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Titel: Der Westen demontiert sich selbst: Liberalismus in Theorie und Praxis
Datum: 26. Dezember 2024 um 12:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Neoliberalismus und Monetarismus
Verantwortlich: Redaktion
Der Ukraine-Krieg seit Februar 2022 und die Reaktion des globalen Westens darauf läuteten eine neue Ära ein, die den Freihandelskapitalismus in Frage stellt. Die größte Gefahr für Europa besteht nun darin, dass die EU-Führung, die sich einem Krieg verschrieben hat, welcher sich als falsch erweist, nicht bereit ist, ihre Ziele und Strategien anzupassen, selbst wenn sich die internationalen Rahmenbedingungen durch den Wechsel an der US-Führungsebene ändern. Ein Beitrag von Botschafter a. D. György Varga, aus dem Ungarischen übersetzt von Éva Péli.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Liberale Grundsätze haben in den letzten Jahrzehnten als ideologische Grundlage des heutigen globalen Westens gedient. Diese Prinzipien waren für die Kräfte, die sich im gegebenen historischen und politischen Kontext für demokratische Prozesse einsetzten, weltweit annehmbar, kommunizierbar und rational vertretbar. Die zunehmende Missachtung der liberalen Grundwerte durch westliche Entscheidungsträger, die auch von konservativen Kräften wahrgenommen wird, bedroht die Stabilität der globalen Wirtschaft und der internationalen Beziehungen. Der Krieg in der Ukraine ist ein deutliches Symptom dieser Entwicklung.
Zu bestimmten Zeiten wurden die liberalen Grundsätze bis zur Verabsolutierung vorangetrieben. Dabei ging es um Fragen der individuellen und kollektiven Dimension der Menschenrechte, der Unantastbarkeit des Eigentums, des Funktionierens des freien Marktes, des freien Kapitalverkehrs, der Unbeschränktheit der Information sowie der Meinungsfreiheit.
Das goldene Zeitalter des Liberalismus
Die Jahre des Regimewechsels in Mitteleuropa oder die vom Westen angeregten „farbigen Revolutionen“ im postsowjetischen Raum und der „arabische Frühling“ in Nordafrika können als gute Zeiten für den Liberalismus verstanden werden. In Europa haben sich die Gesellschaften der postsozialistischen, postsowjetischen und postjugoslawischen Staaten schnell liberale Prinzipien zu eigen gemacht. Die erste Hälfte der 1990er-Jahre war in Europa durch die starke parlamentarische Präsenz liberaler Parteien sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene gekennzeichnet.
In den letzten gut drei Jahrzehnten dienten die liberalen Grundsätze als ideologische Grundlage des heutigen globalen Westens mit einer starken globalen Legitimität. Die westlichen Integrationsorganisationen (EU, NATO) stützten sich gerne auf sie, um ihre Ziele moralisch zu untermauern, da sie in allen Teilen der Welt leicht Unterstützung fanden. Die anfängliche Euphorie nach den Regimewechseln wich einer Phase, in der nationale und föderale Interessen zunehmend an Bedeutung gewannen. Die Folge war eine Abkehr von der konsequenten Umsetzung liberaler Prinzipien sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik.
Liberalismus in der Krise
Innerhalb weniger Tage nach Beginn der militärischen Intervention Russlands in der Ukraine wurden erneut westliche Sanktionen verhängt. Die zuvor verabsolutierten und gerade vom Westen favorisierten Prinzipien, die oft auch anderen auferlegt wurden und die die Grundlage für das Funktionieren des globalen internationalen Handels-, Finanz-, Verkehrs- und Energiesystems bildeten, wurden auf einen Schlag außer Kraft gesetzt. Viele der bekannten Verhaltensregeln, die dem Kapitalismus der freien Marktwirtschaft zugrunde lagen, sind seit Februar 2022 schrittweise außer Kraft getreten. Liberale Grundsätze, die der politische Westen in den vergangenen Jahrzehnten als Grundlage der internationalen Beziehungen und der kapitalistischen Weltordnung propagierte, werden nun von den gleichen Mächten selektiv angewendet oder ignoriert, um ihren zuvor absoluten Charakter zu diskreditieren.
Die russische Aggression wird als Vorwand für neue Sanktionspakete gegen Russland genutzt. Dabei übersehen viele, dass diese Sanktionen nicht nur für Russland, sondern für jedes Land der Welt und für jeden Bewohner des Planeten gelten.
Mit Verweis auf den Krieg in der Ukraine bestraft der kollektive Westen heute alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen und ihre Bevölkerungen, einschließlich seiner eigenen Bürger. Er bestraft ihre Wirtschaftsakteure, indem er das normale Funktionieren des internationalen Finanzsystems, die Nutzung der traditionellen Transportkorridore und Energierouten sowie den Zugang zu Märkten, Rohstoffen und Energieressourcen blockiert. Die Sanktionspolitik steht im völligen Widerspruch zu den Normen der liberalen Welthandelsordnung und schwächt ganz allgemein die Grundlagen des Liberalismus als ideales System und die von seinen Anhängern vorgebrachten Argumente.
Hegemoniale Interessen und die Grenzen des freien Marktes
Seit Jahren hören wir – vor allem als Rechtfertigung für den Ausstieg aus der russischen Energierohstoffversorgung –, Russland nutze die Energieressourcen für Erpressungen. In den westlichen Medien ist dagegen nicht zu lesen und zu hören, dass die USA das Dollar-System zur Erpressung nutzen und die betroffenen Länder sich davon abkoppeln mussten. Doch wie wird es benutzt? Indem jede Nationalbank und jede Geschäftsbank in der Welt durch US-Sanktionen in Angst gehalten wird: Kein Geldtransfer kann durchgeführt werden, ohne dass die US-Beschränkungen für Unternehmen und Privatpersonen eingehalten werden.
Die Sanktionen gegen Russland werden von den „liberalen“ Staaten verhängt, die vom politischen Westen dominiert werden. Doch kein Land der Welt ist von den Folgen ausgenommen, da alle UN-Mitgliedsstaaten und ihre wirtschaftlichen und sozialen Akteure von weitreichenden Beschränkungen in Politik, Handel, Wirtschaft, Verkehr, Kultur, Sport und anderen Bereichen betroffen sind. Erpressung durch Sanktionen ist zum wichtigsten Mittel geworden, um Druck auf souveräne Länder auszuüben, damit sie sich ungeachtet ihrer verfassungsmäßigen Ordnung – notfalls auch unter Missachtung dieser – im Gehorsam gegenüber einer moralischen Überlegenheit (heiliger Krieg gegen Russland) an die von anderen aufgestellten Regeln halten.
Krise des internationalen Finanzsystems
Für viele Unternehmen im Außenhandel und Bankensektor sind die Folgen der Sanktionen unmittelbar spürbar. Konten werden geschlossen, einst florierende Handelsbeziehungen brechen ab. Die „werteorientierten“ Sanktionen untergraben den freien Markt, den die USA und die EU angeblich als liberalen Wert verteidigen wollen. Denn der globale Westen nimmt sich das Recht zu entscheiden, mit wem die fast 200 souveränen Staaten der Welt und deren Wirtschaftsakteure und Bürger unter den Bedingungen einer „liberalen Marktwirtschaft“ Handel treiben oder Energie und Rohstoffe kaufen können.
Heute ruhen wochenlang Gelder auf Konten, die als Blutkreislauf der Marktwirtschaft dienen, und warten darauf, dass die US-amerikanischen und europäischen Behörden die notwendigen Kontrollen zur Durchsetzung der Sanktionen durchführen. Währenddessen gehen viele Unternehmen in Konkurs, weil das Problem der Überweisungen in einer bereits schweren Rezession die internationale Wirtschaftskrise weiter verschärft, die durch eine Vertrauenskrise und einen Mangel an Kapital sowie durch die Probleme der erzwungenen Marktverluste bereits gekennzeichnet ist. Europas Wirtschaft wird vor unseren Augen zerstört, und daran soll Putin schuld sein – nicht die Politiker, die auf einen europäischen Konflikt die falschen Antworten geben, die nicht an seiner Beendigung interessiert sind und die den katastrophalen Ergebnissen zusehends ihren Kurs halten und sogar beschleunigen.
Abschied von den Prinzipien des Liberalismus
Politiker und Parteien, die sich selbst als liberal bezeichnen, sprechen sich (samt Ungarn und Deutschland) nicht gegen die antidemokratischen, erpresserischen und anderweitig diskreditierenden liberalen Parteien aus, die die Wirtschaft Europas und der Welt ins totale Chaos führen.
Nicht, weil sie in den fast drei Jahren des Krieges in der Ukraine die von der Mehrheit der Gesellschaft akzeptierten Prinzipien des Liberalismus aufgegeben haben, die nicht weit von den konservativen Werten entfernt sind und diese in einigen Fällen sogar verstärken. Im Zeichen der Verabsolutierung des Krieges in der Ukraine hat der globale Westen neue Regeln aufgestellt:
Verabsolutierung des Krieges in der Ukraine
Anstatt den Krieg zu isolieren und schnell zu beenden, hat sich der globale Westen zum Ziel gesetzt, den Konflikt zu internationalisieren und auszuweiten. Bis Ende 2024 hat die konsequente Umsetzung der sich als falsch erwiesenen Option zu beachtlichen Ergebnissen geführt:
Die Welt außerhalb des westlichen Einflusskreises hat viel aus den „Vorteilen“ der neuen Art von westlicher Weltordnung gelernt, die mit dem Ukraine-Krieg geltend gemacht wurde. Die vermeintlich festen Regeln des politischen Westens, insbesondere liberale und kapitalistische Prinzipien, werden oft selektiv und kontextabhängig angewendet.
Notwendiger Paradigmenwechsel für die Ukraine
Mit dem Amtsantritt des neuen US-Präsidenten Donald Trump Anfang 2025 hat der Westen die Chance, einen Paradigmenwechsel, also eine Rückkehr zur Normalität einzuleiten. Der bevorstehende Paradigmenwechsel birgt Risiken, ist jedoch eng mit einer Beendigung des Ukraine-Krieges verknüpft. Die täglich fortgesetzte Eskalation durch westliche Akteure, die am Krieg festhalten, behindert jedoch alle Friedensbemühungen.
Trump hat das gesellschaftliche Mandat, die parlamentarische und gesellschaftliche Mehrheit, um eine neue Politik gegenüber der Ukraine zu verkünden. Politisch und moralisch kann er dem globalen Schaden entgehen, den sein Vorgänger angerichtet hat. Ein Paradigmenwechsel wäre in Europa besonders wichtig. Das Haupthindernis dafür ist die Machtelite in Europa und Brüssel, deren Aktivitäten vollständig mit der Ukraine-Politik der Biden-Administration verwoben sind und die Europa auf einen Abwärtspfad bringen.
Der Präsidentenwechsel in den USA bietet dieser europäischen Elite, die eine entscheidende Verantwortung für die gegenwärtige Situation trägt, auch die Chance, die Führung zu übernehmen und die notwendigen Veränderungen in Europa herbeizuführen. Zumindest aber müsste diese europäische Elite den richtigen Ausgangspunkt für den weiteren Weg setzen: Sie müsste den Fehlschlag der bisherigen Strategie eingestehen und einen neuen Weg für das Wachstum Europas ankündigen.
Leider ist dies der Punkt, an dem die Wahrscheinlichkeit eines Wandels in Europa auf ein Minimum schrumpft: Trotz klarer Signale der Trump-Administration über die Notwendigkeit eines Wandels fahren die Brüsseler Eliten fort und führen das Nachhutgefecht zur Verteidigung der Biden-Administration und ihrer selbst weiter, als ob in der außenpolitischen Arena nichts geschehen wäre.
Für Europa wäre eine Rückkehr zur Normalität der notwendigste Schritt, insbesondere in den internationalen Beziehungen. In normalen, demokratischen internationalen Beziehungen sanktionieren wir keine neutralen Länder für die konsequente Wahrung ihrer Neutralität. Wir nutzen das internationale Finanzsystem nicht, um unsere eigenen geopolitischen Interessen direkt voranzutreiben. Wir missbrauchen nicht die Bereiche des internationalen Finanzsystems, die wir kontrollieren, denn die dadurch verursachte Vertrauenskrise zerstört und destabilisiert das Finanzsystem, in dem der Westen (einschließlich Europa) eine herausragende Stellung einnimmt.
Heute missbrauchen die USA das Dollar-System und die EU das Euro-System, wodurch sie ihren eigenen und den globalen Finanzmärkten unabsehbaren Schaden zufügen und die Entstehung alternativer Finanzsysteme (BRICS) gegen ihre objektiven Interessen beschleunigen. Zu der Normalität gehört, die Vermögenswerte anderer souveräner Staaten nicht auf der Grundlage subjektiver politischer Entscheidungen einzufrieren, denn dann kann jeder in der Welt dies entweder heute oder sobald er stark genug ist tun.
Titelbild: Shutterstock / melissamn
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