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Titel: Und sie bewegt sich doch!

Datum: 27. März 2012 um 9:38 Uhr
Rubrik: Aufbau Gegenöffentlichkeit, Strategien der Meinungsmache, Wertedebatte
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Es vergeht fast kein Tag, an dem uns nicht ein Politiker, Journalist oder Kommentator aufs Neue einbläut, wie gut es uns hier in Deutschland doch ginge. Dabei stellt sich unweigerlich die Frage, auf wen sich dieses „uns“ eigentlich bezieht. Ob es jemandem gut geht, ist eine sehr subjektive Frage. Es mag ja durchaus sein, dass es den betreffenden Politikern, Journalisten, Kommentatoren und ihrem persönlichen Umfeld wirklich gut geht. Man sollte sich jedoch tunlichst davor in Acht nehmen, diese subjektive und eingeschränkte Einschätzung zu verallgemeinern. Wer in sich geht und die veröffentlichte Meinung kritisch hinterfragt, muss zu einem ganz anderen Ergebnis kommen. Von Jens Berger.

Lässt man persönliche Faktoren, wie beispielsweise das familiäre Umfeld und die Gesundheit, mal außen vor, spielen für die Frage des persönlichen Wohlbefindens wohl vor allem die sogenannten sozio-ökonomischen Faktoren die wichtigste Rolle. Wer mangels finanzieller Mittel nicht am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann, wird wohl nur in Ausnahmefällen sagen, dass es ihm gut geht. Und hier handelt es sich keinesfalls um Fragen des Konsums oder gar um Statussymbole. Es sind vielmehr elementare Fragen des Lebens, die das subjektive Wohlbefinden beeinträchtigen. Kann sich ein Politiker, der davon überzeugt ist, dass es uns in Deutschland doch gut geht, eigentlich in einen Familienvater hineinversetzen, der als Leiharbeiter trotz guter Arbeit seinen Kindern noch nicht einmal ein Fahrrad zum Geburtstag schenken kann? Geht die Empathie der schreibenden Zunft so weit, dass sich ein gut situierter Leitartikler vorstellen kann, was es für eine fünfzigjährige Schlecker-Verkäuferin, die ohnehin finanziell mit dem Rücken an der Wand steht, bedeutet, ihren Job zu verlieren? Können sich die Kommentatoren, die dem Land allgemeines Wohlbefinden attestieren, eigentlich ausmalen, wie sich ein alleinstehender Hartz-IV-Empfänger fühlt, der sich nicht mehr traut, eine Frau anzusprechen, da er sie noch nicht einmal zum Kaffee oder ins Kino einladen kann?

Wohl kaum, es scheint vielmehr so, als sei „uns“ die Empathie abhandengekommen. Und dies betrifft keinesfalls nur die Politiker, Journalisten und Kommentatoren, sondern auch – und vor allem – die Menschen, die ihnen Glauben schenken. Man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht. Die Teilung Deutschlands in eine Zwei-Welten-Gesellschaft ist im vollen Gange. In der Welt der bürgerlichen Mittelschicht in den Neubaugebieten und den Einfamilienhaussiedlungen hat man sich mental abgeschirmt. Man lebt sein Leben und hat wenig Kontakt zum „anderen Deutschland“, in dem man – so vorhanden – noch nicht einmal seinen Garten bepflanzen kann, da dieser Posten im Hartz-IV-Regelsatz nicht vorkommt. Wir haben (noch) keine Gated Communities wie in Brasilien oder den USA. Wir sind aber auf dem besten Wege, eine hohe Mauer der Ignoranz und des Wegsehens um uns herum zu errichten. Auch dies ist eine Form einer Gated Community – nicht an unserer Grundstücksgrenze, sondern in unseren Herzen und Köpfen.

Das persönliche Wohlbefinden bezieht sich dabei auch nicht nur auf die Vergangenheit und die Gegenwart, sondern in einem gehörigen Maße auch auf die erwartete Zukunft. Wem es momentan schlecht geht, der hofft auf eine Wendung zum Besseren. Wem es momentan gut geht, der hofft, dass sich dies auch in Zukunft nicht ändern möge. Wenn es jedoch um die Frage der Zukunftssicherheit der eigenen Familie geht, tauchen auch am Himmel über den Neubaugebieten und Einfamilienhaussiedlungen düstere Wolken auf. Unser Land hat sich in den letzten zwanzig Jahren massiv verändert und die meisten von uns haben dies noch nicht einmal wirklich mitbekommen. Noch in den Achtzigern und frühen Neunzigern war es selbstverständlich, dass man sich durch Leistung hocharbeiten kann, dass es zumindest die Kinder besser haben sollten, dass es jedenfalls Chancen für einen Aufstieg gab. Für mich war es als Kind eines Elektrikers und einer Friseuse beispielsweise selbstverständlich, dass ich – zusammen mit meinen Freunden aus gänzlich verschiedenen Klassen, vom Sozialhilfe- bis zum Fabrikantenhaushalt – das Gymnasium und die Universität besuchen konnte und es jedenfalls Aufstiegschancen gab. Heute erreicht ein Elektriker-/Friseusenhaushalt knapp das Existenzminimum und es wird bereits in frühester Kindheit ausgesiebt, was das Zeug hält. Die Chance auf eine höhere Bildung hängt wieder zunehmend nicht mehr von der Leistung, sondern von der Herkunft ab. Sogar die „klassenlose“ Schule ist ein aussterbendes Modell, Kinder aus „besserem Haus“ werden vielerorts lieber einer Privatschule anvertraut, wo sie ganz sicher auch unter ihresgleichen bleiben. Der Anteil der Arbeiterkinder auf den deutschen Universitäten geht seit Jahren zurück und nur Besserverdiener können es sich leisten, ihre Kinder nach dem Hochschulabschluss auch noch während der oft jahrelangen unbezahlten Praktikumsphase zu finanzieren. Chancengleichheit ist oft nur noch eine hohle Phrase.

Doch wo bleibt die Empörung? Sie findet nicht statt. Im Gegenteil, es ist heute in den „besseren Kreisen“ schick, gegen Chancengleichheit und für die eigenen Interessen zu streiten, wie nicht zuletzt der Volksentscheid über die Zukunft des Hamburger Schulsystems einmal mehr bewiesen hat. Auch bei Fragen der Zukunftssicherheit und der Chancengleichheit bewegen wir uns in geradezu beängstigender Geschwindigkeit auf eine Gated Community zu.

Eine Gesellschaft, der es gut geht, muss keine Angst vor der Zukunft haben. In einer solchen Gesellschaft gibt es keine Altersarmut und keine begründete Sorge um die ökonomische Zukunft der eigenen Familie. In einer solchen Gesellschaft gibt es kein Hartz IV, keine Armee von Niedriglöhnern und keine Schicht, der man das elementarste Gut des Lebens, die eigene Zukunft, raubt. Man muss kein Utopist, ja noch nicht einmal ein großer Visionär sein, um sich dieses „gute Deutschland“ bildlich vorstellen zu können. Es reicht ein Blick in die BRD der siebziger und achtziger Jahre, um eine Gesellschaft vorzufinden, die mit all ihren Stärken und Schwächen dem Ideal einer gerechten Gesellschaft schon ziemlich nahe kam. Wer heute dieses Ideal in den publizistischen Ring wirft, gilt als „Sozialromantiker“, als „Gutmensch“, als „Rückwärtsgewandter“, der die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat. Wenn man merkt, dass man sich in einer Sackgasse befindet, sollte man möglichst rechtzeitig umkehren, wenn man nicht vor einer Wand stehen will. Schon die pragmatische Vernunft gebietet, stets selbstkritisch zu sein und falsche Entscheidungen zu revidieren. Wer es ablehnt, aus Fehlern zu lernen und jede Richtungsentscheidung, egal ob richtig oder falsch, als alternativlos und nicht revidierbar sieht, ist hingegen nichts anderes als ein Fatalist.

Dieser Fatalismus ist leider eine Seuche, die sich heutzutage breite Gesellschaftsschichten heimgesucht hat. Man wagt es noch nicht einmal mehr, über den eingeschlagenen Weg offen zu diskutieren. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sind demnach alternativlos. Dass dem nicht so ist, dürfte eigentlich bekannt sei. Die Politik der vier etablierten Parteien sieht selbst bei wohlwollender Interpretation nur unbedeutende Detailveränderungen vor. Schlimmer noch – es fehlt sogar die Bereitschaft der Wirklichkeit ins Auge zu sehen. Das politische Deutschland trägt Scheuklappen, es bewegt sich in einer rosaroten Parallelwelt, in der die Probleme und Sorgen eines großen Teiles der Bevölkerung nicht mehr vorkommen oder schlimmer noch als selbstverschuldet abgetan werden. Auch die Medien haben sich zu großen Teilen in diese Parallelwelt geflüchtet und nur wenige unter der intellektuellen Elite wagen es, auch einmal quer zu denken und mahnend die Stimme zu erheben. Deutschland befindet sich in einer kollektiven Denkstarre, das Land der Dichter und Denker ist denkfaul geworden und selbst progressive Geister resignieren zusehends oder begeben sich in die innere Emigration.

Man kann felsenfest davon überzeugt sein, das die Erde rund ist und sich um die Sonne dreht. Wenn sämtliche Medien pausenlos behaupten, die Erde sei eine Scheibe und der Mittelpunkt des Universums und selbst der eigene Freundeskreis irgendwann resignierend die Rundheit der Erde in Frage stellen, muss man schon positiv verrückt sein, um standhaft zu bleiben. Diese positive Verrücktheit und der Mut die eigene Position auch zu vertreten sind jedoch die Eigenschaften, die progressive Geister auszeichnen – vor allem dann, wenn eigentlich die Welt um uns herum verrückt geworden ist. Wer einmal für einen Moment das mediale Bombardement ausblendet, Alternativlosigkeit als Argument nicht gelten lässt und sich bemüht, zumindest ein wenig Restempathie zurückzugewinnen, kann nicht ernsthaft davon überzeugt sein, dass es unserer Gesellschaft wirklich gut geht. Resignieren Sie nicht, leisten Sie sich ruhig die Freiheit einer eigenen, vielleicht nicht immer bequemen und angepassten Meinung. Zweifeln Sie und denken Sie nach, Sie werden feststellen, dass Sie nicht allein sind, egal was Politiker, Journalisten und Kommentatoren sagen. Und Sie bewegt sich doch!


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