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Titel: Der Umsturz in Syrien, seine Hintergründe und möglichen Auswirkungen

Datum: 17. Dezember 2024 um 12:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Länderberichte, Militäreinsätze/Kriege
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… stehen im Mittelpunkt eines interessanten Gesprächs, das wir im Folgenden in geraffter Form und übersetzt auf Deutsch wiedergeben: Der US-Journalist Chris Hedges, Pulitzer-Preisträger und ehemaliger Chef des Nahost-Büros der New York Times, befragt dazu Alastair Crooke; Crooke ist ein früherer britischer Diplomat, der mehr als 30 Jahre im Mittleren Osten gelebt und gewirkt hat. Unter anderem war er Sicherheitsberater des EU-Sondergesandten für den Mittleren Osten und er war an Vermittlungen zwischen der Hamas und Israel beteiligt.

Hedges:
Das oberste Ziel der Türkei ist es, einen unabhängigen kurdischen Staat in Nordsyrien zu verhindern. Dort haben die Kurden eine autonome Enklave errichtet. Israel will seit langem einen Regimechange in Syrien bewirken. Denn Geld und Waffen für die libanesische Hisbollah kommen vom Iran via Syrien. Die syrische Assad-Regierung wurde von Russland und dem Iran gestützt. Der israelische Premier Benjamin Netanjahu nannte den Sturz Assads historisch und führte ihn auf seinen Kampf gegen die Hisbollah und den Iran zurück. Zugleich könnte Israel demnächst einen islamischen Staat an seiner Grenze haben. Syrien ist geopolitisch wichtig, es verbindet Iraks Öl mit dem Mittelmeerraum, die Schia im Irak und Iran mit dem Libanon, und das NATO-Mitglied Türkei mit Jordanien. Im Krieg in Syrien sind seit 2011 mehr als eine halbe Million Menschen gestorben und 14 Millionen Menschen sind geflohen.

Was wissen Sie über die Hintergründe dieses Umsturzes?

Crooke:
Bereits 2012 hatte Obama der CIA die geheime Order gegeben, Assad abzusetzen und dessen Regierung zu stürzen. Seitdem wurde in Syrien von den Amerikanern, Israelis und Türken eine ganze Reihe von Milizen ausgebildet, vor allem mit dem Ziel, Assad zu entmachten. Es folgten die schärfsten US- und EU-Sanktionen gegen Syrien. Die Kurden im Nordosten Syriens wurden aufgebaut, sie besetzten die syrischen Ölfelder. Das ist auch der landwirtschaftlich wertvolle Anteil Syriens. Syrien hat also seine Erdöleinnahmen und wichtige Teile seiner landwirtschaftlich bewirtschafteten Fläche verloren. Später drangen die Türken in den Westen Syriens vor, besetzten Idlib und nahmen Aleppo unter ihre Kontrolle – das industrielle Herz Syriens. Die syrische Wirtschaft liegt deshalb am Boden. Soldaten der syrischen Armee erhielten zum Schluss nur noch sieben Dollar im Monat Sold – die HTS dagegen zahlte ihren Kämpfern 2.000 Dollar. Die syrischen Soldaten behalfen sich – auch aus reiner Not –, indem sie Menschen an den Checkpoints anhielten und Geld von ihnen verlangten.

Der syrische Staat wurde also immer schwächer. Und dann entschied Erdogan, diesen Staatsstreich zu unternehmen, und zwar ausgehend von Idlib. Er aktivierte dafür muslimische Milizen, auch solche, die lose mit dem IS oder al Qaida verbunden waren. Die Vorbereitungen dazu gehen sicher zwei Jahre zurück. Am Freitag, ehe der Umsturz begann, traf Assad den russischen Präsidenten Putin. Er verbrachte mehrere Stunden mit Putin und flog dann am selben Tag wieder zurück. Wir haben keine Informationen darüber, was die beiden besprochen haben. Weder der Kreml noch Damaskus haben sich dazu geäußert. Ich vermute, bei diesem Treffen hat ihm Putin gesagt, es tut mir leid, Assad, das Spiel ist vorbei. Es wird einen Wechsel geben, damit wirst du dich abfinden müssen.

Es sei an Afghanistan erinnert: Eine der Methoden, die gegen Russland zum Tragen kommen, ist, neue Fronten zu eröffnen, den Druck auf Russland zu erhöhen, so dass sich Russland entscheiden musste, sich auf sein Hauptinteresse zu konzentrieren – auf den großen Krieg, gegen die NATO und den Westen. Der Westen will Russland und China und den Iran auseinandertreiben, die BRICS-Staaten zerstreuen und Russland isolieren.

Hedges:
Die 2.000 Dollar im Monat für einen Soldatensold – woher kommt das Geld und wer hat diese Milizen ausgebildet?

Crooke:
Da ist viel Energie in die Ausbildung dieser Milizen geflossen, schon jahrelang. Viele kommen aus Zentralasien, es sind Usbeken dabei, Turkmenen, frühere Dschihadisten, al-Quaida-Kämpfer wurden aufgenommen … Mehr als ein Drittel der Kämpfer unter Dscholani stammt aus Zentralasien, das sind keine Syrer. Die Türkei unterhält Trainingslager, es gibt sogar Behauptungen, dass die Attentäter, die den Anschlag auf die Moskauer Konzerthalle „Crocus City Hall“ diesen Frühling verübt haben, bei dem viele Menschen starben, von der Türkei trainiert wurden, finanziert mit Geld aus den Vereinigten Staaten.

Die Türkei hat also eng mit Amerika zusammengearbeitet, insbesondere im Süden. Es war eine komplizierte Gemengelage, weil das Pentagon einige Gruppen trainiert hat, die CIA andere Gruppen, und manche bekämpften einander und waren doch alle auf der US-Soldliste.

Die Türkei wurde als hilfreich angesehen, sie unterstützte auch Israel sehr. Erdogan hat ein riesiges Ego. Er denkt, er könnte sich Syrien einfach nehmen. Er behauptet, er kann Dscholani und die Dschihadisten kontrollieren, die jetzt so tun, als wären sie geläutert und als stünden sie für Toleranz und Vielfalt. Doch selbst Erdogans Leute sagen offen, dass er sich da täuscht. Er kontrolliert vielleicht ein paar von ihnen. Aber ganz sicher nicht Dscholani, der in Idlib eine äußerst rigide Struktur um sich herum aufgebaut hat. Jeder, der ihm widersprach, verschwand einfach.

Und was Israel angeht – auf kurze Sicht profitiert es wohl davon. Israel hat die Situation dazu genutzt, mehr Land zu besetzen, angeblich Waffenlager zerstört. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ein islamischer Staat auf längere Sicht gut für Israel ist.

Vor einem guten Jahr hat sich in der israelischen Führung ein riesiger Wandel vollzogen. Ein wichtiges Ziel dieser neuen Strömung: Es darf keinen Palästinenserstaat geben. Man will einen durch und durch jüdischen Staat. Israels Bevölkerung ist zerrissen, was diese Themen angeht, fast am Rande eines Bürgerkrieges. Netanjahu ist autoritärer denn je, er hat alles persönlich unter Kontrolle.

Und es hat sich noch etwas drastisch verändert: Die Israelis in den 70er- und 80er-Jahren waren säkulare Europäer, diese Menschen an der Regierung heute sind alttestamentarisch. Sie sind nicht der Logik und der Ratio zugänglich, sondern sie fühlen sich ihrer quasi biblischen Vision verpflichtet. Da ist magisches Denken am Werk. Den Gaza-Krieg sehen sie als großen Sieg – obwohl er das überhaupt nicht ist. Die Hamas ist schließlich immer noch da. Schon jetzt ist man in Israel dabei zu organisieren, dass Siedler das Land in Nord-Gaza in Besitz nehmen. Ebenso in der Westbank – da werden die palästinensischen Bewohner delegitimiert. Und die Israelis fühlen sich siegreich gegen die Hisbollah im Süden vom Libanon, obwohl sie riesige Verluste erlitten haben.

Israel steckt in der Klemme, weil man zu wenig Soldaten hat. Für die Kriege, die Israel aktuell führt, sind es schon jetzt 20 Prozent zu wenig Soldaten. Zunehmend melden sich Reservisten nicht zum Dienst, die Armee sagt, sie sei erschöpft.

Vor allem aber fehlt ein Ziel. Wenn aus der Armee die Frage kommt: Was sind überhaupt unsere Ziele, bekommen sie auf solche rationalen Fragen keine Antworten. In der Wahrnehmung der israelischen Führung ist der nächste große Sieg der über Syrien, und der liegt nur auf dem Weg zum Hauptfeind, dem Iran. Jetzt will Israel die USA überreden, sie im Krieg gegen den Iran zu unterstützen, um die Kirsche auf den Kuchen zu setzen. Die meisten Israelis würden aber sagen: Wir haben keinerlei Erfolge errungen.

Für mich ist das eine Art geopolitisches Schneeballsystem. Netanjahu setzt alles daran, die Kämpfe am Laufen zu halten – würde man innehalten und das Ganze hinterfragen, würde das System kollabieren wie bei einem Schneeballsystem. Die Regierung präsentiert alles als erfolgreiche Schritte auf dem Weg zum endgültigen Sieg – also den über den Iran. Außerdem will Israel unbedingt die USA hineinziehen, und sei es mit einer Art Provokation. Ich bin allerdings überzeugt, dass ein Krieg gegen den Iran eine Katastrophe für Israel wäre, vielleicht sogar Israel zerstören würde. Und er wäre ein große Niederlage für die USA. Im Westen sitzt man einem Trugschluss auf. Man klammert sich an die Überzeugung: Russland ist schwach – Amerika ist stark, der Iran ist schwach – Israel ist stark. CNN lässt Viersterne-Generäle auftreten, die behaupten: „Der Iran liegt nackt vor uns.“ Das ist völlig falsch. Die Israelis sind mit ihren Raketen bisher nicht näher als 70 Kilometer an die iranische Grenze gekommen.

Die israelische Führung hat sich von rationalen Argumenten verabschiedet. Stattdessen trägt sie vor sich her: Das steht in der Thora.

Hedges:
Den Türken sind die US-gestützten kurdischen Milizen, die die Ölfelder im Nordosten Syriens besetzt haben, ein Dorn im Auge. Ist das der nächste Schritt, wollen die Türken die Kurden vertreiben, um die Ölfelder zu besetzen?

Crooke:
Damit haben sie schon angefangen, sie greifen bereits die Kurden an. Die Türken wollen unbedingt die Kurden schlagen, die sind für sie Terroristen und sie fühlen sich von ihnen bedroht. Auf der anderen Seite sagt Israel, man möchte einen kurdischen Staat in Ostsyrien aufbauen helfen. Diese beiden Interessen stehen sich diametral gegenüber. Und was soll mit den Alawiten, was mit Latakia, diesem Küstenstreifen mit den russischen Stützpunkten, passieren? Eine Division der syrischen Armee ist samt Waffen in den Irak gegangen – womöglich werden sie die Dscholani-Truppen angreifen. Kein Mensch kann sagen, was da passieren wird. Wahrscheinlich werden sich dort viele Kämpfe abspielen. Die Türkei sah sich als Puppenspieler, der alles in der Hand hat. Aber schon jetzt ist das meiner Ansicht nach nicht mehr der Fall. Ja, Russlands Einfluss ist weg, Irans Einfluss ist weg, und jetzt wird sich der Einfluss der Türkei vor unseren Augen in Nichts auflösen.

Hedges:
Wie will Syrien denn wirtschaftlich wieder auf die Beine kommen, wo doch seine Ölfelder weg sind? Zum großen Teil war ja Assad auch deshalb so unbeliebt, weil die Syrer gelitten haben und sie in Damaskus nur eine Stunde Strom am Tag hatten. Sie mussten Mondpreise bezahlen, die Arbeitslosigkeit war gigantisch. Dazu hatten auch die Sanktionen geführt. Und ein Großteil des Landes liegt in Trümmern. Die Millionen Flüchtlinge haben nichts, wohin sie zurückkehren könnten.

Crooke:
Das Öl wurde ihnen genommen. Es fehlt also eine wesentliche Einkommensquelle. Die industriellen Zentren Idlib und Aleppo sind unter türkischer Kontrolle. Dazu die schlimmen Auswirkungen der Sanktionen. Die Menschen leben in bitterer Armut und haben keine Hoffnung mehr. Der Westen hat Syrien zerstört, jetzt sollte er für den Wiederaufbau bezahlen. Dieser Ansicht ist jedenfalls Russland. Und der Wiederaufbau wird sehr teuer.

Hedges:
Was passiert mit den Palästinensern in Gaza – die werden in den Süden getrieben, dort herrscht eine katastrophale humanitäre Krise. Es gibt kein sauberes Wasser, nicht genug zu essen, die Menschen müssen im Freien hausen, was passiert da? Ägypten lässt die Menschen ja nicht ins Land.

Crooke:
Netanjahu und sein Kabinett und ihre Anhänger in der Bevölkerung wollen die Bevölkerung von Gaza langsam dezimieren. Es gibt keinen anderen Plan, keine Lösung, außer die Militärintervention fortzusetzen und das Leben für die Menschen dort unerträglich zu machen. Bezalel Smotrich sagt, vielleicht entscheiden sich in den kommenden paar Jahren zwei Drittel der Menschen, Gaza zu verlassen. In Gaza gibt es nichts mehr – da sind nur noch Trümmer. Keine Schulen, keine Krankenhäuser, nichts, es ist alles zerstört. Auf dem Gazastreifen sollen 50 Siedlungen entstehen, die Pläne dafür gibt es bereits. Die Palästinenser sind zäh, sie haben einen starken Willen. Aber ich kann mir die Videos, die dort gemacht wurden, nicht einmal ansehen – es verbrennen Menschen bei lebendigem Leib. Derzeit sehe ich nicht, dass sich an der Situation so schnell etwas ändern wird. Nicht, solange Netanjahu und seine Regierung an der Macht sind. Möglicherweise bringt der Gerichtsprozess gegen Netanjahu etwas ins Wanken.

Hedges:
Für wie wahrscheinlich halten Sie einen Krieg Israels gegen den Iran?

Crooke:
Für wahrscheinlich. Dabei geht es eigentlich nicht um den Iran. Sie wollen Trump in einen Krieg ziehen. Sie denken, es wird ein einfacher Krieg – was ich für eine völlig falsche Einschätzung halte. Dieser Führungskader will Amerikas Macht und Führungsanspruch erneuern, dafür brauchen sie einen Krieg. Sie dulden keine Konkurrenzmacht neben sich. An diesem Anspruch und an dieser Grundfeste darf kein Politiker rütteln. Und die Israel-First-Fraktion will den Krieg. Sie kontrolliert den US-Kongress, und sie hat das Geld. Der Iran verfügt über exzellente Flugabwehr, für die Israelis war es bisher – entgegen den Berichten – nicht möglich, in den iranischen Luftraum einzudringen.

Titelbild: Screenshot Chris Hedges via YouTube


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