaupte ich, dass das Verstummen der Stimmen aus dem Gazastreifen – die Einschränkung der Informationen, die von dort kommen – Teil der Arbeitsmethode ist, die den Krieg möglich macht. Ich stehe hinter der Synthese, die ich verwende, und ich wünschte, ich läge falsch. Aber von israelischer Seite gibt es nichts. Ich spreche von Beweisen – bringt mir Beweise!”
Ein Fall, der in dem Dokument beschrieben wird, auch wenn es vielen Israelis schwer fallen wird, dies zu glauben, bezieht sich auf den Einsatz einer Drohne durch die IDF, die Geräusche eines weinenden Säuglings abgab, um festzustellen, wo sich Zivilisten aufhielten und sie vielleicht aus ihrem Schutzraum herauszulocken. In dem Video, auf das Mordechai verweist, ist ein Weinen zu hören und die Lichter einer Drohne zu sehen.
“Wir wissen, dass es Drohnen mit Lautsprechern gibt, vielleicht macht sich ein gelangweilter Soldat einen Spaß daraus und die Palästinenser empfinden es als schrecklich”, sagt er. “Aber ist es wirklich so weit hergeholt, dass ein Soldat, anstatt sich mit Höschen und BHs filmen zu lassen oder die Sprengung einer Straße seiner Frau zu widmen, so etwas tut? Es mag erfunden sein, aber es passt zu dem, was ich sehe.” Diese Woche strahlte Al Jazeera einen investigativen Bericht über die so genannten weinenden Drohnen aus und behauptete, ihr Einsatz sei von einer Reihe von Augenzeugen bestätigt worden, die alle die gleiche Geschichte erzählten.
“Wir können immer noch über solche anekdotischen Berichte streiten, aber es ist schwieriger, dies zu tun, wenn wir mit Bergen von fundierteren Berichten konfrontiert werden”, bemerkt Mordechai. “Dutzende amerikanischer Ärzte, die als Freiwillige in Gaza arbeiteten, berichteten zum Beispiel, dass sie fast jeden Tag Kinder sahen, denen in den Kopf geschossen worden war – wie ist das zu erklären? Versuchen wir überhaupt, das zu erklären oder zu verkraften?”
In den drei Jahren vor dem 7. Oktober wurden in Gaza mehr Kinder getötet als in allen anderen Kriegen der Welt. Im ersten Monat des Krieges war die Zahl der getöteten Kinder zehnmal so hoch wie die Zahl derer, die innerhalb eines Jahres im Ukraine-Krieg getötet wurden.
Einer der Höhepunkte der Brutalität des israelischen Militärs im Gazastreifen wurde während des zweiten großen Angriffs auf das Shifa-Krankenhaus Mitte März deutlich, fügt der Historiker hinzu; er widmet diesem Ereignis sogar ein eigenes Kapitel. Die IDF behaupteten, dass das Krankenhaus damals ein Zentrum der Hamas-Aktivitäten gewesen sei und dass es während der Razzia zu Schusswechseln gekommen sei, nach denen 90 Hamas-Angehörige verhaftet worden seien, einige von ihnen hochrangig.
Die Besetzung von Shifa durch die IDF dauerte jedoch noch etwa zwei Wochen an. In dieser Zeit wurde das Krankenhaus nach palästinensischen Angaben zu einer Zone des Mordes und der Folter. Offenbar wurden 240 Patienten und medizinisches Personal eine Woche lang in einem der Gebäude eingeschlossen, ohne Zugang zu Nahrungsmitteln. Die Ärzte vor Ort berichteten, dass mindestens 22 Patienten starben. Eine Reihe von Augenzeugen, darunter auch Mitarbeiter, berichteten von Hinrichtungen. Ein von einem Soldaten aufgenommenes Video zeigt gefesselte Häftlinge mit verbundenen Augen, die in einem Korridor mit dem Gesicht zur Wand sitzen. Den Quellen zufolge wurden nach dem Rückzug der IDF aus dem Krankenhaus Dutzende von Leichen im Hof entdeckt. Es gibt eine Reihe von Clips, die das Einsammeln der Leichen dokumentieren, von denen einige verstümmelt sind, andere unter Trümmern begraben sind oder in großen Lachen aus geronnenem Blut liegen. Ein Seil war um den Arm eines der toten Männer gebunden, was möglicherweise darauf hindeutet, dass er vor seiner Ermordung gefesselt wurde.
In den vergangenen zwei Monaten wurden im Rahmen der laufenden Militäroperation im nördlichen Teil des Streifens weitere Höhepunkte der Brutalität erreicht. Die Operation begann am 5. Oktober. Die IDF schnitten Jabalya, Beit Lahia und Beit Hanoun von Gaza-Stadt ab, und die Bewohner wurden aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Viele taten dies, aber viele Tausende blieben in der belagerten Zone.
In dieser Phase leitete die Armee das ein, was der ehemalige IDF-Stabschef und Verteidigungsminister Moshe Ya’alon diese Woche als “ethnische Säuberung” des Gebiets bezeichnete: Hilfsorganisationen durften das Gebiet nicht mehr betreten, das letzte Mehldepot wurde niedergebrannt und die letzten beiden Bäckereien geschlossen, und selbst die Tätigkeit von Zivilschutzteams, die Verletzte evakuierten, wurde verboten. Die Wasserversorgung wurde unterbrochen, Krankenwagen wurden außer Gefecht gesetzt und die Krankenhäuser wurden angegriffen.
Die Hauptanstrengungen der Armee konzentrierten sich jedoch auf Luftangriffe. Fast jeden Tag meldeten Palästinenser Dutzende von Toten, wenn Wohnhäuser und Schulen, die zu DP-Lagern geworden waren, bombardiert wurden. In Mordechais Bericht werden Dutzende von gut dokumentierten Berichten über Bombenangriffe zitiert – Familien, die die Leichen ihrer Angehörigen in den Trümmern einsammeln, Beerdigungen in riesigen Massengräbern, Verwundete, die mit Staub bedeckt sind, Erwachsene und Kinder unter Schock, schreiende Menschen, um die herum Körperteile verstreut sind, und so weiter.
In den vergangenen zwei Wochen hat Haaretz ihrerseits Anfragen an die IDF-Sprechereinheit gerichtet, die sich auf etwa 30 Vorfälle beziehen, die meisten davon in Gaza, bei denen viele Zivilisten getötet wurden. Die Einheit antwortete, dass sie die meisten von ihnen als ungewöhnliche Ereignisse eingestuft habe und sie zur weiteren Untersuchung an den Generalstab weitergeleitet worden seien.
Mordechai weist die häufig zu hörende Behauptung der Israelis, dass das, was in Gaza geschieht, im Vergleich zu anderen Kriegen nicht so schrecklich sei, rundweg zurück. “Bearing Witness” zeigt zum Beispiel, dass in den drei Jahren vor dem Krieg vom 7. Oktober mehr Kinder in Gaza getötet wurden als in allen Kriegen der Welt. Bereits im ersten Monat des Krieges war die Zahl der toten Kinder zehnmal höher als die Zahl der im Ukraine-Krieg Getöteten innerhalb eines Jahres.
Im Gazastreifen sind mehr Journalisten getötet worden als im gesamten Zweiten Weltkrieg. Laut einer von Yuval Avraham auf der Website Sicha Mekomit (Local Call) veröffentlichten Untersuchung über die KI-Systeme, die bei den Bombenangriffen der IDF im Gazastreifen zum Einsatz kamen, wurde die Erlaubnis erteilt, bis zu 300 Zivilisten zu töten, um hochrangige Hamas-Mitglieder zu ermorden. Im Vergleich dazu geht aus den Dokumenten hervor, dass die amerikanischen Streitkräfte nur ein Zehntel dieser Zahl – 30 Zivilisten – im Falle eines Mörders von größerem Ausmaß als Yahya Sinwar getötet haben: Osama Bin-Laden.
Es muss keine Todeslager geben, um als Völkermord zu gelten. Es kommt auf die Begehung von Taten und die Absicht an, und beides muss nachgewiesen werden.
In einem Untersuchungsbericht des Wall Street Journal heißt es, dass Israel in den ersten drei Monaten des Krieges mehr Bomben auf den Gazastreifen abgeworfen hat als die Vereinigten Staaten in sechs Jahren auf den Irak. Achtundvierzig Gefangene starben im vergangenen Jahr in israelischen Haftanstalten, verglichen mit neun in Guantanamo in den gesamten 20 Jahren seines Bestehens. Die Zahlen sind auch aufschlussreich, wenn es um die Todesopfer in den Kriegen anderer Länder geht: Die Koalitionstruppen im Irak töteten in fünf Jahren 11.516 Zivilisten, und in den 20 Jahren des Krieges in Afghanistan wurden 46.319 Zivilisten getötet. Nach den vorsichtigsten Schätzungen wurden seit dem 7. Oktober 2023 etwa 30.000 Zivilisten im Gazastreifen getötet.
Mordechais Bericht spiegelt nicht nur die Schrecken wider, die sich im Gazastreifen ereignen, sondern auch die Gleichgültigkeit Israels ihnen gegenüber. “Am Anfang wurde versucht, die Invasion des Shifa-Krankenhauses zu rechtfertigen; heute gibt es nicht einmal mehr diesen Vorwand – man greift Krankenhäuser an und es gibt keine öffentliche Diskussion. Wir werden in keiner Weise mit den Folgen dieser Operationen fertig. Wenn man die sozialen Medien öffnet, wird man von der Entmenschlichung überflutet. Was macht das mit uns? Ich bin in einer Gesellschaft aufgewachsen, die ein ganz anderes Ethos hatte. Es gab immer faule Äpfel, aber wenn man sich den Fall des Busses Nr. 300 [ein Ereignis im Jahr 1984, bei dem Shin-Bet-Agenten im Einsatz zwei Araber hinrichteten, die einen Bus entführt hatten] ansieht, weiß man, wo wir heute stehen. Es ist wichtig für mich, einen Spiegel vorzuhalten, es ist wichtig für mich, dass diese Dinge an die Öffentlichkeit gelangen. Das ist meine Form des Widerstands.”
Ein dunkles Geheimnis
In den neueren Versionen von “Bearing Witness” hat Mordechai einen Anhang hinzugefügt, in dem er erklärt, warum Israels Vorgehen im Gazastreifen seiner Meinung nach einen Völkermord darstellt, ein Thema, auf das er in unserem Gespräch eingeht. “Wir müssen die Art und Weise, wie wir als Israelis an Völkermord denken – Gaskammern, Todeslager und der Zweite Weltkrieg – von dem Modell trennen, das in der [1948] Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes steht”, erklärt er. “Es muss keine Todeslager geben, um als Völkermord zu gelten. Es kommt auf die Begehung von Taten und den Vorsatz an, und beides muss nachgewiesen werden. Was die Begehung von Taten betrifft, so handelt es sich um Tötung, aber nicht nur – [es gibt] auch die Verwundung von Menschen, die Entführung von Kindern und sogar bloße Versuche, Geburten bei einer bestimmten Gruppe von Menschen zu verhindern. Was all diese Taten gemeinsam haben, ist die vorsätzliche Zerstörung einer Gruppe.”
“Die Menschen, mit denen ich spreche, argumentieren im Allgemeinen nicht über die durchgeführten Handlungen, sondern über die Absicht. Sie werden sagen, dass es kein Dokument gibt, das zeigt, dass Netanjahu oder [IDF-Stabschef] Herzl Halevi einen Völkermord angeordnet haben. Aber es gibt Erklärungen und es gibt Zeugenaussagen. Viele, viele davon. Südafrika hat ein 120-seitiges Dokument vorgelegt, das eine Vielzahl von Zeugenaussagen enthält, die den Vorsatz belegen. Der Journalist Yunes Tirawi sammelte in den sozialen Medien Erklärungen über Völkermord und ethnische Säuberung von mehr als 100 Personen mit Verbindungen zu den IDF – offenbar viele Reserveoffiziere.
“Was machen wir mit all dem? Aus meiner Sicht sprechen die Fakten. Ich sehe eine direkte Linie zwischen diesen Erklärungen, dem fehlenden Versuch, sich mit diesen Erklärungen auseinanderzusetzen, und der Realität vor Ort, die den Erklärungen entspricht.”
Die englischsprachige Version von “Bearing Witness” bezieht sich auf Artikel von sechs führenden israelischen Behörden, die bereits erklärt haben, dass Israel ihrer Meinung nach einen Völkermord begeht: Holocaust- und Völkermord-Experte Omer Bartov; Holocaust-Forscher Daniel Blatman (der schrieb, dass das, was Israel im Gazastreifen tut, irgendwo zwischen ethnischer Säuberung und Völkermord liegt); Historiker Amos Goldberg; Holocaust-Forscher Raz Segal; Völkerrechtsexperte Itamar Mann; und Historiker Adam Raz.
“Die Definition ist weniger wichtig”, sagt Mordechai. “Wichtig sind die Aktionen. Angenommen, der Internationale Gerichtshof in Den Haag erklärt in ein paar Jahren, dass es sich nicht um Völkermord, sondern um einen Beinahe-Völkermord handelt – macht es das besser? Belegt das einen moralischen Sieg Israels? Möchte ich an einem Ort leben, der einen “Beinahe-Völkermord” verübt? Die Debatte über den Begriff lenkt die Aufmerksamkeit auf sich, aber die Dinge geschehen so oder so, ob sie die Messlatte erreichen oder nicht. Letztendlich müssen wir uns fragen, wie wir dem Einhalt gebieten und wie wir unseren Kindern antworten werden, wenn sie uns fragen, was wir während des Krieges getan haben. Wir müssen handeln.”
Aber die Definition ist wichtig. Sie sagen den Israelis: “Seht her, ihr lebt in Berlin 1941.” Was ist der moralische Imperativ für Menschen, die damals in Berlin lebten? Was soll ein Bürger tun, wenn sein Staat einen Völkermord begeht?
“Eine moralische Haltung hat immer einen Preis. Wenn es keinen Preis gibt, ist es nur eine akzeptierte, normative Haltung. Der Wert einer Sache für eine Person drückt sich in dem Preis aus, den sie bereit ist, dafür zu zahlen. Andererseits ist mir klar, dass die Menschen auch andere Überlegungen und Bedürfnisse haben – Essen nach Hause zu bringen, die Verbindung zu ihrer Familie zu erhalten – jeder muss seine eigenen Entscheidungen treffen. Was ich tue, ist zu reden und weiter zu reden, ob man mir nun zuhört oder nicht. Das kostet unendlich viel Zeit und mentale Kraft, aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es das Nützlichste ist, was ich tun kann.”
Nachdem wir uns getrennt hatten, schickte mir Mordechai einen letzten Link. Dieser bezog sich nicht auf die Berichte über die Gräueltaten in Gaza, sondern auf eine Kurzgeschichte der verstorbenen amerikanischen Schriftstellerin Ursula K. Le Guin, “The Ones Who Walk Away from Omelas”. Die Geschichte handelt von der Stadt Omelas, in der die Menschen schön und glücklich sind und ihr Leben interessant und fröhlich ist. Doch als Erwachsene erfahren die Bürger von Omelas allmählich das dunkle Geheimnis ihrer Stadt: Ihr Glück hängt vom Leiden eines Kindes ab, das gezwungen ist, in einem schmutzigen Raum unter der Erde zu bleiben, und dem es nicht erlaubt ist, es zu trösten oder ihm zu helfen. “Es ist die Existenz des Kindes und das Wissen um seine Existenz, das die Erhabenheit ihrer Architektur, die Ergriffenheit ihrer Musik und die Tiefe ihrer Wissenschaft ermöglicht. Wegen des Kindes sind sie so sanft zu den Kindern”, schreibt Le Guin.
Die Mehrheit der Bewohner von Omelas lebt mit diesem Wissen weiter, aber von Zeit zu Zeit besucht einer von ihnen das Kind und kehrt nicht zurück, sondern geht weiter und verlässt die Stadt. Die Geschichte endet: “Sie gehen voraus in die Dunkelheit und kehren nicht zurück. Der Ort, zu dem sie gehen, ist für die meisten von uns noch unvorstellbarer als die Stadt des Glücks. Ich kann ihn überhaupt nicht beschreiben. Es ist möglich, dass er gar nicht existiert. Aber sie scheinen zu wissen, wohin sie gehen.”
Das Büro des IDF-Sprechers antwortete, dass die IDF “nur gegen militärische Ziele operiert und eine Vielzahl von Vorsichtsmaßnahmen ergreift, um Schaden für Nichtkombattanten zu vermeiden, einschließlich der Herausgabe von Warnungen an die Bevölkerung. Bei Verhaftungen wird jeder Verdacht auf einen Verstoß gegen Befehle oder internationales Recht untersucht und behandelt. Wenn der Verdacht besteht, dass ein Soldat ein unangemessenes Verhalten an den Tag legt, das möglicherweise krimineller Natur ist, wird von der Kriminalpolizei der Militärpolizei eine Untersuchung eingeleitet.”
Der israelische Soziologe Moshe Zuckermann schrieb dazu ein Beitrag in Overton.
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