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Titel: Nachdenken über Deutschland und die Welt auf der Moskauer Buchmesse “non/fictioN”

Datum: 16. Dezember 2024 um 16:06 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Friedenspolitik, Kultur und Kulturpolitik
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Auf der Moskau Buchmesse non/fictioN, die vom 5. bis zum 8. Dezember stattfand, war der Andrang dieses Jahr besonders groß. Nach Angaben der Veranstalter besuchten die Buchmesse über 50.000 Menschen. 400 Verlage und Aussteller nahmen an der Messe teil. Vor einigen Ständen war der Andrang so dicht, dass man nur mit Mühe ein Buch in die Hand nehmen konnte. Man hatte den Eindruck, dass alle, die sich irgendwie für intellektuell halten oder Abonnenten von Sammelausgaben sind, an den vier Messetagen wenigstens einmal im „Gostinyj Dwor“ gewesen sein wollten. Aus Moskau berichtet Ulrich Heyden.

Der Name der Buchmesse ist eigentlich irreführend, denn Bücher mit fiktiven Personen gab es auf der Messe zuhauf. Aber als die Buchmesse 1999 startete, wollte man mit dem Namen non/fictioN ein Signal für ernsthafte, intellektuelle Literatur setzen. Der Veranstaltungsort „Gostinyj Dwor“ ist ein im 18. Jahrhundert erbautes ehemaliges Kaufhaus in der Nähe des Roten Platzes, das 1996 zu einer Messehalle umgebaut wurde. Im Gostinyj Dwor tagt auch die Kreml-Partei „Einiges Russland“. Überraschend war nun das ganz andere bunte Bild mit Verlagsständen, die von Manga- über Kinderbücher bis zu russischer Geschichte und Philosophie alles abdeckten.

Man hatte an alles gedacht. Es gab Cafés, Spielecken für Kinder und einen Ruheraum mit Matratzen für das Hören von Audiobüchern. Die Atmosphäre war – trotz der Massen – entspannt. Die Erwartung, bald ein neues Buch zu lesen, hat die Besucher offenbar sanft gestimmt. Es gab insgesamt 300 Veranstaltungen. Auf dem Programm standen Debatten über den Büchermarkt in Indien, das Übersetzen moderner russischer Literatur in die Sprache Hindi und das Übersetzen mit Hilfe Künstlicher Intelligenz. Zum Abschluss der Buchmesse gab es einen Abend, auf dem Schriftsteller von der Front in der Ukraine Gedichte und Lieder vortrugen.

Die deutsche Friedensbewegung

Ich kam auf die Messe, weil ich an der Präsentation (Video auf Russisch) des Buches “Auf beiden Seiten der Front. Meine Reisen in die Ukraine“ von Patrik Baab beteiligt war. Die Präsentation des Buches, das im Moskauer Verlag Gnosis erschien, wurde von dem russischen Übersetzer des Buches Oleg Nikiforow geleitet und fand in einem halb offenen Raum am Rande der großen Messehalle statt. Baab begrüßte die Teilnehmer per Videobotschaft. In seiner kurzen Rede verurteilte der Autor, dass eine deutsche Behörde zwei russischen Fernsehjournalisten das Aufenthaltsrecht in Deutschland entzogen hat.


Das Buch von Patrik Baab auf dem Tisch des Gnosis-Verlages rechts unten / Foto Ulrich Heyden

In meinem Redebeitrag erklärte ich, dass Patrik Baab Teil der deutschen Antikriegsbewegung ist. Über diese Bewegung mit ihren verschiedenen Internet-Portalen ist in Russland auch in intellektuellen Kreisen kaum etwas bekannt. Ich nannte die Namen der bekanntesten Deutschen, die sich heute für Frieden mit Russland einsetzen, und erwähnte deutsche Fernsehreporter, die in der Zeit der deutsch-russischen Entspannung bemüht waren, ein reales Bild von Russland zu liefern, wie Gabriele Krone-Schmalz, Klaus Bednarz und Gerd Ruge. Das Publikum reagierte mit freundlichem Applaus.

Während der Buchpräsentation sprach auch der russische Germanist und ehemalige Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Moskau Wladimir Fomenko, der die russische Ausgabe des Baab-Buches redaktionell begleitet hatte. Fomenko erklärte, das Buch von Baab sei für die Russen „nicht wie die Entdeckung von Amerika“, aber es öffne den Russen die Augen „für den nicht kleinen Sektor der deutschen Gesellschaft, der sich dem Mainstream und der antirussischen Erzählung entgegenstellt“. Buchautoren wie Patrik Baab, Gabriele Krone-Schmalz, Hauke Ritz und Ulrich Heyden „werden uns kreativ helfen, die russisch-deutschen Beziehungen fortzuführen“.

Hoffnung auf die Zeit nach dem Ukraine-Krieg

Die Wiederbelebung der deutsch-russischen Beziehungen werde „schneller kommen, als wir es uns vorstellen können,“ meinte Fomenko. Bestärkt sah er sich in seiner Hoffnung durch eine Äußerung von Aleksandr Dinkin, dem Präsidenten des Moskauer Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen.

Dinkin hatte Anfang Dezember auf einem Treffen der russischen Teilnehmer des Petersburger Dialogs – aus dem die deutschen Teilnehmer ausgeschieden sind –, Folgendes erklärt:

„Wir schauen über den Horizont hinaus in die postukrainische Welt und glauben, dass es nicht sein kann, dass wir trotz aller Konflikte und Schwierigkeiten langfristig keine Beziehung zu Europa haben, wo sich der politische Raum allmählich polarisiert. Die oppositionelle Partei in Deutschland gewinnt immer mehr an Kraft. Wir kennen die Ergebnisse der ersten Wahlrunde in Rumänien. Wir kennen die Positionen Ungarns und der Slowakei. Daher kann man nicht sagen, dass die Europäische Union eine einheitliche Front darstellt.“

Mit „postukrainischer Welt“ meint Dinkin offenbar die Welt nach dem Ende des Ukraine-Krieges.

Wladislaw Below, der stellvertretende Leiter des Moskauer Europa-Instituts (Veröffentlichungen Vladislav Borisovich) – bis 2014 von deutschen Stiftungen ein geachteter und von deutschen Medien viel zitierter Experte – sprach zur Situation in Deutschland. Die deutsche Regierung „zerschneidet den kulturellen Raum vom Atlantischen Ozean bis zum Pazifischen Ozean mit seiner tausendjährigen Geschichte, indem bewusst und professionell falsche Informationen verbreitet werden“.

Zur Ukraine meinte Below, es gäbe nicht nur den, „der den Konflikt begonnen hat“, sondern auch den, „der ihn erst möglich gemacht hat“. Den Westen nannte Below an dieser Stelle nicht, aber es war offensichtlich, dass er ihn meinte. Der Europa-Experte erklärte, Russland sei heute „wesentlich freier als Deutschland. Ich kann hier kritisieren. In Deutschland ist das nicht möglich. Krone-Schmalz wird verfolgt.“

Spaltung der Intelligenz

Die Spaltung Eurasiens, von der Below sprach, durchzieht nach Meinung des Autors dieser Zeilen auch die russische Intelligenz. Die Schriftstellerin Walerija Troizkaja, die auf der Buchmesse ihr Buch “Das Donezk-Meer. Die Geschichte einer Familie“ vorstellte, berichtete auf der Messe über ihre Schwierigkeiten, ihr Buch in ihrer Heimatstadt St. Petersburg auf die Bühne zu bringen. Das habe nicht klappt, weshalb das Stück jetzt in einer „großen Stadt in Südrussland“ aufgeführt werden soll.

Die Schriftstellerin berichtete: „In St. Petersburg sind kreative Leute, welche die Spezialoperation unterstützen, eher die Ausnahme als die Regel. Das ist nicht erstaunlich, denn sie wurden alle von Pädagogen erzogen, die liberale Ansichten haben. Darum bemühe ich mich, 16-, 17-jährige Abiturienten von Schauspiel-Fachschulen zu gewinnen.“ Die Schriftstellerin möchte an den Schauspiel-Fachschulen Veranstaltungen mit Teilnehmern der “Spezialoperation“ in der Ukraine und mit russischen Soldaten organisieren, die in ukrainischer Gefangenschaft waren.

Zum Verständnis: Wenn in Russland heute im politischen Schlagabtausch – meist in negativem Kontext – von „liberalen Ansichten“ gesprochen wird, dann bezieht sich das meiner Ansicht nach insbesondere auf die Dominanz der USA, das Zwangskorsett der „westlichen Werte“ und den Neoliberalismus, der staatliche Strukturen aushebelt. Der in Russland negativ besetzt Begriff „liberal“ bezieht sich aber nicht auf den Kapitalismus als System. Dieses System wird in Russland grundsätzlich nur von einer Minderheit in Frage gestellt.

Frauen-Fragen

Während eines Rundgangs auf der Buchmesse war ich erstaunt über die breite Themenpalette. Da war etwa der Verlag “Belles Lettres“, der sich auf Literatur für Frauen spezialisiert hatte. Bisher habe man vor allem Titel ausländischer Autorinnen herausgegeben, aber demnächst würden auch mehr russische Autorinnen dazukommen, erklärte eine der vier Damen, welche die Präsentation des Verlages leiteten. Die Damen waren alle Mitte 30, hatten also die Sowjetunion nicht mehr erlebt.

Die Präsentation des Verlages wurde angekündigt unter dem Titel “Girl Power: Warum sind Frauengemeinschaften heute populär und worin besteht ihre Kraft.“ Die Ankündigung hatte mich neugierig gemacht. Die vier Damen erstaunten mich mit ihren Ausführungen. Sie erklärten, sie würden nicht nur Bücher vertreiben, sondern jede von ihnen sei auch in einem Frauen-Club aktiv. Eine war in einem Club für junge Mütter, eine andere arbeitete in einem Zentrum für Frauen, die häusliche Gewalt erlebt hatten. Die Frauen betonten, sie seien „nicht gegen Männer“. Männer könnten sich an ihren Aktivitäten beteiligen, aber Frauen bräuchten für die Beratung von Frauen-Fragen Autonomie.


Praesentation des Frauen-Verlages Belles Lett res / Foto Ulrich Heyden

Ich fühlte mich an die 1970er-Jahre in Westdeutschland erinnert, denn vieles von dem, was die Frauen auf dem Podium erzählten, hatte ich schon damals gehört. Der Unterschied schien mir zu sein, dass die russischen Frauen Autonomie nicht laut fordern, sondern als Graswurzelbewegung Schritt für Schritt zu realisieren versuchen.

Nach der Veranstaltung erklärte mir eine der Sprecherinnen, dass „viele Ideen aus den USA und Europa mit Verspätung in Russland verwirklicht werden“. Ob die Forderung nach Autonomie der Frauen nicht in Konflikt gerate mit der Weisung der russischen Regierung, die traditionellen Werte zu stärken, fragte ich. Darauf kam die prompte Antwort: „Wir unterstützen natürlich die traditionellen Werte.“

Dass man über die Fragen der Frauen öffentlich spreche, beginne erst jetzt. Inzwischen gebe es auch auf staatlicher Ebene Frauen-Foren, zum Beispiel ein Frauen-Forum zu Zentralasien. Meine Gesprächspartnerin erklärte: „Wir wollen genauso Karriere machen können, und wir wollen den Männern gleichgestellt sein.“ Während der Präsentation hatten die Frauen bereits berichtet, dass Frauen in Russland im Schnitt 30 Prozent weniger verdienen als Männer. Dabei seien Frauen im Arbeitsprozess „effektiver“ als Männer, meinte meine Gesprächspartnerin. „Sie versuchen, ihre Arbeit schnell zu erledigen, weil sie nach Hause zu ihren Kindern wollen.“ Weiter sagte sie: „Wir gehen in kleinen Schritten. Ich arbeite in einem Metallurgie-Unternehmen. Die Rechte der Frauen werden dort erweitert. Frauen kommen in den Aufsichtsrat.“

Schlangestehen für das Buch eines Anarchisten

Die starke Präsenz von Büchern ausländischer, vor allem europäischer und US-amerikanischer Autoren auf der Buchmesse überraschte mich. Mir scheint, dass das Interesse an westlicher Literatur – trotz Ukraine-Krieg – nicht nachgelassen hat.

Einer der Verlage, der ebenfalls viele ausländische und dazu noch viele linke Autoren im Programm hat, ist der Moskauer Verlag Ad Marginem. Am Stand des Verlages gab es Gedrängel. Nach meinem Eindruck kauften viele Leute “Die Morgenröte von Allem. Eine neue Geschichte der Menschheit“, zu dem es eine Präsentation gegeben hatte. Die Autoren des Buches sind der US-Amerikaner, Anarchist und Mitbegründer der Occupy-Wall-Street-Bewegung David Graeber (1961-2020) und David Wengrow. Viel verkauft wurde auch das Buch “Das Kapital im 21. Jahrhundert“ des französischen Ökonomen Thomas Piketty. Auf dem Büchertisch sah ich zudem zahlreiche Bücher von ausländischen Russlandreisenden wie dem deutschen Revolutionär und Schriftsteller Ernst Toller (1893-1939).

Russischer Wald für China

Bei meinem Rundgang in der Messehalle kam ich schließlich zu einem Amphitheater, wo 500 Zuschauer den Ausführungen des russischen Schriftstellers Alexej Iwanow lauschten. Er stellte sein Buch “Vegetation“ vor. Iwanow wurde 1969 geboren, seinen ersten Roman veröffentlichte er 1990. Seine Themen sind Alltagsgeschichten aus dem russischen Leben. Sie sind meist im Stil fantastischer Literatur verfasst. Einige seiner Romane wurden bereits verfilmt.

Der Roman “Vegetation“ spielt im Ural. Dort gibt es leere Städte und Fabriken, auf den Straßen wachsen Bäume. Den Wald in der Gegend hat man künstlich erzeugt. Er wächst in schnellem Tempo, denn er soll Holz für den Export nach China liefern. Doch der Wald mutiert, führt sein eigenes Leben und verhält sich feindlich gegenüber der Zivilisation. In seinem Dickicht lauern merkwürdige Menschen, und zwischen den Holzfällerbrigaden gibt es Krieg.

Die russische Landschaft und Geschichte geben einigen Stoff für fantastische Geschichten. Ich habe das Buch gekauft und sogar ein Autogramm des Autors eingeheimst. Nun bin ich gespannt, was mich in dem gruseligen Wald erwartet.

Titelbild: Schriftsteller Alexej Iwanow stellt seinen Roman “Vegetation” vor / Foto Ulrich Heyden


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